Archiv für Juli 25th, 2007

Zaubern mit Bedingungen

Wenn die kleine Lisa sich richtig anstrengt und in Mathe, Physik und Chemie immer Einsen schreibt, kann sie Chirurgin werden, hat die Klassenlehrerin ihr gesagt. Lisa ist dann aber leider von der Schule geflogen, weil sie behauptete, die Lehrerin hätte von einem “Karriere-Wunder!” gesprochen und gesagt: “Lisa wird Chirurgin!” Lisa ist dann stattdessen zur “Bild”-Zeitung gegangen, wo man den Unterschied zwischen einer Prognose, die unter bestimmten Bedingungen eintritt, und einer Tatsache auch nicht kennt.

"Job-Wunder! 5 Millionen neue Stellen für Deutschland"

Die guten Nachrichten vom Arbeistmarkt reißen nicht ab! In Deutschland werden bis zum Jahr 2020 fast 5 Millionen neue Jobs entstehen — davon alleine 1 Mio. in den neuen Bundesländern. Das ist das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Die Studie des DIW, über die “Bild” heute auf der Seite 1 berichtet, gibt es tatsächlich. Und auch andere Medien schreiben darüber. Allerdings finden sich in den meisten Artikeln dazu Formulierungen, die die “5 Millionen” neuen Stellen insgesamt und die eine Million Jobs in Ostdeutschland etwas weniger unumstößlich erscheinen lassen. Da heißt es dann bei sueddeutsche.de etwa die Zahl von Stellen “könne” auf 4,6 Millionen ausgebaut werden.

In der “Rheinischen Post” heißt es:

Unter bestimmten Voraussetzungen können (…) bis zum Jahr 2020 vor allem im Dienstleistungssektor Stellen entstehen.

“Spiegel Online” schreibt:

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht die Chance auf eine Million neue Arbeitsplätze in den neuen Ländern — wenn intelligente Dienstleistungsjobs stärker gefördert werden.

Bei Reuters heißt es:

Durch die Förderung hochwertiger Dienstleistungen könnten in Ostdeutschland bis 2020 eine Million neuer Arbeitsplätze entstehen.

Und die “Lausitzer Rundschau” schreibt:

In Ostdeutschland könnten laut einer Studie bis zum Jahr 2020 gut eine Million neue Arbeitsplätze in der Dienstleistungswirtschaft geschaffen werden. Dafür müsse aber mehr in die schulische Ausbildung, in Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen investiert werden (…). Demnach können in Deutschland insgesamt bis 2020 fast fünf Millionen neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich entstehen.
(alle Hervorhebungen von uns)

Und dem hätten wir noch hinzuzufügen, dass die Voraussetzungen für das “Job-Wunder” laut der Studie “Beschäftigungspotenziale in Ostdeutschen Dienstleistungsmärkten” (pdf) außerdem noch beinhalten, dass Deutschland bis 2020 auf ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent kommen muss.

Mit Dank an Max M.

Den Wald vor lauter Kastanien

Der “Bild”-Artikel beginnt mit dem Satz:

Baum ist eigentlich Baum.

Und damit fängt das Drama schon an. Denn obwohl Baum eigentlich Baum ist, kann man doch unterscheiden zwischen kranken Bäumen und gesunden Bäumen, Kastanien-Bäumen und Linden-Bäumen, Bäumen, die sicher stehen, und Bäumen, die nicht sicher stehen.

Für “Bild” ist das, scheint’s, alles eins.

In ihrer Berliner Ausgabe erzählte sie gestern die traurige Geschichte von zwei Kastanien. Einer am Spandauer Mühlengraben, deren Schicksal niemanden interessiert und die jetzt gefällt werden soll. Und einer am Kreuzberger Landwehrkanal, für deren Rettung sogar Menschenketten gebildet wurden und die jetzt von massiven Betonklötzen vor dem Abrutschen ins Wasser geschützt wird.

“Bild”-Autorin Hildburg Bruns versteht das nicht. Und das erste, was man ihr vielleicht sagen sollte, ist, dass die “Kastanie” in Kreuzberg, die mit Betonklötzen geschützt wird, wie “Bild” sogar zeigt, keine Kastanie ist, sondern eine Linde. Es sollen zwar auch Kastanien gestützt werden, aber nicht in Kreuzberg, sondern am Corneliusufer in Tiergarten, und verwirklicht wurde das noch nicht.

“Bild” schreibt: “Krank und nicht mehr standsicher sind beide [Kastanien].” Aber die Bäume am Kreuzberger Landwehrkanal, für die so viele Menschen kämpfen, sind nicht krank; nur das Ufer, auf dem sie stehen, ist kaputt. Genau das ist der Grund für die Empörung vieler Bürger: Dass ein “Todesurteil” (“Bild”) über gesunde Bäume gefällt wurde.

Apropos fällen — “Bild” schreibt über die Folge der Proteste in Kreuzberg: “Jetzt sollen nur noch 22 abgeholzt werden!” Tatsächlich sind diese 22 Bäume aber längst abgeholzt worden: Vor knapp drei Wochen, in einer überraschenden Aktion, die in Berlin für einiges Aufsehen gesorgt und über die auch “Bild” kurz berichtet hatte.

Schließlich müsste man Frau Bruns vielleicht noch erklären, was ein Baum-Register ist. Sie schreibt über die traurige kranke Spandauer Kastanie, der niemand nachtrauert:

Sie ist im Baum-Register verzeichnet (Nr. 141) — und soll jetzt trotzdem gefällt werden.

“Trotzdem”? Bäume stehen im Baum-Register, damit man sie beobachten und gegebenenfalls auch über ihre Fällung entscheiden kann — das ist ganz normal. Ebenso wie die Fällung kranker Bäume und ebenso wie die Tatsache, dass für die Rettung kranker Bäume selten Menschen demonstrieren.

Aber natürlich nur, wenn man nicht glaubt, dass Baum Baum ist.

Mit großem Dank an Daniel B.!

6 vor 9

«Swiss shrine of freedom under fire»
(nzz.ch, sig.)
Spielt Calmy-Rey mit verdeckten Karten, wie die «Frankfurter Allgemeine» meint? Liegt die «New York Times» richtig, wenn sie das private Sponsoring einer Nationalfeier als Ausdruck des schweizerischen Staatsverständnisses bezeichnet? Und weshalb beschäftigen sich die renommiertesten Blätter der Welt mit einer Schweizer Wiese?

Journalistisches Profil nicht länger gefragt
(faz.net, Michael Hanfeld)
Als er hörte, er müsse nach dem Urlaub nicht mehr kommen, hielt er es zuerst für einen Scherz: Ein Gespräch mit Thomas Kausch, dem bisherigen Nachrichtenchef von Sat.1, den sein Sender von jetzt auf gleich seiner Pflichten enthob.

Auf die neue Tour
(taz.de, Andreas Rüttenauer)
Eurosport hat sich in der Live-Berichterstattung von der Tour de France als kritischer Begleiter des Radzirkus profiliert – mit besseren Quoten als Sat.1.

Wie das Netz die US-Politik revolutioniert
(spiegel.de, Christian Stöcker)
Der durch Youtube gefütterte Vorwahlkampf der US-Demokraten markiert einen Wendepunkt der politischen Kultur in den USA. Das Netz wird zum zentralen Ort der politischen Debatte. Einziges Manko: Diesmal noch musste das TV als Medium mithelfen.

stern.de will Spiegel Online überholen
(turi-2.blog.de, Peter Turi)
Wundertüte 2.0: Fünf bis sechs Jahre Vorsprung hat Spiegel Online vor stern.de nach Meinung von Chefredakteur Frank Thomsen. Doch jetzt will stern.de aufholen – und möglichst bald überholen. Dazu setzen Thomsen und sein Team auf zusätzliche Community-Angebote. Im großen Interview berichtet stern.de-Chefredakteur über seine Angriffspläne, über Onlinelust (schnelle Interaktion) und Onlinefrust (wichtigtuerische Techniker).

Opa – erzählst du nochmal vom Blog?
(netzeitung.de, Maik Söhler)
Die Geschichte der deutschsprachigen Weblogs. Außerdem: Google Earth hilft der Steuerfahndung & Biometrie im Irak. Der Blogblick.