Archiv für Januar 6th, 2010

Bild  

Kopfloser Horrorjournalismus

Es gibt Unfälle, die sind an Grausamkeit kaum zu überbieten: Am 4. Januar gegen 23 Uhr prallte ein 20-jähriger Pkw-Fahrer auf der Hauptstraße im niedersächsischen Seckenhausen frontal gegen einen LKW-Anhänger, der auf der Fahrbahn abgestellt war. Der Kleinwagen schoss unter dem Anhänger hindurch, das Dach wurde dabei abgerissen, der Fahrer verstarb noch an der Unfallstelle. Es gibt Medien wie den “Weserkurier”, die sich bei einem solchen Unfall an die Fakten halten, die auch durch eine Polizei-Pressemitteilung belegt sind.

Und es gibt die “Bild”. Deren Berichterstatterin Astrid Sievert musste offenbar noch ein wenig an der Horror-Schraube drehen:

Horrorunfall: Autofahrer geköpft

Auch im Text lässt Sievert die Leser wissen, wie der “Horror-Unfall” konkret ausgesehen hat: “ER WURDE GEKÖPFT” steht dort in fetten Lettern. An anderer Stelle ist zu lesen, dass der junge Autofahrer “mit rund 100 km/h” in den Tod raste.

Wie die Horror-Berichterstatterin der “Bild” zu ihren Beobachtungen kam, ist unklar. Möglicherweise hat sie sich von “Nonstop-News” inspirieren lassen, einem Bereitschaftsdienst für Blut- und Blechschaden-Berichterstattung auf dem platten niedersächsischen Land. Die Reporter, die kurz nach dem Unfall zur Stelle waren und in ihrer Filmausbeute unter anderem eine “Totale der Unfallstelle mit viel Blaulicht” anzubieten haben, berichten: “Der Fahrer war offenbar bei dem Aufprall in Kopfhöhe sofort getötet worden.” Fest steht: Von einer Enthauptung kann keine Rede sein. “Die Pressemeldung der Polizei Diepholz ist maßgeblich und richtig. Der Fahrer wurde nicht geköpft”, stellt Thomas Gissing, Verkehrssicherheitsberater der Polizeiinspektion Diepholz, gegenüber BILDblog klar. Wäre der “Bild”-Berichterstatterin bei ihrer Arbeit nicht der eigene Kopf abhanden gekommen, hätte sie sich übrigens selbst denken können, dass die Darstellung vom “geköpften” Autofahrer nicht stimmen kann — immerhin heißt es in der Polizeimeldung, dass der Fahrer “noch an der Unfallstelle” verstarb und nicht “sofort tot” war.

Und auch die Geschwindigkeit, mit der sich der 20-Jährige auf den Anhänger zubewegte, ist nicht klar: Im “Weserkurier” konnte die Polizei dazu keine Angaben machen. Polizeisprecherin Jutta Stricker vermutet jedoch, dass der Kleinwagenfahrer langsamer als die 100 km/h gefahren war, die “Bild” behauptet. Die Situation sei ohnehin nicht nur mit hoher Geschwindigkeit gefährlich: Wenn sich so ein Hindernis auftue, sei eine Reaktion ohnehin schwer möglich, sagte Stricker dem “Weserkurier”.

Aber warum bei den Fakten bleiben, wenn sich ein grausamer Unfall mit gewissen verbalen Verrenkungen noch grausamer machen lässt – das denkt man sich offenbar auch hier, hier oder hier.

Haarspalterei

Falls Sie sich immer schon gefragt haben, was eigentlich das Gegenteil eines Fußballfelds ist: Das ist ein menschliches Haar. Zumindest auf Journalistisch.

Während die wehrlosen Sportplätze oft als Vergleichsgröße für große Flächen missbraucht werden, wird das einzelne Haar herbeigezogen, wenn es um extrem kleine Abmessungen geht.

So wie jetzt von “Computer Bild”:

Wichtigste Neuerung der Clarkdale-Prozessoren ist die Fertigungstechnik 32 Nanometer: Jede Leiterbahn im Prozessor ist 32 Nanometer (nm) breit – also etwa halb so dünn wie ein menschliches Haar.

Ein Nanometer entspricht 10-9 oder 0,000000001 Metern, ein menschliches Haar hat einen Durchmesser von rund 0,1 Millimetern (1 mm = 10-3 m) oder 100.000 Nanometern — und ist damit etwa 1500 Mal so dick, wie von “Computer Bild” behauptet.

Nachtrag, 16.25 Uhr: Bild.de hat den Text geändert:

ein menschliches Haar hat einen Durchmesser, der etwa zwischen 43.000 und 100.000 Nanometern liegt.

Mit Dank an Thorsten.

Explosiv, X-Factor, Wikileaks

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Kleine Boulevardreporterschule”
(faz.net/blogs/fernsehblog, Peer Schader)
Wie man einen RTL-“Explosiv”-Beitrag plant: 1. Ein geeignetes Thema finden, 2. Die Protagonisten ins Lächerliche ziehen, 3. Neue Opfer suchen.

2. “Wie die ‘BILD’ einmal Dresden mit Bonn verwechselte”
(presseclub-dresden.de, owy)
Der Vater des dritten Kinds eines Topmodels komme aus Dresden, ist auf Bild.de zu lesen. Kurze Zeit später stammt der Mann dann aus Bonn. Andere Portale übernehmen die Meldung, nicht aber die nachträgliche Änderung.

3. “Eine Antwort zu Ernst Elitz Journalismusbild”
(freitag.de/community/blogs/columbus, Christoph Leusch)
Und noch eine Antwort zu den “zwölf Thesen für einen besseren Journalismus” von Ernst Elitz: “Wer einmal von einem hoch angesehenen Journalisten oder Publizisten Dinge lesen musste, die dieser unmöglich gesehen, gelesen, verstanden und bearbeitet haben kann, der zweifelt doch daran, diese wichtiger Aufgabe des ‘Filterns’ so einfach in die Hände der Journalisten zurück zu geben.”

4. “Geben Sie Ihre Rechte bitte an der Garderobe ab”
(medienpiraten.tv/blog, Peer Schader)
Peer Schader liest die Castingvereinbarung der für Sommer 2010 geplanten RTL- und VOX-Sendung “X-Factor” und notiert sich einige Passagen, die Kandidaten unterschreiben müssen. Zum Beispiel: “Ich übertrage auf den Produzenten auch alle Rechte für unbekannte Nutzungsarten.”

5. “Leak-o-nomy: Die Ökonomie hinter Wikileaks”
(stefanmey.wordpress.com)
Nachgetragen: Ein Interview mit Julian Assange, der über die Finanzierung von Wikileaks spricht.

6. “Eine Schule in den Bergen”
(ardmediathek.de, Video, 7:33 Minuten)
Ein Bericht über die Schulsituation in Zentralchina, die sich von der in Westeuropa stark unterscheidet.