Archiv für August 10th, 2010

Eine Stunde nachgedacht

Die Deutschen, genauer: “wir” Deutschen, arbeiten zu wenig, findet Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft, Finanzen und Immobilien bei der “Welt”-Gruppe. Und ihm geht es da vor allem um die Arbeit an sich, nicht um deren Entlohnung:

Gewiss, viele Menschen arbeiten viel, auch in Deutschland. Vor allem aber ist die Arbeit ungerecht verteilt. Denn gerade Mindestlöhne und andere vermeintliche sozialstaatliche Wohltaten schließen einen skandalös großen Teil der potenziellen Erwerbsbevölkerung vom Arbeitsleben aus – während der Rest in vielen Fällen umso härter ranmuss.

Er rechnet uns das gerne mal vor:

Arbeiten wir aber nun, insgesamt betrachtet, viel oder wenig? Einer quasiamtlichen Schätzung zufolge dürften in diesem Jahr 55.953.000.000 Stunden Erwerbsarbeit absolviert werden. (…)

Aber dennoch ist in jenen knapp 56 Millionen Stunden das Gros der Zeit enthalten, die wir zur Erwirtschaftung unseres materiellen Wohlstands aufbringen. 55.953.000 Stunden im Jahr, das heißt: Pro Kopf der Bevölkerung werden in Deutschland etwa 690 Stunden offizielle Erwerbsarbeit geleistet. Das sind weniger als eine Stunde und 54 Minuten pro Tag. Selbst wenn man zu der offiziellen Erwerbsarbeit 50 Prozent aufschlägt, um die inoffizielle zu berücksichtigen, landen wir bei weniger als drei Stunden.

Halt, Moment, Stop!

Haben Sie’s bemerkt? Gersemann hat binnen eines Absatzes aus den 56 Milliarden Stunden “56 Millionen” gemacht und drei Nullen gestrichen.

Bei seiner Berechnung hat er allerdings wieder auf den höheren Wert zurückgegriffen — und diesen der Einfachheit halber durch grob 82 Millionen geteilt, denn so viele Einwohner hat Deutschland ja, wenn man alle Kleinkinder und Greise mitzählt. Diesen Wert noch durch 365 und – zack! – ist man bei einem Wert von unter zwei Stunden, die jeder Deutsche jeden Tag arbeitet.

Die Deutschen müssen mehr arbeiten. Viel mehr — Durchschnittlich nur drei Stunden Arbeit pro Tag und Kopf reichen nicht aus: Deutschland ist keine Felseninsel, sondern eine Volkswirtschaft.

In Wahrheit arbeiten in Deutschland knapp 40 Millionen Menschen und das an rund 215 Tagen im Jahr.

Die “quasiamtliche Schätzung” stammt immerhin vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Deren Bericht (PDF, Seite 11) kann man auch entnehmen, dass das die Jahresarbeitszeit einer Vollzeitkraft in diesem Jahr vermutlich 1.645,4 Stunden betragen wird. Pro Arbeitstag bleiben also mehr als siebeneinhalb Stunden.

Oder wie schon Loriot feststellte:

Die Lebensjahre sämtlicher deutscher Kleinkinder betragen zusammengerechnet etwa 4 Millionen Jahre. Das ist einfach zu alt!

Mit Dank an Fabian G. und Uwe Sch.

Nachtrag, 10. August: “Welt Online” hat aus den falschen “56 Millionen” richtige “56 Milliarden” gemacht. Am Rest seiner Rechnung scheint Olaf Gersemann festzuhalten.

sid  

Villa Kunterbunt

Sommerpause. Zeit der Gerüchte und Spekulationen in der Fußballwelt. Der walisische Nationalspieler Craig Bellamy wird zum Beispiel nicht von Manchester City zum VfL Wolfsburg wechseln, wie der Sportinformationsdienst (sid) berichtet.

Und das, wo Bellamy in Manchester kaum eine Zukunft hat:

Manchester hat für Bellamys Position den Spanier David Villa für rund 30 Millionen Euro vom FC Valencia verpflichtet, Coach Roberto Mancini will Bellamy nicht einmal einen Platz im 25-Mann-Kader garantieren.

Eine interessante Behauptung, die der sid da aufstellt, denn Villa ist gerade für 40 Millionen zum FC Barcelona gewechselt — und das nicht “unter Umständen” und erst heute, sondern ganz offiziell am 19. Mai.

Für gerüchteweise 30 Millionen von Valencia nach Manchester gewechselt ist David Silva, immerhin auch Spanier. Aber der wird als Mittelfeldspieler kaum auf Craig Bellamys Position im Sturm spielen. (Vielleicht doch.)

Mit Dank an Peter E.

Heute schon GEBellt?

Das passt natürlich alles ganz schön zusammen: Das sogenannte Sommerloch zwingt die Redaktionen dazu, noch egalere Meldungen als sonst schon zur Schlagzeile zu erheben, gegen die GEZ und ihre Methoden kann man jederzeit preisgünstig Stimmung machen und Tiere gehen sowieso immer.

“Bild” berichtet deshalb heute in der Münchener Regionalausgabe über die tote Rauhhaardackeldame Bini, die Post von der GEZ bekam (nicht zu verwechseln mit der ebenfalls toten Cocker-Spaniel-Dame Geisha, der vor sechseinhalb Jahren dasselbe passierte).

dpa tickerte am Mittag eine Kurzfassung des “Bild”-Artikels unter den Kategorie-Bezeichnungen “Tiere” und “Buntes”, aber die war “Spiegel Online” dann wieder zu wenig.

Also ging man dort direkt an die Quelle bei “Bild” und holte sich noch ein paar zusätzliche Details. Und verhedderte sich beim Apportieren:

Der Brief der Gebühreneinzugszentrale (GEZ) drohte im typischen Eintreiber-Deutsch: “Bini” solle jetzt mal ihren Fernseher anmelden, denn sie verdiene “bereits eigenes Geld”. Und, so unterstellten die findigen GEZ-Detektive: “Ihr Einkommen liegt über dem einfachen Sozialhilferegelsatz von monatlich 287 Euro”.

Das jedoch hatte nicht mal “Bild” behauptet:

In einem Brief vom 30. Juli fordern die Rundfunkgebühren-Eintreiber Bini schriftlich auf, ihre Rundfunkgeräte anzumelden. Vorausgesetzt, “Sie verdienen bereits eigenes Geld” und “Ihr Einkommen liegt über dem einfachen Sozialhilferegelsatz von monatlich 287 Euro”.

(Hervorhebung von uns.)

Mit Dank an Björn C.

Nachtrag, 11. August: “Spiegel Online” hat den Artikel überarbeitet und folgende Anmerkung darunter gesetzt:

Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Version dieses Textes hieß es, die GEZ hätte dem toten Dackel ein Einkommen von mehr als 287 Euro unterstellt. Korrekt ist: Die GEZ hat den toten Dackel Bini zum Zahlen der GEZ-Gebühr aufgefordert, vorausgesetzt sein Einkommen liege über 287 Euro. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Doku-Soaps, Gala, Leistungsschutzrecht

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Doku-Soaps: Der produzierte Prolet”
(zeit.de, Nina Pauer)
Nina Pauer macht sich Gedanken über die fiktiven Doku-Soaps im Nachmittagsprogramm des Privatfernsehens: “In den neuen Dokusoaps werden die erfundenen Krawallgeschichten der Personen, die sich vor einigen Jahren noch auf Talkshowsesseln beschimpft haben, nun direkt in deren vermeintlichen vier Wänden abgefilmt. Ein Studio mit aufwendiger Beleuchtungstechnik ist bei diesen fiktiven Homestories nicht mehr vonnöten, gedreht wird in gemieteten Wohnungen, wodurch die Produktionskosten dramatisch gefallen sind.”

2. “Im toten Winkel”
(freitag.de, David Begrich)
David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim “Verein Miteinander” in Magdeburg vermisst die lokale Streitkultur in Ostdeutschland. Er analysiert das Verhalten der Medien bei rechtsextremen Vorfällen: “Der Grad medialer Aufmerksamkeit für einen rechtsextremen Vorfall ist eng verknüpft mit der Frage, ob dieser von überregionalen medialen Multiplikatoren überhaupt wahrgenommen und aufgegriffen wird. Geschieht das nicht, unterbleibt eine über die lokale Ebene hinausreichende Bearbeitung des Ereignisses.”

3. “Chatter macht neu aus alt”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Ein Foto von Schauspieler Jason Priestley aus dem Jahr 2005 wird von “Chatter” als aktuell verkauft.

4. “Gala-Titel schummelt”
(dieganzewahrheit.blog.com, Thomas Weiss)
Thomas Weiss erblickt Michelle Hunziker, “Testimonial und Markenbotschafterin des Kosmetikherstellers L’Oréal”, auf der Titelseite von “Gala”. Das eigentliche Titelbild findet er dann auf der übernächsten Seite.

5. “Verleger, DJV und Verdi – die Feinde der Pressefreiheit”
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer bezeichnet das geplante Leistungsschutzrecht als “Monster” und “Missgeburt”: “Verleger und Journalistengewerkschaften arbeiten Hand in Hand an der Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit. Wir müssen darauf hoffen, dass Deutschlands Politiker dem Lobbyismus der Demokratiegefährder nicht erliegen.”

6. “Sechs Jahre netzpolitik.org”
(netzpolitik.org, markus)
Markus Beckedahl fasst sechs Jahre netzpolitik.org zusammen.