Archiv für September 28th, 2009

101,4-prozentig daneben

Nachdem sogar der Bundeswahlleiter in den allmächtigen Hype um Twitter eingestimmt hatte und hochoffiziell und international davor warnte, Ergebnisse so genannter “Exit polls” auf der Kurznachrichtenplattform zu verbreiten, stand das Szenario für den Wahlabend fest:

1. Dutzende Journalisten würden Twitter durchstöbern, um die erwarteten Indiskretionen zu entdecken.
2. Hunderte von Twitter-Nutzern würden sich einen Spaß draus machen, ständig neue Wahlprognosen zu erfinden und zu veröffentlichen.

Unter den Spaßvögeln: ein Unbekannter, der sich einfach als FDP-Kreisverband Unna ausgab und prompt eine angebliche Prognose aus Berlin weitertwitterte. Das war zwar liebevoll gemacht, der vermeintliche FDP-Funktionär erfand sogar einen mahnenden Anruf aus der Parteizentrale in Berlin. Trotzdem überzeugte die Fälschung keine zwei Minuten lang.

So hatte der vermeintliche Liberale im Überschwang 101,4 Prozent an Stimmen verteilt, die FDP in Unna war problemlos telefonisch erreichbar und dementierte sofort. Wer würde dennoch auf die plumpe Vorstellung reinfallen?

Ja, wer?

Dicker Patzer: Die FDP aus Unna „zwitscherte“ noch vor Schließung der Wahllokale über den Dienst „Twitter“ Prognosen zur Wahl. Schnell kam ein mahnender Anruf aus Berlin, das kann schließlich Wähler beeinflussen.

Im Nachhinein hat Bild.de dann doch erkannt, dass mit den Prognosen etwas nicht stimmt:

Die angeblichen Ergebnisse wurden teilweise bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma genannt – was allerdings nicht der Arbeitsweise der Demoskopen entspricht.

Ein anonymer Twitter-Nutzer schrieb unter dem Namen des Forschungsinstituts infas/dimap. Ein anderer anonymer Nutzer twitterte unter dem Namen “FDP_Unna”. Die Fake-Accounts und Prognosen wurde inzwischen gelöscht.

Stimmt aber auch nicht: Der Fake-Account der FDP Unna ist immer noch online.

Bild  

Ein Brief für alle Fälle

Bei menschlichen Dramen ist die Neigung des Boulevards, das Drama noch ein bisschen dramatischer zu machen, besonders groß. “Bild” berichtete in der vergangenen Woche zweimal über solche Dramen — und gab der Geschichte in einem Fall noch einmal einen ganz besonderen Dreh…

Fall eins spielt in der Nähe des Berliner Flughafens Schönefeld. Dort verbrennt sich eine Frau mit ihren drei Kindern im Auto. Zuvor, so berichtet “Bild”, hinterlässt sie ihrem Mann einen Zettel, eine kurze Notiz, die man  als “Abschiedsbrief” werten könnte. Sie schrieb (wie auch die zuständige Staatsanwaltschaft bestätigt):

Entschuldigung. Danke. Kannst nicht noch mehr helfen.

Der zweite Fall ereignet sich in Passau. Ein offenbar hoffnungslos betrunkener Mann betritt die Polizei, beginnt zu randalieren, nimmt einem Polizisten die Waffe ab, schießt auf ihn und verletzt ihn schwer. Auslöser, so mutmaßt “Bild”, könnte ein Streit mit der Frau des Täters gewesen sein. Denn auch sie hinterließ — laut “Bild” — eine Abschiedsnotiz:

In seiner Wohnung fanden Polizisten eine kurze Abschiedsnotiz in der Handschrift der Frau: Entschuldigung. Danke. Kannst nicht noch mehr helfen.

Tatsächlich? Die Passauer Polizei sagt uns jedenfalls auf Nachfrage, dass es dort gar keinen Abschiedsbrief gegeben hat; erst recht nicht einen mit dem identischen Wortlaut wie im Fall Schönefeld.

Mit Dank an Florian M.!

Westdeutsche Zeitung, Aust, AP

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Herr Maus, Sie sind eine Petze!”
(andreas-helsper.de)
Robert Maus, verantwortlich für die Redaktion Wuppertal der “Westdeutschen Zeitung”, beschwert sich nach einem Blogeintrag des Lesers Andreas Helsper bei dessen Chef. Helsper schreib über einen Artikel von Maus mit dem Titel “5000 Wuppertaler wollen Angela Merkel in Barmen sehen“. Im offenen Brief an Maus stellt Helsper klar: “Der Blogeintrag ist, um dies klar und deutlich zu sagen, meine Privatsache.”

2. Interview mit Stefan Aust
(diepresse.com, Isabella Wallnöfer)
Ex-“Spiegel”-Chefredakteur Stefan Aust entwickelt für die WAZ-Gruppe “etwas im Magazinbereich”, “keine Frauenzeitschrift”. Enthüllungsgeschichten, so glaubt er, hätten oft etwas mit Zufall zu tun. “Wenn sich Journalisten großer Titel dann als investigativ bezeichnen, kommen sie mir manchmal vor wie der Schrankenwärter, der glaubt, der Zug kommt, weil er die Schranken heruntergelassen hat.”

3. Twitter-Manipulation zur Bundestagswahl
(docs.google.com)
Die Diskordische Mediengruppe 09 bekennt sich zu Manipulationen auf Twitter zur Bundestagswahl 2009: “Wir haben die Veröffentlichung von Exit-Polls auf Twitter am Wahltag dominiert, manipuliert, ja sogar gefälscht was das Zeug hält.”

4. “Streik der Praktikanten”
(taz.de, Anna Mauersberger)
Die “taz”-Praktikanten, die “die eigene Arbeitskraft für Nichts” hergeben, rufen in einer Beilage zum Streik auf (am 9. Oktober): “Und so sitzen der und die Prakti bis spät abends noch hörig vor ihrem Computer-auf-Zeit, verzichten auf Urlaubstage, feiern niemals krank – während die Chefs sich ins Fäustchen lachen.”

5. “AP Publishes Internal Notes About Roman Polanski Arrest As News Story”
(businessinsider.com, Dan Frommer, englisch)
Dan Frommer dokumentiert eine (derzeit auf forbes.com online stehende) Meldung von AP, in der versehentlich interne Diskussionen veröffentlicht wurden: “is frank around too, or are you alone?”

6. “Michael Graeter bei Kerner”
(youtube.com, Video, 6:31 Minuten)
Die nicht in die ZDF-Mediathek aufgenommene “Johannes B. Kerner”-Sendung mit dem Gast Michael Graeter findet sich in Ausschnitten auf YouTube.