Archiv für März 29th, 2010

Von den Medien zwangsverheiratet

Es war ein Skandal erster Güte, eine Geschichte über kulturelle Differenzen und über den ewigen Machtkampf zwischen Vater und Sohn, der in den letzten Wochen diverse deutsche und türkische Boulevardblätter beschäftigte: Der deutsche U21-Nationalspieler Baris Özbek, derzeit Spieler des türkischen Erstligisten Galatasaray Istanbul, wird von seinem Vater zur Heirat einer 16-Jährigen aus der Verwandtschaft seiner Familie gezwungen. Weigert er sich, wird er aus der Familie verstoßen.

So stand es zumindest im “Express”.

Die Geschichte klingt in der Tat äußerst dramatisch und so, als wären dies schwierige Tage für den jungen Baris Özbek — wenn, ja wenn die gesamte Geschichte nicht einen Haken hätte: Sie stimmt nicht.

Dabei hatten sich die deutsche und türkische Boulevardpresse Zitate und Gerüchte so lange im Doppelpass zugespielt, bis jeder eine Quelle hatte und besten Gewissens auf andere Medien als Urheber verweisen konnte.

Am 17. März meldete der “Express”:

Özbek soll laut türkischen Medienberichten zwangsverheiratet werden. Die Zeitung Star berichtet, Özbeks Vater Sinasi verlange von Baris (23) die Heirat mit einem 16-jährigen Mädchen aus dem Verwandtenkreis.

Eben diese Zeitung “Star” berichtete nun genau einen Tag später ebenfalls von der angeblichen Zwangsheirat und hatte dafür überraschende Quellen aufgetan:

Gerüchten zufolge soll Baris von seinem Vater Sinasi Özbek zur Ehe mit einer 16-jährigen mutmaßlichen Verwandten gezwungen werden. Nach Berichten deutscher Medien soll Baris, der sich seiner Familie und insbesondere seinem Vater gegenüber außerordentlich verbunden fühlt, in dieser Angelegenheit nicht in der Lage gewesen sein, zu widersprechen.

(Übersetzung von uns)

Die Meldung von der angeblichen Zwangsheirat verbreitete sich in Windeseile. “Bild” und Bild.de berichteten ebenso wie die großen türkischen Boulevardzeitungen “Hürriyet” und “Milliyet”. Und als sei die Gemengelage aus sich gegenseitig zitierenden Quellen, Spekulationen und Gerüchten nicht schon unübersichtlich genug, ergänzten die verschiedenen Redakteure ihre Beiträge hier und da und malten sich aus, wen und warum Özbek heiraten könnte, sollte, müsste.

Arno Schmitz, der Redakteur des “Express”, verstieg sich gar zu einer knappen Zusammenfassung dessen, was er ganz grundsätzlich für die “türkische Kultur” hält: Zwangsheirat mit Minderjährigen und verstoßene Söhne.

Auf die naheliegende Idee, Özbek selbst zu der Angelegenheit zu befragen, kam offensichtlich keiner der Redakteure der beteiligten Boulevardzeitungen. Verärgert schreibt Baris Özbek auf seiner eigenen Homepage:

Die Nachricht auf den Sportseiten der heutigen Hürriyet mit dem Titel “Wenn Du nicht heiratest, verstoße ich Dich” ist vollkommen aus der Luft gegriffen. (…) Dass diese unwahre Nachricht heute mit Bezug auf deutsche Medien als Quelle nochmals in unsere Zeitungen getragen wird, bedeutet nicht, dass die Inhalte wahr sind; dass darüber hinaus noch neue Details hinzuerfunden wurden, ist nicht zu rechtfertigen.

(Übersetzung von uns)

Ja, es war ein Skandal erster Güte und es waren schwierige Tage für Baris Özbek. Dafür haben “Express” und “Bild”, “Star”, “Milliyet” und “Hürriyet” selbst gesorgt.

Mit Dank an Erhan S. für den Hinweis und besonderem Dank an Baris Ü. für die Übersetzung aus dem Türkischen.

AP  

Kleiner Hobbit, großes Chaos

Vergangenen Montag tickerte Associated Press gleich zwei Mal eine Meldung (unredigiert u.a. von “RP Online” und der “Hersfelder Zeitung” übernommen), die vor allem im zweiten Satz Rätsel aufgibt:

Oscar-Preisträger Peter Jackson will nach der “Herr der Ringe”-Trilogie den Regie-Stab für sein “Hobbit”-Projekt an Guillermo del Toro weiterreichen. Das kündigte Jacksons langjähriger Mitarbeiter und Kunstdirektor, Richard Taylor, am Montag der Nachrichtenagentur AP in Hongkong mit.

Da ist zunächst die Berufsbezeichnung des Mannes, der etwas “mitgekündigt” haben soll: Richard Taylor, der “Kunstdirektor”, leitet nicht etwa ein Museum oder eine Galerie, er ist “Art Director”, also künstlerischer Leiter des Projekts.

Außerdem ist es keineswegs eine Neuigkeit, dass Guillermo del Toro bei den beiden “Hobbit”-Filmen Regie führen wird — das ist viel mehr schon seit April 2008 bekannt.

Im ersten Satz eines längeren Artikels über “Kunstdirektor” Richard Taylor erklärt die amerikanische AP, warum Peter Jackson nicht Regie führt:

Einer von Peter Jacksons regelmäßigen Mitarbeitern sagt, der “Herr der Ringe”-Regisseur hat die Fackel an den mexikanischen Filmemacher Guillermo del Toro weitergereicht, um dem zweiteiligen Trilogie-Prequel “Der Hobbit” ein neues Aussehen zu geben.

(Übersetzung von uns)

Womöglich haben die deutschen Kollegen nur die erste Hälfte dieses Satzes gelesen.

Kachelmann, Goldt, Daily Mail

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Verdacht”
(faz.net, Harald Staun)
Harald Staun über Vorverurteilungen und Ferndiagnosen im Fall Jörg Kachelmann. “Welche Details aus Kachelmanns Biographie man in Zusammenhang mit dem Verdacht bringt, ist rückblickend völlig egal: im Zweifelsfall wird jede Freundlichkeit als Täuschung interpretiert.”

2. “Sind wir Putzerfische?”
(sueddeutsche.de, Sonia Seymour Mikich)
Sonia Mikich hat gelernt, sich für vieles fremdzuschämen, das als Journalismus durchgeht, “auch für die Fälle von Themenplacement im öffentlich-rechtlichen Fernsehen”. “Während Journalisten an ihrem Selbstverständnis herumrätselten, blühte die organisierte Meinungsmache, die Wachstumsbranche bevölkert von Consultants, Werbegurus und Spin-Doktoren.”

3. “Immer! Mehr! Untergang!”
(welt.de, Matthias Wulff)
Matthias Wulff liest jede Woche “Artikel, an die man sich über den Tag hinaus erinnern wird” und mag die dauernde Klage über den Verfall des Journalismus nicht mehr hören. Die Arbeitsbedingungen hätten sich “dank Google und E-Mail” deutlich verbessert. “Ich möchte mich nicht daran erinnern, wie viel Lebenszeit ich am Kopierer verbracht habe, wie oft ich vom Archivar gehört habe, der gesuchte Ordner komme erst am Nachmittag, wie mühsam es bei der Recherche war, mit den richtigen Leuten schnell in Kontakt zu treten.”

4. “Abt. Dumme Umfragen, abenteuerlich visualisiert”
(medienspiegel.ch, Martin Hitz)
“‘Tages-Anzeiger’ vom 27. März 2010, S. 2”

5. “Warum wird die junge Frau geschont?”
(cicero.de, Max Goldt)
Max Goldt über YouTube-Videos, in denen “Ausraster” zu sehen sind und über die Sendung “Germany’s Next Topmodel” mit Heidi Klum (“dieser eisige Beauty-Apparatschik”). In einem zweiten Beitrag geht es um Blogs, empfohlen wird “German Joys” von Andrew Hammel.

6. “The Daily Mail song”
(dananddan.com, Video, 2:47 Minuten)
Dan and Dan widmen den Schlagzeilen der britischen Zeitung “Daily Mail” einen Song.