Als SPD-Chef Franz Müntefering um 18.28 Uhr Bundestags-Neuwahlen ankündigte, übertrug nur der Privat-Sender RTL dieses Ereignis live. Die gebührenfinanzierten ARD und ZDF verschnarchten die politische Sensation, brachten erst später Zusammenfassungen.
BILD meint: Mit den Öffentlich-rechtlichen pennen Sie in der ersten Reihe!
Nein, so war es nicht. Das mit dem Verschnarchen stimmt zwar, passierte aber auch RTL. Müntefering begann seine Rede — wie “Süddeutsche Zeitung” und “Berliner Zeitung” berichten — nämlich schon um 18.20 Uhr, und die entscheidenden Worte sagte er um 18.24 Uhr. Live zu sehen waren sie weder bei ARD und ZDF noch bei RTL. Erst um 18.28 Uhr schaltete der Sender zu seinem Berliner Korrespondenten, der dann erklärte, was gerade passiert war.
Und diese Minutenzählerei könnte einem natürlich völlig egal sein, wenn hinter dem Fehler von “Bild” nicht System stünde: Wenn es darum geht, auf die Öffentlich-Rechtlichen zu schimpfen, nimmt “Bild” es einfach mit der Wahrheit nicht so genau (vgl. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier oder hier).
“Bild” ist eine sehr moralische Zeitung. Sie hat Wertevorstellungen, die man teilen kann – aber nicht muss. Das ist so.
Im vergangenen Sommer berichtete “Bild” über die 14-jährige Anne, die von zuhause auszog, um mit ihrem 42-jährigen Freund zusammenzuleben. Die Mutter war verzweifelt, “Bild” witterte einen Skandal und berichtete mehrere Tage empört über Details des Falls. Während “Bild” berichtete, kehrte Anne zu ihrer Mutter zurück. “Bild” schien zufrieden, der Skandal beendet.
Bis zum vergangenen Montag. “Bild” fand heraus, dass Anne, inzwischen 15 Jahre, zu ihrem Freund zurückgekehrt ist und fragte:
“Was treibt die kleine Anne (15) nur immer wieder in die Arme dieses tätowierten Liebesmonsters? Und warum unternehmen die Behörden nichts? Es ist ein Skandal.”
“Bild” schrieb weiter, der 42-Jährige hätte Anne “geschlagen, geschwängert, die Jugend geraubt”. Weder Polizei noch Jugendamt würden etwas dagegen unternehmen:
“Die Polizei ist machtlos. (…) Das Jugendamt gibt auf.”
Am Dienstag schilderte “Bild” die Situation unter der Überschrift “Warum stoppt keiner diese verbotene Liebe?” noch drastischer:
“Die kleine Anne wurde von ihrem Liebhaber Manfred W. geschlagen und geschwängert, sie muß seinen kleinen Sohn Justin (19 Monate) großziehen, putzt für ihn, geht kaum noch zur Schule (…). Die Behörden reden sich raus, berufen sich auf ihre Vorschriften.”
Außerdem fragte die Zeitung:
“Warum tut die Polizei eigentlich nichts? Sex zwischen einem Erwachsenen und einer 15jährigen ist laut Paragraph 182 verboten.”
Das stimmt nicht. Entgegen der Auffassung von “Bild” verbietet Paragraph 182, Abs. 2 den Geschlechtsverkehr zwischen Jugendlichen und Personen über 21 Jahren nicht grundsätzlich, sondern nur dann, wenn der Erwachsene “die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt”.
Weder die Staatsanwaltschaft Cottbus noch das zuständige Jugendamt gehen davon aus, dass das in diesem Fall passiert ist. Wie die Staatsanwaltschaft bestätigt, war der 42-Jährige zwar wegen Missbrauchs der 15-Jährigen im vergangenen Jahr angezeigt worden. Anne bestritt den Missbrauch: Sie habe freilwillig mit dem Mann geschlafen. Das Verfahren wurde eingestellt.
Marion Losehand vom zuständigen Jugendamt sagt, es gebe keine Möglichkeit, Anne dazu zu zwingen, sich von ihrem Freund fernzuhalten, auch wenn das die Mutter gerne sähe. Das Jugendamt stehe mehrmals monatlich in Kontakt mit Anne, ihrer Mutter und dem 42-Jährigen. Es gebe kein Indiz dafür, dass Anne gezwungen werde, bei dem Mann zu bleiben. Sie hat sich offenbar aus freiem Willen dazu entschieden.
Man kann damit – wie “Bild” – nicht einverstanden sein, gesetzlich “verboten” – wie “Bild” behauptet – ist daran aber nichts.
Das ist das eine. Das andere ist, dass “Bild” den Eindruck erweckt, sie wäre im Gegensatz zu den Behörden an Annes Wohlergehen interessiert. Der Zeitung macht es aber nichts aus, umfassend über Anne zu berichten, in ihrer Privatsphäre herumzuschnüffeln, sie beim Einkaufen auf der Straße zu fotografieren, das Foto anderntags in der Zeitung abzudrucken und die Situation für die 15-Jährige damit noch zu verkomplizieren – bereits zum zweiten Mal.
Dass sich inzwischen nicht nur “Bild”-Reporter, sondern auch das Fernsehen für Annes private Angelegenheit interessiert, “tut dem Fall nicht gerade gut”, so Losebach vom Jugendamt.
Vielleicht sollte die 15-Jährige tatsächlich mal in Schutz genommen werden. Fragt sich bloß, vor wem alles.
Anlässlich der deutschen Pleite beim Eurovision Song Contest veröffentlichte die “Bild”-Zeitung am Montag — wie berichtet — einen Artikel, der über viele, viele Zeilen Klischees über Ausländer verbreitete. Er lief darauf hinaus, dass die Deutschen im Grunde für alle in Europa zahlen, und sich die Polen, Rumänen, Spanier, Türken, die von uns leben, nicht einmal mit Dankbarkeit und Punkten beim Grand-Prix revanchieren.
Der Autor Hauke Brost fühlt sich missverstanden. Er hält sein Stück für offensichtliche “Satire”. Im Gästebuch auf seiner Homepage schreibt er:
Leute, es war ein satirischer Beitrag, wie er oft in BILD stattfindet, und ich stehe voll dazu. Aber man muß BILD natürlich lesen, um solche Feinheiten mitzukriegen.
Heute veröffentlicht die “Bild”-Zeitung vier Leserbriefe zu Brosts Text. Einer davon lautet:
Noch nie hat mir ein Artikel in BILD so aus der Seele gesprochen. Kompliment an Hauke Brost für diese gnadenlos ehrlichen Zeilen.
Der zweite ist kürzer:
Dieser Artikel wird bei uns eingerahmt!
Der dritte geht wörtlich so:
Sie haben vielen Lesern die Augen geöffnet. Die Deutschen sind nicht ausländerfeindlich. Aber die 0 Points sind deutschfeindlich.
Tja, da haben offenbar nicht nur viele “Bild”-Leser die angeblichen “Feinheiten” übersehen, sondern auch die Leserbriefredaktion der “Bild”-Zeitung, sonst hätte sie nicht ausgerechnet Briefe zum Abdruck ausgewählt, die den Text nach Aussage des Autors komplett missverstanden haben.
P.S.: Der vierte Leserbrief, den “Bild” veröffentlicht, ist anders. Ein gewisser “Markus Maria Profitlich, Hamburg” schreibt:
In der Online-Redaktion von “Bild” wird sehr, sehr verlässlich gearbeitet: Kaum haben die Kollegen der Printausgabe eine brandheiße Geschichte im Blatt, steht der Aufreger auch schon online.
Heute zum Beispiel der “Krieg der Schumis”, den “Bild” ausruft, weil sich die Schumacher-Brüder beim Formel-1-Rennen in Monaco am vergangenen Sonntag in die Quere kamen und nun Ralf Schumachers Frau Cora der “Bild”-Zeitung ein paar halbwegs druckfähige Zitate dazu geliefert hat (“lebensgefährlich…”, “unnötig und gefährlich…”).
Dabei sind sie bei “Bild” womöglich mit dem Alter der “starken Frau” etwas durcheinander geraten. Auf der Titelseite steht:
Im Text schreibt “Bild” hingegen:
Und im Beitrag neben Coras Foto steht:
Und weil in der Online-Redaktion von “Bild” so unglaublich verlässlich gearbeitet wird, haben die Redakteure bei Bild.de ohne mit der Wimper zu zucken einfach alle drei Altersangaben in die Internetversion des Beitrags übernommen: eine in den Teaser, eine in den Text, eine in die Bildunterschrift.
Dank an Mischa B. für den sachdienlichen Hinweis.
Nachtrag, 12.25 Uhr: Inzwischen hat man sich bei Bild.de für die goldene Mitte entschieden, die Altersangabe im Teaser korrigiert und sie in der Bildunterschrift herausgenommen. Cora Schumacher ist 28.