Archiv für Juli 17th, 2007

Heute in “Bild”: Natascha K. (19) ganz tabulos

“Wenn ich etwas mache, was für andere
19-jährige ganz selbstverständlich ist,
muss das nicht gleich in der Zeitung stehen.”
(Natascha Kampusch im März 2007)

Nachdem die österreichische Gratiszeitung “heute” gestern mehrere Paparazzifotos von Natascha Kampusch (aufgenommen auf der Tanzfläche einer Wiener Diskothek) veröffentlicht hatte, schreibt der “Standard”, die Gratiszeitung habe “mit einem Tabu gebrochen”:

Kampuschs Wunsch, keine Privatfotos ohne ihre ausdrückliche Zustimmung veröffentlicht zu sehen nämlich. Ein Wunsch, den die jahrelang eingekerkerte Frau bei Bedarf auch mit anwaltlichem Nachdruck artikuliert.

Der “Standard”-Artikel über die Hintergründe des “heute”-Tabubruchs trägt die Überschrift:

“Das Ende der Schonzeit?”

Auch “Bild” berichtet* heute über die Kampusch-Fotos — oder sagen wir lieber: “Bild” zeigt sie (siehe Ausrisse). Und in der Überschrift ist von einer “Schonzeit” nirgends die Rede. Stattdessen heißt es:

“Nach 8 Jahren Geiselhaft hat sie jetzt richtig ins Leben zurückgefunden”

Richtig ins Leben? Oder auf Seite 1 von Europas größter Tageszeitung?

*) Es ist uns übrigens nicht ganz klar, was die “Bild”-Zeitung (wo die “heute”-Veröffentlichung mit keinem Wort erwähnt wird) eigentlich meint, wenn sie schreibt: “‘Bei dem Auserwählten’, so die Wiener Tageszeitung ‘Krone’, ‘handelt es sich angeblich um den 21-jährigen Sohn von Nataschas Anwalt Gabriel Lansky.'” In der “Krone” heißt es nämlich: “(…) bei dem Auserwählten (…) handelt es sich nach Medienberichten angeblich um…” Die Behauptung selbst stammt ursprünglich aus der Tageszeitung “Österreich”. Die österreichische “Presse” hingegen schreibt zur “Bild”-Titelgeschichte:

Weil sie sich ja alle so für sie freuen, nehmen sich die Boulevardmedien auch großzügige Interpretationen heraus. Nataschas Gesicht, “ist ein einziges seliges Lächeln”. Tatsächlich lacht Kampusch auf keinem einzigen Foto.

Mehr dazu hier.

neu  

Beinahe zurückhaltend

Am Sonntagmorgen riss ein Falschfahrer auf der A 28 bei Oldenburg in Niedersachsen in offensichtlich selbstmörderischer Absicht vier weitere Personen mit in den Tod — das war vielerorts zu lesen.

Der Pressekodex ruft bei Selbsttötung zu “Zurückhaltung” auf (Ziffer 8.5), insbesondere auch was die Identität der Opfer angeht, und tatsächlich hat sich die “Bild”-Zeitung für ihre Verhältnisse viel Mühe gegeben: Obwohl die Pressemitteilung der Polizei den Wohnort des Mannes nennt, spricht “Bild” von “einer Kreisstadt in Niedersachsen”. Der Nachname des Verstorbenen wurde abgekürzt, der Vorname seiner Ehefrau offenbar geändert, bei den Kindern werden gar keine Namen, nur die jeweiligen Alter genannt, und die Berufe des Mannes und seiner Frau sollten auch keine allzu deutlichen Identifikationsmerkmale sein.

Also alles einigermaßen ordentlich gelöst? Ja, beinahe…

Sag es treffender

Als Unbekannte vor einem Jahr in Fulda die “Jede Wahrheit braucht einen Mutigen”-Kampagne der “Bild”-Zeitung mit “Bild”-kritischen Sprechblasen beklebten, hielt man das bei “Bild” angeblich für eine “interessante Auseinandersetzung”, die das Blatt (laut osthessen-news.de) nicht weiter störe. Eine ähnliche Aktion in München verstand man bei “Bild” jedoch (laut sueddeutsche.de) als “Aufruf zur Sachbeschädigung”.

Zur Zeit werden in Fulda wieder “Bild”-Plakate nachbearbeitet*:

"Jede BILD-WERBUNG braucht einen Mutigen, der sie BEKLEBT"

*) Laut osthessen-news.de erklärte die Polizei Fulda im vergangenen Jahr, dass es natürlich verboten sei, fremdes Eigentum zu zerstören. Allerdings hätten die vorliegenden Fällen einen geringen Strafcharakter gehabt: Wenn beim Entfernen nichts kaputt gehe, handele es sich um eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden könne — andernfalls um leichte Sachbeschädigung. Ermittelt werde aber nur, wenn sich der Eigentümer gestört sehe und einen entsprechenden Antrag einreiche.

Mit Dank an Ben G. für das Foto.

Nachtrag, 18.7.2007: Osthessen-news.de hat mal bei “Bild” nachgefragt, wie man dort die aktuelle “Beklebe”-Aktion finde. Die Antwort: “einfallslos”.

Allgemein  

Sitzt er nicht!

Aus aktuellem Anlass müssen wir noch einmal auf den so genannten “Onanierer aus dem TV” zurückkommen, den die “Bild”-Zeitung im April dieses Jahres in großen Artikeln ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt hatte. Der Börsen-Analyst war wegen Exhibitionismus zu einer Geldbuße verurteilt worden und ihm waren in Folge der “Bild”-Berichterstattung offenbar diverse Arbeitsverträge gekündigt worden (wir berichteten).

"Der Onanierer aus dem TV: Jetzt sitzt er in Schönheits-Jury"Gestern war der “gefallene Börsenstar” der “Bild”-Zeitung in ihrer Frankfurter Ausgabe wieder eine Geschichte wert, weil er auf der Internationalen Anlegermesse” (IAM) neben einem “Ex-Playmate” in der Jury zur “Miss Hostess”-Wahl sitze und sich auf den neuen Job freue (siehe Ausriss). Im Text erklärt “Bild” einleitend noch einmal halbwegs detailliert, was dem Mann vorgeworfen worden war und schreibt: “Jetzt bekam [Name] ein brisantes Angebot”. Dann zitiert “Bild” mit Andreas Schmidt einen der Verantwortlichen der “Miss Hostess”-Wahl:

“Herr [Name] ist einer der besten und bekanntesten Analysten in Deutschland. Auf einer Börsenmesse ist er der richtige Mann für die Jury.”

Taktlos von einem verurteilten Exhibitionisten, sich als Jury-Mitglied bei einer Miss-Wahl zur Verfügung zu stellen, sagen Sie? Fand der “gefallene Börsenstar” auch, wie uns Andreas Schmidt bestätigt:

Wir haben ihn gefragt, aber er hat abgelehnt.

Und zwar schon vor dem “Bild”-Bericht von gestern.

Nachtrag, 18.7.2007: Der “Börsenstar” teilt uns auf Nachfrage mit, Schmidt habe “mehrere Tage” vor Erscheinen der Jury-Meldung bei ihm angefragt: “Ich habe abgelehnt, weil ich glaube, dass es bei meiner Vorgeschichte die denkbar ungünstigste Variante wäre, auf mich aufmerksam zu machen.” Von der “Bild”-Zeitung selbst habe niemand mit ihm gesprochen.

6 vor 9

Der Aufstieg des ?Bürgerjournalismus?
(novo-magazin.de, George Brock)
George Brock über Nutzen und Nachteile globaler Nachrichtenproduktion.

Ringier Schweiz bröckelt. (+)
(stoehlker.ch)
Es gibt Interviews, die man lieber nicht hätte geben sollen. Die gefährlichsten Interviewgeber sind Journalisten ohne echte Management-Erfahrung. Ein solches Beispiel liefert brandheiss Daniel Pillard, der neue Verlagschef von Ringier Schweiz, der über sein Verlagshaus auf “Persönlich.com” aussagt.

Abgeblockte Blogger
(manager-magazin.de, Stefan Schultz)
Unternehmen dürfte es künftig wohl erheblich leichter fallen, lästige Blogger loszuwerden. Das Hamburger Oberlandesgericht hat nämlich die Verwendung von Firmennamen in privaten Internetadressen verboten. Auch der bekannte Bildblog könnte Probleme bekommen.

“Ungeheures Privileg”
(epd.de)
Ein epd-Interview mit RTL-Reporterin Antonia Rados.

Alpha-Journalisten und Beta-Porträtisten
(zeitschriftenblog.de)
Ich fand es nie so schwer, ein Urteil über ein Sachbuch zu sprechen. Nun hat mir der Verlag aber kostenlos ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Also fühle ich mich verpflichtet auch etwas darüber zu schreiben.

Best of Hans Jucker
(youtube.com, Video, teilweise Dialekt, 3:22 Minuten)