Archiv für Juli 11th, 2007

“Bild” lässt Willy Brandt für sich knien

Die “Bild”-Zeitung hat nun auch Willy Brandt zur Werbefigur für sich gemacht. Sie zeigt auf ungezählten Plakatflächen das berühmte Foto, wie der Bundeskanzler am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos in Warschau kniet. Am gleichen Tag unterzeichnete die Bundesrepublik den Warschauer Vertrag, durch den die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannt und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen wurde.

Über Brandts Foto hat die “Bild”-Zeitung ihren Werbeslogan geschrieben, wonach jede Wahrheit einen Mutigen brauche, der sie ausspricht.

Es ist nicht ganz klar, was genau “Bild” in diesem Zusammenhang als “Wahrheit”* bezeichnet. Einfacher ist es, zu beschreiben, wie sie darauf kommt, von “Mut” zu reden.

Der damalige “Bild”-Chefredakteur Peter Boenisch schrieb in seiner “Bild am Sonntag”-Kolumne am Sonntag nach dem Kniefall:

"Niemand --- auch nicht Brandt --- kann die Verbrechen der Nazis wegknien."

"Und was sollen die Polen glauben? Dieses katholische Volk weiß, daß man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt sein Knie. Das rührt das Volk. Aber rührt es auch die Opfer des Stalinismus? Sie mußten knien, weil sie einen Gewehrkolben ins Kreuz bekamen."

Brandt soll auf die “Bild”-Kritik, man knie “nur vor Gott”, im kleinen Kreis mit der Frage reagiert habe:

“Woher wissen diese Schweine, vor wem ich gekniet bin?”

 
*) Der Kniefall gilt als wichtigstes Symbol für die neue Ostpolitik Willy Brandts, zu deren schärfsten Kritikern die “Bild”-Zeitung und der Axel-Springer-Verlag gehörten. Am Tag nach dem Kniefall Brandts und der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zitierte “Bild” ausführlich aus einem Artikel, den Verleger Axel Springer in der “Welt” geschrieben hatte. Er nannte das Abkommen darin “die vertragliche Preisgabe eines Viertels des zerteilten Deutschland”:

Zehn Millionen Landsleute erfuhren und erfahren den Schmerz des Verlustes ihrer Heimat. Eine Entscheidung, die einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben sollte, wird ohne jeden Zwang vorweg gefällt. Eine kommunistische Regierung wird von einer aus freien Wahlen hervorgegangenen deutschen Regierung ermächtigt, ein Stück Deutschland zu annektieren.

(…) was der Kanzler und seine Freunde für Morgenröte halten, ist die Farbe des Fahnentuches sowjetischer Imperialgewalt, die ganz Europa bedroht.

Wer dabei glücklich ist, riskiert nicht nur eigenes Unglück.

neu  

Schmerzensgeld für “Nymphomanin”

Es ist schon zwei Jahre her, und es war Sommer. Damals war gerade ein Buch erschienen, und “Bild” versprach:

“BILD druckt exklusiv die aufregendsten Kapitel.”

Die dritte der insgesamt fünf Folgen erschien unter der Überschrift “Ich stellte mich aufs Bett. Dann setzte ich mich auf sein kleines Ausrufezeichen” — und begann so:

Sex ist ihr Leben. Und Hemmungen sind ihr fremd: Valérie Tasso (35). Die ehemalige Verlagsmanagerin aus Paris, die sich selbst als “sexsüchtig” bezeichnet, schrieb das Skandalbuch des Sommers.

Danach fing Tassos Ich-Erzählung an, die sich um ein großes Nacktfoto einer wolllüstig dreinblickenden Brünette schmiegte (siehe Ausriss). Betextet war das Foto mit den Worten:

“Gleicht wirst du merken, daß du’s mit einer Französin zu tun hast”, sage ich und drehe dabei meinen Kopf zu ihm, damit er mein Gesicht sehen kann…

Dafür allerdings wurde der Verlag Axel Springer am vergangenen Donnerstag, zwei Jahre später also, vom Landgericht Kaiserslautern (2 O 970/05) zu 12.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Denn: Die barbusige Frau, die “Bild” zeigte, war nicht die ehemalige Verlagsmanagerin Valerie Tasso aus Paris, sondern eine Studentin aus Kaiserslautern — ein Symbolfoto quasi.

Die Abgebildete fand das gar nicht lustig (sondern, wie es in der Urteilsbegründung heißt, “obszön und Frauen verachtend”) — und klagte. Denn ihre Aufnahmen waren von einer Foto-Agentur nur mit dem ausdrücklichen Vermerk “Aproval Frei. Nutzung nur in einem positiven Zusammenhang!” angeboten worden. Das war auch der “Bild”-Redaktion bekannt, als sie das Foto für 200 Euro kaufte, um damit Valerie Tassos “Nymphomanin”-Text zu illustrieren.

Wie “Bild” sich vor Gericht rechtfertigte

1.) Man habe das Foto “nicht im Bereich der Pornografie genutzt, sondern der Berichterstattung über erotische Literatur und damit im Bereich der Kunst”, also “in positivem Zusammenhang”.
Das Gericht widersprach: Schamlos geschilderte “Sexerlebnisse” und “obszöne Details” seien der Frau “inhaltlich geradezu in den Mund gelegt” worden, was “die sexuelle Verfügbarkeit der Klägerin suggeriert” habe.
2.) Man könne und müsse sich “im Tagesgeschäft” auch bei Fotos auf die Informationen der Agenturen verlassen und könne nicht jedesmal nachfragen.
Das Gericht widersprach: Bei einem Buch-Abdruck hätte die Zeitung auf das OK warten können und müssen; ihr Handeln sei “fahrlässig” und “leichtfertig”.
3.) “Bild” habe sogar trotzdem von einer Mitarbeiterin der Agentur “vor der Veröffentlichung” telefonisch das Einverständnis eingeholt.
Das Gericht zweifelte: Die Mitarbeiterin der Agentur habe unwiderlegt ausgesagt, dass “Bild” erst anrief, nachdem die Klägerin sich beschwert hatte.

Als Folge der “Bild”-Veröffentlichung habe die Frau “von Albträumen berichtet sowie Schlafstörungen, Angstgefühle, Nervosität und Antriebsstörungen beklagt”, sagte ihr Arzt dem Gericht. Sie sei knapp anderthalb Jahre in psychiatrischer Behandlung gewesen.

Das Gericht urteilte, die Aufmachung des “Bild”-Artikels habe beim Leser “eindeutig den Eindruck erweckt, dass die Klägerin die in dem ‘Tagebuch’ erwähnte Nymphomanin oder eine andere Nymphomanin ist, also eine Frau mit gesteigertem Geschlechtstrieb”. Kurzum:

Die Veröffentlichung des Nacktfotos stellt eine schwer wiegende Verletzung der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Klägerin dar (…). Durch die Veröffentlichung (…) ist die Klägerin in ihrer Menschenwürde aber auch in ihrem Ansehen empfindlich herabgesetzt worden.

Prozessbeobachter vermuten jedoch, dass Springer die 12.000 Euro Schmerzensgeld nebst Zinsen und 60 Prozent der Prozesskosten nicht zahlen, sondern in Berufung gehen wird.

PS: Dass eine Rückfrage von “Bild” bei der abgebildeten Frau für den Abdruck irgendwie hilfreich gewesen wäre, ist unwahrscheinlich: Der Fotograf erklärte vor Gericht, er sei sich mit seinem Modell darüber einig gewesen, dass die Nacktfotos “auf keinen Fall in der ‘Bild’-Zeitung” veröffentlicht werden sollten…

Mit Dank auch an Tomchen und Dirk S. sowie Heinz M. und swr.de.

6 vor 9

Showdown beim “Spiegel”
(ftd.de, Lutz Meier und Katrin Elger)
Der jüngste Streit im Verlag des “Spiegel” dreht sich zwar um die TV-Tochter. Doch in Wahrheit geht es auch darum, wie lange Chefredakteur Stefan Aust noch bleibt – und was danach kommt.

Wo bleiben die Verlage?
(boersenblatt.net, Wulf D. v. Lucius)
Die Zeit, in der Informationsprodukte von wenigen für viele hergestellt wurden, wird abgelöst von einer Ära, in der die Nutzer selbst Inhalte beisteuern. Das stellt alte Geschäftsmodelle infrage.

“Ich bin jetzt verdammt betrunken”
(spiegel.de, Konrad Lischka)
Es gibt Web-Unternehmer, die plaudern in öffentlichen Netzforen über ihren Alkoholkonsum oder den Kampf gegen ihr Übergewicht – und überschreiten dabei gelegentlich die Grenze zur Selbstentblößung. Ein Jurist hat eine Firma gegründet, um peinliche Postings aus dem Web 2.0 zu löschen.

Die Pfleger des Rauchtums
(taz.de, Hendrik de Boer)
Die “Tagesthemen” senden Meinungen zum Nichtraucher-Schutzgesetz – und befragen nur Raucher und Wirte.

Mediale Gipfelstürmer
(verdi.de, Günter Frech)
Irrationales Sicherheitsbedürfnis pointiert auf?s Korn genommen.

1000 digitale Meisterwerke: Der Newsroom der Welt-Gruppe in Berlin
(normanemailer.blogspot.com)