Als “in so gut wie allen Punkten falsch und frei erfunden” bezeichnet Matthias Arends, der Sprecher der Polizeidirektion Kiel, einen “Bild”-Bericht über ein tödliches Familiendrama, das sich in dieser Woche in Tangstedt bei Hamburg ereignet hat.
“Bild” berichtet:
Polizisten richten ihre Waffen auf einen Passat Kombi. Darin sitzt ein Mann, der gerade seine Frau (40) umgebracht hat.
Die Polizei widerspricht: “Gerade” höchstens im Sinne von “mehrere Stunden zuvor”.
Doch bevor ihn die Polizei stellen kann, richtet er sich selbst.
Die Polizei widerspricht: Der Mann war beim Eintreffen der Kollegen bereits mehrere Stunden tot.
In seinem Auto schluckt er tödliches Gift.
Die Polizei widerspricht: Der Mann sei an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.
Kurz nach 9.40 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein. Eine junge Frau stammelt mit aufgeregter Stimme: Kommen Sie schnell. Meiner Mutter ist was Schlimmes passiert!
Die Polizei widerspricht: Der Notruf sei völlig anders über die Bühne gegangen.
Bettina K. (40) liegt in einer riesigen Blutlache, erschlagen vom eigenen Ehemann.
Die Polizei widerspricht: Am Tatort habe es kaum Blut gegeben.
Vermutlich gibt der Mann dort den drei Dobermännern mit Gift getränktes Futter. Sie sterben auf dem Rasen.
Die Polizei widerspricht: Die Dobermänner seien im Auto gewesen und ebenfalls an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.
Dann setzt sich Christian K. auf den Fahrersitz, schluckt offenbar selbst eine Gift-Kapsel. Als die Polizisten auf seinen Wagen zustürmen, lebt der Täter noch.
Die Polizei widerspricht: Von “Zustürmen” könne keine Rede sein. Im übrigen habe der Mann, wie gesagt, keine Gift-Kapsel geschluckt und nicht mehr gelebt.
Freitag nachmittag: Die Zusammensetzung des neuen Bundeskabinetts rauscht durch alle Medien. Es eilt. Damit die Kabinettsliste am Samstag auf den Titelseiten aller wichtigen Zeitungen stehen kann, müssen die Infos jetzt fließen. Schnell.
Und so meldet der Basisdienst der dpa in Hamburg um 16:51 Uhr:
Berlin (dpa) — Der niedersächsische Vize-Ministerpräsident Philipp Rösler (FDP) wird wahrscheinlich neuer Gesundheitsminister. Dies verlautete am Freitag aus Kreisen der Verhandlungsführer. Der 36-jährige Landeswirtschaftsminister aus Hannover wollte eigentlich nicht nach Berlin wechseln. Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.
Um 17:50 Uhr folgt das Portrait des bundespolitischen Newcomers:
Der bisherige Landtagsfraktionschef in Hannover hatte erst im Februar das Amt des Wirtschaftsministers in einer CDU/FDP-Koalition im Land übernommen. In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaft nicht unbedingt sein Steckenpferd.
In dieses bunte Potpourri an Funktionen hat sich leider ein faules Ei eingeschlichten: Rösler ist kein Augenarzt. Der Irrtum ist so verbreitet, dass der Jung-Politiker auf seiner Webseite sogar einen eigenen Abschnitt zu seinem Lebenslauf hinzugefügt hat:
Bald entdeckt man bei dpa den Fehler und schickt um 18:27 Uhr eine Berichtigung hinterher:
(Berichtigung: Arzt statt Augenarzt im dritten Absatz)
Doch zu spät. Die Information hat sich bereits im Medienkreislauf festgefressen:
… und in vielen weiteren Medien findet man den falschen Beruf. “Spiegel Online” hat sich eine besondere Variante einfallen lassen — man bezieht Teile des Lebenslaufs über Twitter:
Hm?
Landwirtschaftsminister ist Rösler übrigens auch nicht, obwohl zahlreiche Online-Medien das dank dpa in einem Bildtext verbreiten. Gemeint ist: Landeswirtschaftsminister. Komisches Wort aber auch.
Um 21:35 Uhr kehrt die Information überraschend auch wieder zu dpa zurück, wo man Röslers Heimatzeitung, die “Hannoversche Allgemeine Zeitung”, zitiert, die es erstaunlicherweise auch nicht besser weiß:
Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man festhält, dass die Herkunft aus Niedersachsen ihm geholfen hat. Zuvor hatte die FDP für Justiz eine Frau aus Bayern und für Wirtschaft einen Mann aus Rheinland-Pfalz nominiert. Immerhin: Rösler ist gelernter Augenarzt. Als er noch im Facharztzentrum der Bundeswehr in Hannover arbeitete, ließ er sich freilich nicht träumen, mal Bundesgesundheitsminister zu werden.
Ein einmaliger Ausrutscher? Mitnichten. Schon vor vier Tagen hatte die dpa ein kurzes Portrait der niedersächsischen Wirtschaftsministers gebracht:
In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaftskompetenz nicht unbedingt sein Steckenpferd. Rösler, Lakritz-Liebhaber und Hobby-Bauchredner, gilt als scharfzüngiger Schnellredner, der charmant aber auch verbindlich im Ton auftritt.
Und drei Wochen zuvor stellte die “Welt” Rösler als künftigen Wirtschaftsminister vor:
Geht das Wirtschaftsressort an die FDP, könnten die Liberalen eines ihrer größten Talente zum Zuge kommen lassen: Philipp Rösler (36), der seit Anfang 2009 dieses Ressort in Niedersachsen führt. Das von deutschen Eltern adoptierte Waisenkind aus Vietnam ist gelernter Augenarzt.
Die Reihe ließe sich noch lange weiter fortsetzen — mehr als sechs Jahre lang. Am 15. Februar 2003 meldete der Berliner “Tagesspiegel” anscheinend als erster den falschen Beruf des damaligen Fraktionsvorsitzenden:
McAllister kommt aus Bad Bederkesa im Landkreis Cuxhaven, ist in seiner Heimatstadt verwurzelt, war dort Bürgermeister und Schützenkönig. (…) Hinzu kommt der neue Fraktionschef der FDP, der erst 29 Jahre alte Augenarzt Philipp Rösler.
Am 23. Februar desselben Jahres legte die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” noch eins drauf:
Philipp Rösler tritt leise auf. Er führt die Fraktion der FDP in Niedersachsen, die es nach neun Jahren wieder in den Landtag schaffte. 29 Jahre ist er alt, verheiratet mit einer jungliberalen Ärztin. Rösler ist promovierter Augenarzt und nach zehn Jahren als Zeitsoldat im Rang eines Stabsarztes. Nie der beste, aber immer der fröhlichste Mediziner sei er gewesen, sagt Rösler.
Gesundheitsminister bleibt man vier — mit viel Glück sogar acht Jahre lang. Eines jedoch wird Philipp Rösler wohl immer bleiben: Augenarzt.
Mit Dank an Patti!
Nachtrag 26. Oktober, 11:20 Uhr: Während Redaktionen wie “Spiegel Online” und “Zeit.de” ihre Artikel von dem Fehler bereinigen, beharrt “Bild.de” am Sonntag abend immer noch auf der Bezeichnung “promovierter Augenarzt”.
Tatsächlich hat Rösler über ein Thema aus der Herzchirurgie promoviert und bis 2003 als Sanitätsoffizier der Bundeswehr gearbeitet. Parallel verlief die Politikerkarriere und dabei verlief sich die begonnene Weiterbildung zum Augenarzt. Soviel zum Biografischen. Jeder wird in den nächsten Tagen allüberall nahezu alles über Rösler lesen können, seine ungewöhnliche Biografie reizt schließlich jeden Journalisten zu einer Story.