Wenn dpa meldet, dass aus den Trümmern des Kölner Stadtarchivs Dokumente von Konrad Adenauer und dem Philosophen Albertus Magnus (Albert der Große) geborgen werden konnten, welche Überschrift wird Bild.de dem Ganzen geben?
Vielleicht wäre es am besten, wenn die “Bild”-Zeitung zukünftig gar keine Fotos mehr veröffentlichen würde. Sie hat ja einen “BILD-Zeichner”. Der hat bekanntlich genügend Fantasie, um sich beispielsweise vorzustellen, wie der Amokläufer von Winnenden in einem Kampfanzug ausgesehen haben könnte, als er vorgestern 15 andere Menschen tötete (dabei trug er womöglich gar keinen Kampfanzug [siehe Kasten]).
Kampfanzug? Sweatshirt?
Eine Augenzeugin heute in “Bild” über den Amokläufer:
Etwas weiter unten auf derselben “Bild”-Seite:
Und sicher hätte der “BILD-Zeichner” auch kein Problem damit, sich vorzustellen, wie der Amokläufer Tim K. im Alter von zehn Jahren ausgesehen hätte, während er an einem Schießstand mit einem Luftgewehr zielte. Er hätte eine große Zeichnung davon machen können, und “Bild” hätte dazu schreiben können:
So sieht es der BILD-Zeichner: Da war er erst 10! Das Auge am Visier, den Finger am Abzug. Früh lernte Amokläufer Tim K. den Umgang mit Waffen. Die Zeichnung zeigt ihn als Zehnjährigen beim Schießen mit einem Luftgewehr
Doch “Bild” beschäftigt schließlich eine Menge Leute, die quasi darauf spezialisiert sind, Fotos zu beschaffen – auf welchen Wegen auch immer. Und manchmal, so wie heute, schreibt “Bild” inzwischen sogar “Fotobeschaffung” in den Quellennachweis.
“Fotobeschaffung” heißt hier offenbar (wiesooft), dass “Bild” sich ein Foto eines jungen Luftgewehrschützen aus dem Internet besorgt hat, ohne den Rechteinhaber um Erlaubnis zu fragen.
Das Ergebnis dieser “Fotobeschaffung” kann man heute groß auf Seite 2 als Blickfang unter der Überschrift “Die kranke Welt des Killers” sehen (Unkenntlichmachung von uns):
Der Text beginnt mit den Worten:
Doch das Foto zeigt nicht den Amokläufer Tim K. Es zeigt einen ganz anderen, völlig unbeteiligten Jungen aus einem von Winnenden rund 80 Kilometer entfernten Schützenverein, wie man uns dort bestätigt.
Die ausufernde Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden nimmt die “Bild”-Redaktion nicht so sehr in Beschlag, dass sie sich nicht noch um einen ihrer Lieblingsgegner kümmern könnte, die ARD. Heute erklärt “Bild” sie wieder einmal zum “Verlierer” des Tages:
Natürlich haben nicht “alle Privatsender” live über den Amoklauf berichtet. Genau genommen hat sogar kein privates Vollprogramm sein Programm geändert. Sender wie RTL 2 oder Kabel 1 berichteten erstmals am Nachmittag oder Abend in ihren regulären Nachrichtensendungenen über die Vorfälle.
Und was die “lange Leitung” angeht:
Um 11:04 Uhr unterbrach die ARD (wie auch “Bild” schreibt) ihr reguläres Programm für ein dreiminütiges “Tagesschau-Extra”. Weitere Extra-Ausgaben der “Tagesschau” liefen um 12:00 Uhr (Länge: 17 Minuten), 12:50 Uhr (3 Minuten) und 13:44 Uhr (25 Minuten).
Das ZDF sendete um 11:12 Uhr ein zweiminütiges “heute Spezial” und berichtete ab 12:00 Uhr mehrmals in seinen regulären Sendungen “heute Mittag”, “Drehscheibe Deutschland” und “ZDF-Mittagsmagazin”.
RTL begann mit der Berichterstattung in seiner Sendung “Punkt 12” um 11:56 Uhr. Pro Sieben zeigte um 12:24 Uhr Kurznachrichten, Sat.1 um 12:58 Uhr eine dreiminütige Sondersendung.
Aber tatsächlich übertrug die ARD zwischen 12:17 Uhr und 13:41 Uhr (unterbrochen durch ein kurzes “Tagesschau”-Extra) den Ski-Weltcup und hatte vermutlich das Pech, das gerade in dieser Zeit ein “Bild”-Redakteur vorbeizappte.
1. “Winnenden: Menschen und Medien” (wuv.de, Jochen Kalka)
Der Chefredakteur von W&V, Jochen Kalka, ist Einwohner der Stadt Winnenden, wo am Mittwoch mehrere Menschen durch einen “geplanten Mord” ums Leben kamen (“Das, was in Winnenden passiert ist, hat mit einem Amoklauf wenig zu tun”). Im lesenswerten Text schreibt er, wie am Tag darauf die Winnender Zeitung bereits um 7:30 Uhr ausverkauft war und über durch die Talk-Shows ziehende “Kommentarwichsmaschinen”.
2. Interview mit Mathias Döpfner (turi-2.blog.de, Video, 8:21 Minuten)
Alle jammern über die Krise, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, geht es hingegen “erschreckend gut”: “Wir verdienen heute schon gutes Geld mit unseren Online-Aktivitäten. Sieben unserer Onlineaktivitäten schreiben Renditen von über 20 Prozent. Online ist für uns kein vages Zukunftsgeschäft, sondern reales Geschäft heute. (…) Für uns ist das Internet kein Feind, sondern ein Freund.”
3. “TV-Krise als Chance für Springer” (taz.de, Steffen Grimberg)
“Der Konjunkturrückgang trifft Privatsender voll: Sparkurs bei RTL, Land unter bei ProSieben. Heißt der lachende Dritte jetzt etwa Axel Springer?”
Die “Süddeutsche Zeitung” hat die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg gefragt, wie hoch die Nachahmungseffekte bei Amokläufern sind, und sie hat geantwortet:
Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mystisches Bild von ihm zeichnen. Das wirkt wie ein Vorbild. Bei Selbstmorden sind die Medien sehr zurückhaltend, um nicht Nachahmer zu provozieren. Bei Amokläufen gilt leider das Gegenteil. Ab jetzt besteht die große Gefahr, dass wir es in den nächsten Wochen oder Monaten mit einem Nachahmungstäter zu tun bekommen.
Dieser Gedanke kommt oft zu kurz in den Medien: dass nicht nur Killerspiele möglicherweise eine gefährliche Wirkung auf labile Jugendliche haben können, sondern auch ihre eigene Berichterstattung. Das betrifft nicht nur “Bild”, sondern fast alle Medien. Aber wenn es vor allem wichtig ist, die Täter nicht in einer Heldenpose zu zeigen, hatte “Bild” eine besonders schlechte Idee. Die Zeitung zeigt Tim K., den Amokläufer von Winnenden, in einer Pose, die ihm selbst bestimmt am besten Gefallen hätte. Sie hat sein Gesicht auf das Foto eines Mannes in schwarzer Kampfuniform montiert, die Waffe drohend in Richtung Kamera gerichtet. Das Heldenfoto hat Postergröße, ist fast einen halben Meter hoch:
(Rote Unkenntlichmachung von uns.)
Zusätzlich hat sich der “Bild”-Zeichner ausgemalt, wie das wohl ausgesehen hat in dem Klassenzimmer zwischen Tafel und Overheadprojektor, als Tim K. in seiner schwarzen Rächeruniform gerade ein Mädchen erschoss.
Anders als die “Süddeutsche Zeitung” heute (und Bild.de gestern) nennt “Bild” nicht den Nachnamen des Täters. Und anders als die “Berliner Zeitung” gibt “Bild” auch nicht die exakte Anschrift des Hauses an, in dem seine Familie lebt.
Dafür hat Bild.de ein kleines Familienalbum des siebzehnjährigen Täters im Angebot — nicht weniger als sieben private Fotos, die ihn als kleines Kind und als Jugendlicher zeigen und die vor allem bei Tischtennisturnieren entstanden sind.
Aber die “Bild”-Zeitung hält nicht nur den Täter für eine Person der Zeitgeschichte, sondern identifiziert auch einige seiner Opfer. Sie zeigt vier getötete Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, ein Gesicht fast lebensgroß, mit Fotos, die offensichtlich von SchülerVZ und ähnlichen Internetseiten entnommen wurden.
Opfer von Unglücksfällen oder von Straftaten haben Anspruch auf besonderen Schutz ihres Namens. Für das Verständnis des Unfallgeschehens bzw. des Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Ausnahmen können bei Personen der Zeitgeschichte oder bei besonderen Begleitumständen gerechtfertigt sein.
Nachtrag, 13. März. Eines der vier angeblich toten Mädchen, die “Bild” gestern gezeigt hat, lebt. “Bild” schreibt heute:
Sie wurde zunächst selbst als tot gemeldet – doch Selina lebt! In BILD schildert sie die schlimmsten Minuten ihres Lebens – und den Tod ihrer Schulfreundinnen Chantal und Jana.
1. “Prominenter Einsatz für die Bild” (ndr.de, Video, 7:17 Minuten)
Prominente machen mit in den neuen TV-Werbespots für die Bild-Zeitung und verzichten dabei, so das Medienmagazin “Zapp”, auf Honorar. Besonders beleuchtet wird im Bericht Johannes B. Kerner, der augenscheinlich sehr eng mit Bild zusammenarbeitet. Mit scheinbar sich distanzierenden Werbesprüchen dabei bei der Promoaktion sind aber auch Thomas Gottschalk, Gregor Gysi, Stefan Kretzschmar, Udo Lindenberg, Nazan Eckes oder Philipp Lahm.
2. “Wenn die Realität ‘Bild’ nicht schlimm genug ist” (dwdl.de, Thomas Lückerath)
Da kein Bildmaterial des Amoklaufs von Winnenden vorliegt, lässt bild.de seinen Zeichner ran, der sich ausmalt, wie sich die Szenerie dargestellt haben könnte.
3. “Angst vor der Twitteratur” (zeit.de, Harald Martenstein)
Harald Martenstein schreibt über Twitter; er begreift den Kult um die Geschwindigkeit nicht: “Beim Essen und beim Sex heißt es, man soll immer schön langsam und gründlich machen – bei der Kommunikation, der schönsten Nebensache der Welt, ist es umgekehrt?”
Auch die “Bild”-Zeitung nutzt seit kurzem den Kurznachrichtendienst “Twitter” und veröffentlicht dort nicht nur Hinweise auf neue Bild.de-Artikel, sondern auch kurze Botschaften aus der Redaktion.
Diesem “Tweet” von heute Nachmittag über den Amokläufer von Winnenden kann man die Enttäuschung geradezu anhören:
(“Bild” hat natürlich trotzdem private Fotos des Täters aufgetrieben.)
Mit Dank an Tobi H. und Matthias W. für den Hinweis.
Mehr über “Bild” und soziale Netzwerke als Quellen:
1. “Wie man Gesagtes ungesagt macht” (welt.de, Hanns-Georg Rodek)
Obwohl davon gar nichts im Pressekodex steht, greift in Deutschland der Autorisierungswahn um sich: “Antworten werden umgeschrieben, ganze Passagen gestrichen, sogar Fragen umformuliert. Spontane Gefühlsäußerungen werden entfernt, jede Kritik an der Produktion getilgt, und die überraschendsten, aussagekräftigsten Aussagen fehlen plötzlich. Manchmal hätte man das Gespräch gar nicht führen müssen, ein Interviewautomat, der Fragen und Antworten aus Versatzstücken zusammenschustert, hätte genügt.”
2. “So lügt man sich in die eigene Tasche” (blog.persoenlich.com, Roger Schawinski)
Roger Schawinksi glaubt nicht, dass die Grösse der Zeitungsredaktion einen Einfluss auf die Qualität des Inhalts hat. Er lobt die kleine Redaktion der Zeitung Sonntag, deren Recherchen die Internetdienste regelmässig aufnehmen müssen. An den letzten Wirtschaftsprimeur der NZZ hingegen müsse man lange zurückdenken – “das war 1976!”. Sein Fazit: “Die Qualitätszeitung wird nur überleben, wenn sie journalistisches Feuer und Engagement einbringt.”
3. Kommunikativer Sprengsatz Twitter (wirres.net, Felix Schwenzel)
“als die beifahrerin achtlos und stark verschlüsselt twitterete, dass wir überlegten uns aus steuerlichen gründen zu vermählen, wusste kurz danach die gesamte verwandschaft bescheid ohne dass wir auch nur einen einzigen angerufen hatte. ein einziger tweet kann in etwa so effektiv wie 60 minuten am telefon sein.”
“Bild” erklärt heute Ursula von der Leyen zur “Verliererin des Tages”, und das — um es gleich zu sagen — völlig zu Recht. Die Bundesfamilienministerin hatte vor gut drei Wochen stolz verkündet: “Die Deutschen kriegen wieder mehr Kinder.” In den ersten neun Monaten 2008 seien 3400 Kinder mehr zur Welt gekommen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Schon damals hätte man wissen können, dass der angebliche positive Trend vor allem auf Rechentricks beruhte — zum Beispiel dem, die (schlechten) Werte für Oktober zu ignorieren.
Als ersten Satz machte sich “Bild” eine Formulierung der Familienministerin aus dem “BamS”-Interview zu eigen und schrieb:
In der Wirtschaftskrise hat der Nachwuchs Konjunktur.
Inzwischen ist offenkundig, dass der Jubel unangebrachtwar. Die Geburtenzahl ist im Oktober und November 2008 deutlich zurückgegangen — für die ersten elf Monate insgesamt ergibt das ebenfalls einen Rückgang.
So gesehen ist es also, wie gesagt, keine schlechte Idee, von der Leyen zur “Verliererin” zu erklären für ihre PR- und Rechentricks (auf die man selbst wie fast alle Medien hereingefallen ist). Aber “Bild” hat noch eine interessante Erklärung für den plötzlichen Trendwechsel: die Wirtschaftskrise.
Mal abgesehen davon, dass “Bild” gerade erst den Eindruck vermittelt hatte, so eine Wirtschaftskrise sei gut fürs Kinderkriegen — könnte jemand der “Bild”-Redaktion erklären, wie lange eine Schwangerschaft dauert?
1. “Wirtschaftlicher Erfolg einer Online-Zeitung” (nzz.ch, Manfred Rist)
Ein positives Beispiel für Online-Journalismus in zweierlei Hinsicht. Malaysiakini.tv ist ein alternatives Online-Portal in Malaysia, das mit Einnahmen von Abonennten (70 Prozent) und Werbung (30 Prozent) seit vier Jahren schwarze Zahlen schreibt. Der Bericht darüber von NZZ-Korrespondent Rist ist ergänzt mit einem offenbar selbstproduzierten, sehenswerten Video (9:18 Minuten).
3. “Erregung ist ein Ärgernis” (taz.de, Arno Frank)
“Kinder! Pornografie! Politiker! Korruption! Betrug! Egal! Warum wir uns öffentliche Empörung über angebliche oder echte Skandale in den meisten Fällen einfach sparen sollten – und wem sie dient.”