An dem Artikel, der auf express.de von der “Langen Nacht der ungeschriebenen Hausarbeiten” an der Uni Bochum berichtet, ist auf den ersten Blick nichts auszusetzen: Da werden Studenten der Uni Bochum zitiert, ebenso die Initiatorin Gabi Meihswinkel von der Uni Bochum, bevor der Artikel mit dem Satz schließt:
Auch die Uni Bochum will die Aktion wiederholen.
Wie gesagt: Auf den ersten Blick erscheint der Artikel völlig normal. Wenn da nicht der Umstand wäre, dass die Studenten in Wahrheit an der Uni Bremen studieren, Gabi Meihswinkel an der Uni Bremenarbeitet und die “Lange Nacht der ungeschriebenen Hausarbeiten” von der Uni Bremenveranstaltet wurde.
Der ganze Artikel, der bei express.de in der Jugendreporter-Rubrik “X-Scouts” erschien, ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung einer Meldung der Nachrichtenagentur dapd, bei der (aus welchen Gründen auch immer) das Wort “Bremen” durch das Wort “Bochum” ersetzt wurde.
Noch einmal: Die Jugendreporterin hat eine dapd-Meldung genommen und “Bremen” durch “Bochum” ersetzt, um den Text dann dem “Express” anzudrehen.
Man darf Alessandra Pocher nicht “olle Crackbraut” nennen. Als Lügnerin wird sie sich aber womöglich bezeichnen lassen müssen. Und das kam so:
Im Mai 2009 rappte Sido bei der Verleihung des Musikpreises Comet über die Frau, die damals noch als Sandy Meyer-Wölden bekannt war, als “olle Crackbraut”. Er gab später eine Unterlassungserklärung ab. Alessandra Pocher aber forderte zudem 25.000 Euro Schmerzensgeld. In erster Instanz im vergangenen Sommer verlor sie. Das Gericht sah eine “substanzlose Blödelei” und keinen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz.
Alessandra Pocher legte Berufung ein, und so traf man sich im Dezember erneut vor Gericht, das einen Vergleich vorschlug: Sido solle 10.000 Euro für einen guten Zweck spenden, den Pocher bestimmen dürfe. Beide Seiten stimmten dem Vorschlag zu.
Es ist also, wenn man so will, ein Unentschieden: Sido zahlt, aber er zahlt nicht einmal die Hälfte dessen, was Frau Pocher gefordert hatte, er zahlt nicht an Frau Pocher, und er ist nicht zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt worden. Verschiedene Medien aber behaupten, sie hätte den Prozess gewonnen.
Die “Frankfurter Neue Presse” berichtete am 23. Januar von einer Benefiz-Gala für die Sophie-Scholl-Schule in Bad Nauheim:
Neben verschiedenen Firmen überbrachte auch Alessandra Pocher einen Scheck im Wert von 10 000 Euro. Geld, welches sie aus einem Prozessgewinn gegen den Rapper Sido bekam.
Vier Tage später schrieb “Bild” Köln:
In letzter Instanz gewann Sandy jetzt und zeigt ein großes Herz. Sie spendete die komplette Summe der integrativen Sophie-Scholl-Schule in Wetterau: “Ich freu mich, dass eine für mich so unangenehme Sache den Kindern hilft.”
Im RTL-Mittagsmagazin “Punkt 12” vermeldete Moderatorin Katja Burkard am selben Tag glücklich, Alessandra Pocher freue sich “wie verrückt”. Im Beitrag hieß es dann, in jeder Hinsicht falsch:
1:0 für Alessandra Pocher im Streit gegen Rüpel-Rapper Sido. Der muss jetzt 10.000 Euro Schmerzensgeld an die Ehefrau von Olli Pocher zahlen. (…) Alessandra Pocher bekam jetzt in letzter Instant recht und zeigte sich gleich großzügig. Die Summe spendete sie einer Schule.
Die Falschmeldung wurde — mitsamt Original-Rechtschreibfehler von Bild.de — u.a. von news.de und den Online-Ablegern von “Bunte” und “OK Magazin” kopiert.
Das Management von Alessandra Pocher blieb auf Nachfrage von BILDblog bei der falschen Darstellung vom juristischen Sieg über den Rapper — interessanterweise im Gegensatz zu Pochers prominentem Rechtsvertreter, der über den Vergleich auf seiner Homepage berichtet.
Sidos Anwalt sagte, er gehe gegen die Berichterstattung von “Bild” und RTL vor.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Prozessjournalismus und Ägypten: Deutschsprachige Onlinemedien enttäuschen” (datenjournalist.de, Lorenz Matzat)
Lorenz Matzat vergleicht die Ägypten-Berichterstattung von “Spiegel Online” und “Welt Online” mit englischsprachigen Angeboten. Und findet keinen einzigen Link auf Quellen ausserhalb ihres eigenen Angebots. “Soziale Medienkanäle, wie Twitter, YouTube oder Flickr werden gänzlich ignoriert. Nur klassische Nachrichtenagenturen und etablierte Sender wie die BBC gelten als verlässliche Quellen.”
(Anmerkung, 9:55 Uhr: Wegen Serverproblemen auf datenjournalist.de verweist der Link derzeit auf onlinejournalismus.de.)
2. “Copy&Paste Journalismus” (reticon.de, Martin Ragg)
Martin Ragg zeigt auf, wie eine Pressemitteilung der Zeitschrift “Forschung & Lehre” Eingang in die Online-Portale findet. “Ich habe ja nichts gegen das Weiterverbreiten von Nachrichten – aber die meisten erwecken hier den Anschein als finde dort ‘redaktionelle Arbeit’ statt. Gebt den Rechnern noch etwas Zeit, dann macht das ein Algorithmus.”
4. “Tagesanzeiger klaut Bilder von iFrick.ch” (ifrick.ch, Jean-Claude Frick)
Tagesanzeiger.ch verwendet ein Bild von Jean-Claude Frick, ohne die Quelle anzugeben oder vorher anzufragen. “Witzigerweise passt das Bild gar nicht zum Inhalt, da es im Artikel um das Original weisse iPhone 4 geht, welches ja anders aussieht als meines.”
5. “Zweiklassen-Anonymisierung bei ‘Österreich’ und ‘Krone'” (kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
“Krone” und “Österreich” wenden im gleichen Artikel zwei verschiedene Arten der Anonymisierung an. Für Hans Kirchmeyr ist das weder mit Unwissenheit noch mit uneinheitlichen Vorgaben erklärbar. “Hier wird erkennbar unterteilt in schutzwürdige und weniger schutzwürdige Personen. Journalistische Willkür der grauslicheren Art.”