Archiv für April 18th, 2006

“Bild” entdeckt Privatsphäre

In der Bild-Zeitung werden … häufig persönlichkeitsrechtsverletzende Beiträge veröffentlicht. Oftmals verletzen die Beiträge sogar die Intimsphäre der Betroffenen. (Landgericht Berlin, Januar 2003)

 
Sie müssen Tränen gelacht haben in der “Bild”-Redaktion, als ihnen einfiel, dass sie in einen Artikel diesen scheinbar empörten Satz schreiben können:

Es sind Aufnahmen aus dem Privatbereich, die kein Mensch von sich in der Zeitung sehen möchte.

Der Satz steht in einem “Bild”-Artikel über Fotos von Angela Merkel beim Umziehen, die britische Zeitungen veröffentlicht haben. Bestimmt lachten sie bei “Bild” noch, als sie unter einen Ausriss von dem Skandal-Artikel scheinbar fassungslos die Worte setzten:

Kein Respekt vor der Privatsphäre der Kanzlerin.

Und als sie das Zitat des stellvertretenden Regierungssprechers einbauten:

“Auch die Bundeskanzlerin und ihr Mann haben ein Recht auf Privatsphäre!”

Vielleicht haben auch Günther Jauch und Anke Engelke Tränen gelacht, Gregor Gysi und die Frau von Joschka Fischer und all die anderen bekannten und unbekannten Menschen, die erst vor Gericht ziehen mussten und müssen, um gegenüber der “Bild”-Zeitung ihr Recht auf Privatsphäre durchzusetzen.

Ganz besonders hat bestimmt Sabine Christiansen gelacht, die gerade juristisch gegen die “Bild”-Zeitung vorgeht, weil sie in den vergangenen Wochen mehrmals Fotos aus ihrem Privatleben veröffentlicht hat. Dabei hatte die Fernsehmoderatorin im vergangenen Jahr eine einstweilige Verfügung gegen die Axel Springer AG erwirkt, die es dem Verlag untersagen, “Bildnisse aus dem privaten Alltag” Christiansens zu verbreiten. (Springer hat dagegen Rechtsmittel eingelegt.)

Vielleicht hat auch Angela Merkel selbst gelacht, weil sie in der vergangenen Woche fast an jedem Tag ihres Privaturlaubs in Italien mit Fotos in der “Bild”-Zeitung war. Einige davon waren so, dass die “Bild am Sonntag” sie zum Anlass für eine staatspolitische Grundsatzdiskussion nahm, ob eine Kanzlerin denn im Urlaub so herumlaufen dürfe.

Aber zurück zur empörten “Bild”-Zeitung von heute. Die hat mit ihrer Empörung ja Recht: Zeitungen dürfen keine Bilder aus der Privatsphäre von Prominenten verbreiten, solange es kein begründetes öffentliches Interesse daran gibt. Das betrifft die Merkelschen Urlaubsfotos, die “Bild” veröffentlicht hat (und Bild.de praktischerweise gleich in dem Empörungs-Artikel verlinkt hat), ebenso wie die Urlaubsfotos aus den britischen Blättern. Verboten ist nach dem “Caroline-Urteil” des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beides.

Es sei denn, Merkel hätte der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt, als einer Art Homestory “Die Merkels in Italien”. Aber was hat “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann nach dem “Caroline”-Urteil noch dem “Focus” gesagt? Seine Zeitung werde “auf jedwede Art von Homestorys über Politiker verzichten”. Um beim Leser “von vornherein jeden Anschein vermeiden, wir würden mit eingebauter Schere im Kopf nur noch Hofberichterstattung betreiben”.

Hm. Entweder hat “Bild” also mit der Veröffentlichung der Merkelschen Urlaubsfotos gegen geltendes Recht verstoßen oder gegen den eigenen Vorsatz, sich nicht zu Hofberichterstattern machen zu lassen.

Außer- und Unterirdisches

1995 machte eine Dokumentation Furore, die angeblich zeigte, wie 1947 in Roswell ein Außerirdischer obduziert wird. Vor einigen Tagen hat der Brite John Humphreys zugegeben, dass der vermeintliche Außerirdische eine von ihm gebastelte Puppe war.

Die “Bild”-Zeitung nimmt das zum Anlass, ihre eigene Experimentreihe fortzusetzen, auf kleinstmöglichem Raum eine überirdisch große Zahl von Fehlern unterzubringen. Sie schreibt über den Alien-Film:

Erst 1995 hat ihn der englische Webdesigner John Humphreys in seiner Wohnung in London produziert. Der Mann hat u. a. “Max Headroom” erfunden, die erste computeranimierte Werbefigur (u. a. für T-Mobile).

1. John Humphreys ist kein “Webdesigner”, sondern ein Bildhauer und Special-Effect-Experte bei Film und Fernsehen.

2. Max Headroom ist nicht “computeranimiert”. Die Figur wurde von dem Schauspieler Matt Frewer gespielt, der eine Maske trug.

3. Max Headroom war eigentlich keine Werbefigur, sondern Moderator einer Chart-Show und Protagonist eines britischen Fernsehfilms und einer amerikanischen Science-Fiction-Serie. Aber wie viele erfolgreiche Fernsehstars bekam er in der Folge auch Werbeaufträge, u.a. für Coca Cola.

4. Max Headroom war nie die Werbefigur für ein deutsches Telekommunikations-Unternehmen. “Bild” verwechselt ihn mit Robert T-Online — angesichts der Ähnlichkeit der beiden ein naheliegender Fehler, aber doch ein Fehler.

5. Weder Max Headroom noch Robert T-Online haben je für T-Mobile geworben. “Bild” meint T-Online.

Und als Bonusfehler nennt “Bild” den Bildhauer und Spezialeffektmann John Humphreys im Bildtext “Werber”.

Vielen Dank an Alex Z., Michael S. und Andreas N.!

Robin Hood für ganz Arme V

Eigentlich gehören wir ja nicht zu denjenigen, die hinterher sagen, sie hätten es ja gleich gewusst, aber: Die “Bild”-Anzeige gegen die sogenannten “Renten-Lügner” bleibt ohne Folgen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil der Staatsanwalt weder den Tatbestand der Untreue noch den des Betrugs erfüllt sah. Das war zwar absehbar, hindert “Bild” aber natürlich nicht daran, einen Seite-1-Aufmacher daraus zu machen:

Und mal abgesehen davon, dass es wohl eigentlich heißen müsste, “Justiz schockt ‘Bild’-Leser”, ist auch der Einleitungstext irreführend:

Die Begründung des Oberstaatsanwaltes ist ein Schock für Millionen Arbeitnehmer: Es gibt keinen Anspruch auf Auszahlung der eingezahlten Beträge!

Das ist erstens eine ziemlich verkürzte Darstellung, und zweitens dürfte das nur ein Schock für die sein, die keine Ahnung davon haben, wie das deutsche Rentensystem organisiert ist. Zu denen scheint auch Paul C. Martin zu gehören, der sich in seinem Kommentar mit dem Thema auseinandersetzt. Weil Oberstaatsanwalt Karl-Heinz Dalheimer in seiner Begründung, die “Bild” in Auszügen abdruckt, einmal das Wort “Chance” benutzt, meint Martin nun, die deutsche Altersversorgung sei “endgültig zur Lotterie verkommen”:

Auch dort hat jeder eine Chance auf künftige Zahlung.

Das ist natürlich völliger Humbug. Wie auch Martin wissen muss. Die vollständige Passage mit der “Chance” liest sich nämlich in Dalheimers Schriftsatz so:

Mit der Entrichtung des Rentenbeitrags erwirkt der Versicherte (…) nur eine Anwartschaft oder Chance auf eine künftige Rentenzahlung. Dabei ist rechtlich nicht die Höhe der Rente geschützt, sondern nur der Anspruch als Sicherungsobjekt an sich steht fest.

Wer in die Rentenkasse einzahlt, erwirbt also, anders als ein Lotterie-Teilnehmer, eine Anwartschaft und folglich einen Anspruch auf eine künftige Rentenzahlung.

Und “Bild” hat noch andere Passagen in der Einstellungsverfügung gefunden, die sie in ihrem Sinne auslegt:

Aber: In ihrer schriftlichen Begründung geht die Berliner Staatsanwaltschaft mit den Renten-Versprechen der Politiker hammerhart ins Gericht!

Oberstaatsanwalt Karl-Heinz Dalheimer rügt, daß das von BILD “beanstandete Verhalten der für die Rentenproblematik Verantwortlichen aus der Sicht des Bürgers in mancherlei Hinsicht beanstandenswert und diskussionswürdig sein mag.”

Die Justiz zeigt also Verständnis dafür, daß Millionen Renten-Beitragszahler wütend sind, daß ihnen bei der staatlichen Rente nicht die Wahrheit gesagt wird!

Lässt man probehalber mal alles weg, was “Bild” hier vor und nach dem Dalheimer-Zitat schreibt, bleibt plötzlich nur noch ein Satz übrig, der gar nicht mal so “hammerhart”, sondern eher diplomatisch formuliert ist. Er “rügt” auch niemanden und drückt definitiv kein Verständnis dafür aus, dass Renten-Beitragszahler wütend seien, weil ihnen bei der staatlichen Rente “nicht die Wahrheit gesagt” werde. Aber es spielt ja ohnehin überhaupt keine Rolle. Das von “Bild” angeleierte Verfahren wurde eingestellt.

Und so bleibt von der “Bild”-Anzeige letzten Endes nur folgende, magere und wenig überraschende Erkenntnis:

Soll heißen: Es verstößt zwar nicht gegen Gesetze, Bürger und Beitragszahler bei der gesetzlichen Rente im unklaren zu lassen. Aber unser Rentensystem ist eindeutig reformbedürftig.

Und um das herauszufinden, musste “Bild” tatsächlich erst die Staatsanwaltschaft bemühen?