Archiv für August 21st, 2007

Jetzt XVII

Manche Nachrichten müssen zur “Bild”-Meldung erst reifen.

Vor knapp einem Jahr, am 27. August 2006, berichtete die “Welt am Sonntag”, der Fotograf Mario Testino habe ein Haus in Berlin gekauft:

Star-Fotograf Mario Testino lebt für den Moment. Darum liebt er auch Berlin: "Die Narben, die Menschen, die Szenen auf der Straße". Nun hat sich der Peruaner, der in London lebt, seinen langen Traum von einem eigenen Haus in der Hauptstadt erfüllt: eine alte Villa, wie ein venezianischer Palast mit Riesenballsaal, um die 3000 Quadratmeter Wohnfläche, im Fischerinsel-Kiez, direkt an der Spree.

Am Tag darauf, dem 28. August 2006, freute sich die Boulevardzeitung “B.Z.”:

Testino jetzt Berliner — Willkommen in Berlin, Mario Testino (62)! Im Fischerinsel-Kiez hat sich der Star-Fotograf eine palast-ähnliche Villa gekauft (3000 Quadratmeter Wohnfläche direkt an der Spree).

Am 31. August 2006 schloss sich ein Blog des Schweizer Magazins “Cash” an:

Die Deutsche Hauptstadt hat einen prominenten Neubürger: Starfotograf Mario Testino (…). Der gebürtige Peruaner kaufte sich eine alte Villa mit — man höre und staune und halte sich fest — 3000 Quadratmetern Wohnfläche und Spreeblick an der Fischerinsel. Sein Hauptwohnsitz bleibe aber London, bestätigte Testino, künftiger Besitzer eines Ballsaals im venezianischen Stil. Was Testino an Berlin reizt: “Die Narben und die Szenen auf der Strasse”.

Dann passierte lange, lange nichts. Außer, dass einige Medien in Nebensätzen erwähnten, dass Testino bekanntlich nun auch ein Haus in Berlin habe. Und dass unsichtbare “Bild”-Mitarbeiter im Hintergrund sicher immer wieder prüften, ob die Geschichte schon gut war für ihre Zeitung. Gestern, ein knappes Jahr später, war es endlich soweit:

Der letzte Fotograf von Lady Di wird Berliner. ... Jetzt hat der gebürtige Peruaner, der in London lebt, eine besondere Inspirationsquelle entdeckt: die deutsche Hauptstadt. Warum? "Die Narben, die Menschen, die Szenen auf der Straße", so Testino. Im Fischerinsel-Kiez direkt an der Spree hat er sich eine alte Villa gekauft. Vielmehr einen venezianischen Palast, rund 3000 Quadratmeter groß, mit riesigem Ballsaal

Der “Bild”-Artikel beginnt mit den Worten:

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, dass DER Starfotograf nach Berlin zieht (…).

Danke an Daniel B. für den Hinweis!

Hausbesuch beim Schießbefehl

“Bild” hat in einem Berliner Hochhaus an einer Wohnungstür geklingelt, woraufhin jemand “in Unterhemd und Jogginghose” öffnete. Aber nachdem er erfahren hatte, was “Bild” von ihm wollte, “schlug er die Tür zu”. Mit anderen Worten:

"BILD fand den Mann, der den Schießbefehl gab"
Überschrift und dazugehöriger Artikel sind aber in doppelter Hinsicht grob irreführend:

1.) Die Formulierung “BILD fand” bedeutet nicht etwa, dass “Bild” recherchiert und herausgefunden hätte, wer (wie “Bild” es formuliert) “den Schießbefehl gab”. Sein Name stand schließlich unter dem Schießbefehl, seine Identität war bekannt* — und “BILD fand” bedeutet deshalb tatsächlich bloß, dass “Bild” seine Adresse ausfindig gemacht und an seiner Wohnungstür geklingelt hat.

2.) Die Formulierung “den Mann, der den Schießbefehl gab” hingegen bedeutet nicht etwa, dass der von “Bild” groß (und identifizierbar) abgebildete Mann für den DDR-Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze verantwortlich gewesen wäre. Auch, wenn “Bild” diesen Eindruck dadurch zu festigen versteht, dass es im Artikel heißt:

Seit dem Aktenfund in der Magdeburger Außenstelle der Birthler-Behörde ist bewiesen: Der DDR-Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze existierte wirklich! Jetzt ist auch klar, wer den Schießbefehl gab. Der ehemalige Hauptmann und spätere Major Wolfgang Singer (66). Das geht aus einem zweiten Dokument hervor, das in der Chemnitzer Birthler-Behörde entdeckt wurde. (…) Er ordnete 1974 an, dass an der Grenze auch auf Frauen und Kinder geschossen wird. Den Schießbefehl unterzeichnete er mit seinem Namen.

Der Schießbefehl-Hype

Am vorvergangenen Samstag veröffentlichte die Magdeburger “Volkstimme” einen Aktenfund der Birthler-Behörde, der folgende Formulierung enthielt: “Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen (…).”

Der Fund wurde zunächst von Behörde und Presse für aufsehenerregend gehalten, obwohl ein sehr ähnliches Dokument offenbar bereits seit vielen Jahren bekannt und veröffentlich worden war. (Das erwähnte auch “Bild”, ließ sich dadurch aber nicht davon abbringen, das “Dokument der abgrundtiefen Schande” auszuschlachten.) Ein weiteres Exemplar hängt anscheinend seit vielen Jahren im Info-Zentrum der Birthler-Behörde. Inzwischen hat man den Eindruck, es gebe fast täglich neue solcher Funde aus der Behörde und darüber hinaus vermutlich zahllose bislang unentdeckte.

Nun ja… Wie uns die Sprecherin der Birthler-Behörde, Ilona Schäkel, bestätigt, gibt es bisher mindestens fünf Funde, die eine ausdrückliche “Schießbefehl”-Formulierung enthalten (siehe Kasten). Die Dokumente seien jedoch teilweise “von unterschiedlichen Kompaniechefs unterzeichnet”. Bislang gibt es laut Schäkel mindestens zwei verschiedene Namen unter den “Schießbefehlen”. Zudem gilt als unwahrscheinlich, dass damals Kompaniechefs wie der “ehemalige Hauptmann und spätere Major” aus “Bild” ausdrückliche (und identisch formulierte) Schießbefehle wie den jetzt gefundenen eigenmächtig und ohne entsprechende Order erteilt haben sollten. (“Bild” selbst schrieb noch vor einer Woche über ein weiteres, nicht unterzeichnetes “Schießbefehl”-Dokument: “Nach BILD-Informationen soll es von Generalleutnant Karl Kleinjung († 2003) stammen, Chef der Hauptabteilung I des Stasi-Ministeriums.”) Und es gibt Mitarbeiter der Birthler-Behörde, die ohnehin davon ausgehen, dass in den Akten noch “hunderte solcher Befehle” lagern.

Kurzum: “Bild” fand offensichtlich nicht “den Mann, der den Schießbefehl gab”, sondern einen der Männer, die einen Einsatzbefehl unterzeichneten, der einen Schießbefehl enthielt. Als er “Bild” die Wohnungstür öffnete, trug er Unterhemd und Jogginghose.

*) “Bild” selbst schrieb am Samstag, dass der Mann, den “BILD fand”, schon mal “im Blickpunkt der Öffentlichkeit” stand. Er musste sich 2003 vor Gericht als Kommandant eines Stasi-Spezialkommandos für einen Einsatz verantworten, bei dem Michael Gartenschläger erschossen wurde. Aus der Zeit des Gerichts-Prozesses stammt auch das Foto, das “Bild” zeigt.

Nachtrag, 22.8.2007: Die Sprecherin der Bithler-Behörde bittet um Korrektur: Die uns gegebene Auskunft, die bislang gefundenen “Schießbefehle” seien teilweise “von unterschiedlichen Kompaniechefs unterzeichnet” worden, sei falsch. Es gebe, anders als die Behördensprecherin uns zunächst gesagt habe, nicht mindestens zwei verschiedene Namen unter den “Schießbefehlen”. Vielmehr seien “bisher nur Dokumente ohne Unterschrift des Kompaniechefs oder mit der Unterschrift von Kompaniechef Wolfgang Singer” gefunden worden. Schäkel bedauerte ihren Irrtum. Richtig bleibe jedoch dennoch die Annahme der Behörde, dass dieser Kompaniechef den “Schießbefehl” nicht eigenmächtig und ohne entsprechende Order erteilt haben dürfte — und insofern nicht der Mann sei, der den “DDR-Schießbefehl” gab. Und für Thomas Auerbach, den Leiter der Birthler-Außenstelle Schwerin (wo ebenfalls ein “Schießbefehl” gefunden wurde) ist der Eindruck, den die “Bild”-Zeitung mit ihrer Berichterstattung erweckt, für den Nicht-Laien geradezu lachhaft: Natürlich sei so ein Auftrag “von oben abgesichert”, so Auerbach auf Nachfrage von uns, ein Hauptmann oder Kompaniechef “saugt sich sowas nicht aus den Fingern”.

6 vor 9

“Internet bedroht Tageszeitungen”
(futurezone.orf.at)
Eine aktuelle Harvard-Studie (pdf-Datei, 157kb) zeigt, wer die Verlierer der Informationsrevolution sind. Vor allem mittlere bis kleine Tageszeitungen – unterkapitalisiert und im Internet schlecht aufgestellt – sind betroffen. Der britische Finanzinvestor Mecom kauft europaweit gerade ein Cross-Media-Imperium zusammen.

Rote Fabrik provoziert mit Nazi-Symbolen
(tagesanzeiger.ch, Isabelle Bamert und Edgar Schuler)
Ein Plakat für eine Ausstellung in der Roten Fabrik vermischt Nazi-Symbole mit den Logos von SVP und «Weltwoche». Die Urheber des Plakats wollen noch anonym bleiben.

“Irgendwann platzt die Blase”
(spiegel.de, Isabell Hülsen und Thomas Schulz)
Der frühere Sat.1-Chef Roger Schawinski über die akuten Probleme des Senders, “Heuschrecken” im TV-Geschäft und seine missglückten Versuche, mit Qualität Zuschauer anzulocken.

Kostenloser Hochglanz
(sueddeutsche.de, Viola Schenz)
Es soll weder um nackte Frauen, noch um anzügliche Witze, noch um Geld gehen – die Frage ist, wovon Großbritanniens neues Männermagazin leben will. Kosten soll es jedenfalls nichts.

Keine Gnade für Natascha Kampusch
(zeit.de, Joachim Riedl)
Über die heute 19jährige, die am 23. August des vergangenen Jahres nach achtjähriger Gefangenschaft ihrem Kellerverlies entkommen konnte, bricht jetzt erneut rücksichtsloser Medienrummel herein.

Stelleninserate 1985: Alles noch Deutsch
(blog.jacomet.ch)