Archiv für März 19th, 2009

Ostdeutsche Milchmädchenrenten

Es scheint, als hätte die “Bild”-Zeitung ihre Kampagne gegen die angebliche Ungerechtigkeit, dass die Ossis unsere ganze schöne Rente bekommen, für den Moment abgeschlossen. Heute steht nur noch ein kleinerer Artikel unten auf der zweiten Seite mit der Überschrift: “So viel Rente bekommen die Deutschen WIRKLICH”, als würde das, was “Bild” an den vorigen Tagen zum Thema veröffentlicht hatte, die Lage gar nicht treffen — was sogar stimmt.

Am Dienstag und Mittwoch hatte “Bild” mit diesen Schlagzeilen aufgemacht:

Weil die Rentenbezüge in den neuen Bundesländern um 3,38 Prozent steigen, in den alten aber nur um 2,41 Prozent, formulierte “Bild”:

Damit ist die Kluft zwischen den Rentenerhöhungen in Ost und West so groß wie zuletzt vor 10 Jahren.

Das stimmt, ist aber eine geschickte Verkehrung der Perspektive. Denn der Westen hat bei den Renten immer noch einen deutlichen Vorsprung vor dem Osten. Der “Rentenwert” (die monatliche Rente, die man pro Jahr mit einem Durchschnittseinkommen bekommt) ist im Osten über zehn Prozent niedriger. Unter gleichen Voraussetzungen bekommt ein Ostrentner weniger Geld aus der gesetzlichen Rentenversicherung als ein Westrentner.

Wenn die Renten jetzt im Osten also stärker steigen als im Westen, heißt das nicht, dass die Ostrenten den Westrenten weglaufen, wie “Bild” suggeriert, sondern nur, dass sich die Kluft zwischen beiden verringert. Das ist eine Folge davon, dass sich auch die Einkommensunterschiede langsam ausgleichen.

“Bild” suggeriert, dass Ostdeutsche auch in absoluten Zahlen mehr Rente bekommen. Auch das stimmt nur scheinbar. Ein realistischer Vergleich ist kaum möglich, weil in Ostdeutschland Gutverdiener wie Ärzte oder Rechtsanwälte den Durchschnitt in die Höhe treiben, die im Westen nicht aus der gesetzlichen Rentenkasse bezahlt werden. Außerdem sind ostdeutsche Frauen im Schnitt länger berufstätig gewesen, was ihre Rente entsprechend in die Höhe treibt.

Das stand gestern sogar auch in “Bild” — hinderte das Blatt aber nicht daran, mithilfe seiner professionellen Milchmädchen Ost und West gegeneinander auszuspielen:

Schaut man sich die Daten genauer an, fällt auf, dass die Männer, die beide jeweils 45 Jahre als Handwerker gearbeitet haben, auch fast genau die gleiche Rente bekommen. Der Unterschied geht allein auf die unterschiedlichen Lebensgeschichten der Frauen: Frau Ost hat 26 Jahre als Kindergärtnerin gearbeitet, Frau West nur 15 Jahre als Schneiderin.

Als Beleg für die Ungerechtigkeiten im deutschen Rentensystem zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung taugen diese Paare nicht. Aber um Neid zu schüren und Zeitungen zu verkaufen, reicht’s natürlich.

Mit Dank an Rainer S.!

Wo kommen nur diese ganzen bösen Spiele her?

“Was ist eigentlich ein Killerspiel?”

…fragte Bild.de kürzlich und antwortete:

Der Begriff tauchte wohl zum ersten Mal 1993 in einem Blog zum Thema Paintball auf. Damit waren noch reale Ballerspiele – Menschen beschießen sich mit Farbkugeln – und noch nicht die virtuellen Ableger (…) gemeint. Erst nach dem Schulmassaker von Littleton an der Columbine High School am 20. April 1999 und nach dem Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002 (…) wurde der Begriff Killerspiel in der öffentlichen Wahrnehmung auf Computerspiele gemünzt.

In der von Bild.de verlinkten Quelle aus dem Jahr 1993 heißt es indes:

“Man verstehe mich hier bitte nicht falsch — Ich halte auch die allseits bekannten Killerspiele am Computer fuer verwerflich (…)”

Seit Tagen arbeiten sich “Bild” und Bild.de an “Killerspielen” ab.

Vorgestern gab Bild.de Tipps, wie man Kinder und Jugendliche von Spielen fern hält, für die sie noch zu jung sind.

In dem Artikel findet sich auch folgende Passage:

Bei dem PC-Game "Grand Theft Auto", von dem bereits die vierte Folge erschienen ist, gehört auch Amoklaufen zum Spiel. Der schärfste Kritiker von Gewalt-Games, der Kriminologe Christian Pfeiffer, erklärte in einem Interview mit COMPUTER BILD SPIELE: "Bei Grand Theft Auto 4 ist ein Amoklauf möglich. Da kriegt man nicht viele Punkte, aber es wird ein bisschen Geld fallen gelassen, wenn Passanten abgeschossen werden. Und dieses Spiel ermöglicht diesen Amoklauf-Modus. Warum ist das möglich?"

Nun könnte man Pfeiffers Frage natürlich “philosophisch” nennen. Aber weil Bild.de gestern über die Warenhauskette Galeria Kaufhof berichtete, die zukünftig keine Spiele ohne Jugendfreigabe mehr verkaufen will (“Damit reagiert zum ersten Mal ein Endverkäufer auf die öffentliche Debatte um Killerspiele”), böte sich auch eine schlichte Antwort an: Weil es einen Markt gibt. Mit Käufern und Verkäufern.

Und zu diesen Verkäufern gehört beispielsweise …

Bild.de Download-Spiele: Grand Theft Auto 4

… das Download-Portal von Bild.de.

Mit Dank an Christian S.!

Politiker und Journalisten, Winnenden

Winnenden nach dem Amok: Presse unerwünscht (Keystone)
1. “Studie: Hauptstadtjournalisten wollen Einfluss auf Politik nehmen”
(tagesspiegel.de, Sonja Pohlmann)
Hans Mathias Kepplinger befragte in Berlin 187 Bundestagsabgeordnete und 235 Journalisten. Letztere gefragt, ob sie erstere beeinflussen, schätzten sie den Ist-Zustand mit 7,04 / 10 Punkten ein, den gewünschten Zustand mit 5,47 / 10 Punkten (auf einer Skala von 0 bis 10). “Damit nimmt ein großer Teil der Hauptstadtjournalisten offenbar an, dass sie bereits spürbar in das politische Geschehen eingreifen.”

2. “Winnenden: Stadt im Ausnahmezustand”
(ndr.de, Video, 8:18 Minuten)
Kann man trauern, wenn einen dabei ungezählte Kameras verfolgen? Nein, und das stört die Einwohner der von Journalisten überschwemmten Kleinstadt. Befragt nach den Journalisten, berichten sie von Missachtung der Privatsphäre und von Erpressungsversuchen. Beste Szene: Über die Friedhofsmauer fotografierende Presseleute beschweren sich, weil sie dabei gefilmt werden

3. “Der Markt schreit immer mehr nach Sensation”
(zeit.de, Kathrin Wanke)
“Nach dem Amoklauf von Winnenden hat die Öffentlichkeit über Schützenvereine und Computerspiele diskutiert. Doch auch die Berichterstattung der Medien steht in der Kritik.”

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