Archiv für September 9th, 2007

Zisch und fit

Bevor der Presserat vor einem Vierteljahr “Bild” dafür rügte, mit ihrer Berichterstattung über Aldi-Reisen die Grenze zwischen zulässiger Information und unzulässiger Werbung überschritten zu haben, hatte die Zeitung sich gegenüber dem Gremium ja damit gerechtfertigt, dass es einen “publizistischen Anlass” gegeben habe: Erstmals sei ein Discounter ins Reisegeschäft eingestiegen.

Das stimmte zwar nicht, aber “Bild” war auch nach der Rüge nachhaltig unzufrieden mit der Entscheidung des Presserates.

Und fand am vergangenen Freitag einen neuen “publizistischen Anlass” für detaillierte Berichterstattung über ein neues Produkt: Vermutlich erstmals ist eine deutsche Boulevardzeitung ins Sportdrinkgeschäft eingestiegen. “Bild”, äh: informierte exklusiv und auf Seite 1:

Mit Dank an Torsten W., Andreas H. und Andy.

medienlese – der Wochenrückblick

Blick lügt, Polizei gezeichnet, TV-Publikum alt, Köppel mit Konfirmandenanzug.

Die Staatsanwaltschaft St. Gallen sah sich genötigt, wegen eines Blick-Artikels über die Täterfahndung im Fall Ylenia eine Medienmitteilung herauszugeben. Obwohl der Blick-Journalistin kommuniziert wurde, dass keine Rede davon sein könne, dass nach einem zweiten Mann gefahndet wird, schrieb der Blick: “Also doch! Polizei sucht nach von Aeschs Komplizen“. Bedenklich sei das für die Staatsanwaltschaft vor allem aus zwei Gründen: “Erstens werden unnötig Polizeikräfte für Abklärungen gebunden, die zur Zeit dringend benötigt würden, um den immer noch vorhandenen plausiblen Hinweisen nachzugehen. Zweitens werden bei den Angehörigen von Ylenia Hoffnungen geweckt, die keine reale Basis haben.” Der Chef des hinter der Zeitung Blick stehenden Verlags, Michael Ringier, sagte im Magazin zum Fall Ylenia: “Die ‘Blick’-Redaktion hat dabei enorme Stärken bewiesen, ist das Thema mit hoher journalistischer Sorgfalt angegangen, mit Hartnäckigkeit – aber auch Feingefühl.”

Eine gänzlich undatierte Meldung über einen Kannibalismusverdacht ist bei networld.at zu lesen. Wann auch immer das passiert ist, die Tat muss aussergewöhnlich gewesen sein: “Deutscher erschlug Opfer mit Hantel in Notschlafstelle (…) Brustkorb war geöffnet, Organe auf Teller gefunden (…) Polizei gezeichnet: ‘Haben noch nie soetwas gesehen'”. Seltsam, ich kann mich nicht erinnern, das an anderer Stelle gelesen zu haben.

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Allgemein  

Exklusiv und unzulässig

Dursun Gündogdu ist ein Reporter der türkischen Zeitung “Hürriyet”. Ende Juni war er laut “Bild” “für BILD” im Gefängnis von Antalya, um exklusiv den 17-jährigen Marco Weiss zu interviewen, der dort in Untersuchungshaft sitzt, weil ihm vorgeworfen wird, ein 13-jähriges britisches Mädchen sexuell missbraucht zu haben.

Das Interview, das Gündogdu laut “Bild” “für BILD” führte, hätte nie stattfinden dürfen. Weder die Eltern noch der Anwalt des Jungen haben die nötige Zustimmung gegeben. Gegenüber dem NDR-Medienmagazin “Zapp” (Video) sagte Marcos Mutter:

“Wir waren dann später einfach nur überrascht und erschrocken, wie so was zustande kommen kann. Denn wie gesagt, wir haben, weder Marco, noch wir, noch sein türkischer Anwalt, der unser Mandat hat, haben vorher davon gewusst und sind auch nicht gefragt worden. Und hätten sicherlich auch zu dem Zeitpunkt nicht unsere Zustimmung gegeben.”

Dursun Gündogdu, der das Interview laut “Bild” “für BILD” führte, erklärte in der gleichen Sendung:

“Ok, dann wir haben einen Fehler gemacht und mit einem Minderjährigen ein Interview geführt. Aber wir haben ja schließlich einen Service angeboten für die deutschen Fernsehstationen und Printmedien. Wieso haben sie das denn so benutzt? Gut, es hätte die Einwilligung der Eltern geben müssen. Das ist auch im türkischen Recht so. (…) Es war nicht unsere Aufgabe nach der Genehmigung der Eltern zu fragen. Es ist doch so: Angenommen, wir hätten die Eltern nach der Genehmigung fragen wollen — hätten mir die Eltern diese dann auch geben? Welcher Reporter würde diese Frage zu diesem Zeitpunkt stellen? Wenn sie die Genehmigung haben ins Gefängnis zu gehen, und die Chance stehen 50 zu 50, dass die Familie nein sagt, da fragt doch keiner.”

Bereits wenige Tage nach der ungenehmigten Veröffentlichung des Interviews in “Bild” und auf RTL, hatte sich das deutsche Auswärtige Amt bei den türkischen Behörden beschwert, dass sie das Interview zuließen: Marco Weiss habe sich mit einigen Aussagen möglicherweise selbst belastet.

Laut “Zapp” wollte sich die “Bild”-Zeitung nicht weiter zu ihrem Interview äußern und verwies auf die “Hürriyet”.