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Kurz korrigiert (511)

Und wurde nicht Chalid Scheich Mohammed von Deutschlands Lieblings-Menschenrechtler Obama 183 Mal mit der Wasserfolter behandelt und lebt immer noch?

… fragt Bundesrichter a. D. Thomas Fischer in seinem gestern bei “Spiegel Online” erschienenen Text.

Nein, das Waterboarding im Verhör von Chalid Scheich Mohammed durch die CIA fand nicht während der Präsidentschaft von Barack Obama statt. Obama war es, der als US-Präsident im April 2009 interne Papiere des Geheimdienstes veröffentlichte, die unter anderem belegten, dass Chalid Scheich Mohammed 183 Mal durch Waterboarding, also das simulierte Ertrinken, gefoltert wurde. Das Ganze fand, wie man unter anderem bei “Spiegel Online” nachlesen kann, im März 2003 statt. Damals war George W. Bush Präsident der Vereinigten Staaten. Dessen Nachfolger Obama ordnete noch im ersten Monat seiner ersten Amtszeit ein Verbot von Waterboarding und weiteren Foltermethoden an.

In den Kommentaren unter dem sonst lesenswerten Text von Fischer zum “rechtsstaatlichen Desaster um Sami A.” haben recht früh Nutzer auf den Fehler hingewiesen. Passiert ist nichts.

Mit Dank an Florian R. für den Hinweis!

Nachtrag, 23. August: In den Kommentaren unter Thomas Fischers Artikel hat jemand auf Leser-Kritik geantwortet, der laut Usernamen Thomas Fischer ist. Er geht dort auch auf den Vorwurf zum 183-fachen Waterboarding ein — einen eigenen Fehler kann der Autor aber offenbar nicht erkennen:

Mit “Obama” ist natürlich das System Guantanamo gemeint, wo der Scheich mutmaßlich immer noch lebt.

“natürlich”.

Aber auch das ergibt nicht so richtig Sinn. Abgesehen davon, dass das 183-fache Waterboarding nicht in Guantanamo, sondern in einem CIA-Gefängnis in Polen stattgefunden haben soll, bleibt es dabei, dass Barack Obama zur Zeit der von Fischer angesprochenen Folter gegen Chalid Scheich Mohammed noch längst nicht im Amt war.

Mit Dank an @Fotobiene und Anonym für die Hinweise!

Nachtrag 2, 23. August: “Spiegel Online” hat den Satz aus dem Text gestrichen und am Ende des Artikels — im Sinne der Transparenz — diese Anmerkung veröffentlicht:

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Chalid Scheich Mohammed sei während der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama 183 Mal der Wasserfolter unterzogen worden. Tatsächlich geschah dies 2003 in der Amtszeit von George W. Bush.

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Die Gedanken sind frei, nur bei Julian Reichelt sind sie strafbar

Manchmal ist “Bild”-Chef Julian Reichelt auch zuvorkommend. Denn eigentlich hätten wir zu seinem besorgniserregenden Tweet von gestern Abend erstmal den passenden Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch raussuchen müssen, um ihm die Falschheit seiner Überlegungen zeigen zu können. Reichelt war aber so freundlich, diesen Paragrafen, der ihm widerspricht, als vermeintliches Argument selbst mitzuliefern:

Screenshot eines Tweets von Bild-Chef Julian Reichelt - Es ist besorgniserregend, wie verbreitet die Lesart ist, terroristische Planspiele (oder Träume von Gefährdern in der Diktion der FAS) wären erlaubt und vom deutschen Rechtsstaat geschützt. Dazu ein Link zu Paragraf 89a Strafgesetzbuch

Natürlich sind “‘Träume’ von Gefährdern” vom deutschen Rechtsstaat geschützt, wie Träume jeder anderen Person vom deutschen Rechtsstaat geschützt sind. Das zeigt auch Paragraf 89a des Strafgesetzbuchs, den Reichelt in seinem Tweet verlinkt und der ziemlich klar regelt, wann es sich um eine strafbare “Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat” handelt. In Absatz 2 steht dazu:

Absatz 1 ist nur anzuwenden, wenn der Täter eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, indem er

1. eine andere Person unterweist oder sich unterweisen lässt in der Herstellung von oder im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Spreng- oder Brandvorrichtungen, Kernbrenn- oder sonstigen radioaktiven Stoffen, Stoffen, die Gift enthalten oder hervorbringen können, anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung einer der in Absatz 1 genannten Straftaten dienen,

2. Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überlässt oder

3. Gegenstände oder Stoffe sich verschafft oder verwahrt, die für die Herstellung von Waffen, Stoffen oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art wesentlich sind.

Das Träumen von einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat wird in dem Paragrafen, den Julian Reichelt zum Beweis der Strafbarkeit vom Träumen von einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat anführt, nicht erwähnt.

Nach der Reicheltschen Selbstwiderlegung bleiben noch die “terroristischen Planspiele”, von denen er schreibt. Diesen Ausdruck hat allerdings nicht eine andere Person in die Debatte eingebracht, sondern Reichelt selbst.

Harald Staun schrieb in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” mit Bezug auf einen Reichelt-Text, der am vergangenen Freitag in “Bild” erschienen ist:

Besonders schlimm aber findet Reichelt das bekannte Dilemma, dass der Rechtsstaat auch jene schützt, die ihn verachten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen. Er schützt auch jene Menschen, die “das Bier in der Kneipe und die Bikinis an den Stränden” verachten, seien es Weintrinker, Kulturtouristen oder Islamisten. Und er verbietet nicht einmal, davon zu träumen, Busse, Bahnen oder Verlagshäuser in die Luft zu sprengen. Doch einen Rechtsstaat, der nicht schon böse Absichten bestraft, würde Reichelt gerne abschaffen

Reichelt ärgerte sich bei Twitter über Stauns Text und wandelte dabei innerhalb von zwei Sätzen das Träumen in “Planspiele” um:

Screenshot eines Tweets von Bild-Chef Julian Reichelt - Die FAS würdigt heute die Freiheit von Gefährdern, davon zu träumen, Verlagshäuser in die Luft zu sprengen. Ich glaube nicht, dass terroristische Planspiele von Gefährdern vom Rechtsstaat geschützt sind.

Nur haben Harald Staun und die “FAS” nie von “Planspielen” gesprochen — diese Umdeutung stammt allein von Julian Reichelt.

In den Antworten auf seinen Tweet von gestern versuchen andere Twitter-Nutzer, Julian Reichelt zu erklären, was bei seinen Überlegungen alles schiefläuft. Aber ob ihn überhaupt interessiert, was für einen Unsinn er verzapft?

Von “Bild” vermittelter Eindruck vom “Bamf-Skandal” “täuscht offenbar”

Der Bamf-Skandal hat Deutschland wochenlang in Atem gehalten: Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird gepfuscht, vielen Flüchtlingen wird der Schutzstatus in Deutschland gewährt, obwohl er ihnen nicht zusteht? So lauteten die Schlagzeilen.

Jetzt stellt sich heraus: Dieser Eindruck täuscht offenbar

Das schreibt Bild.de heute:

Screenshot Bild.de - Nur wenige Flüchtlinge haben Bleiberecht erschlichen - Wende im Bamf-Skandal

Die Redaktion bezieht sich dabei auf einen Artikel der “Süddeutschen Zeitung”, die berichtet, dass von den etwa 43.000 abgeschlossenen Prüfverfahren im ersten Halbjahr 2018 lediglich 307 dazu führten, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) “den Geflüchteten den bereits gewährten Schutzstatus wieder entzog.” Also: Nur in 0,7 Prozent der untersuchten Fälle musste das Bamf eine positive Entscheidung revidieren. Bei den anderen 99,3 Prozent war der positive Bescheid korrekt.

Dass der “Bamf-Skandal” Deutschland “wochenlang in Atem gehalten” habe, wie Bild.de es heute schreibt, ist eine interessante Zusammenfassung. Eigentlich müsste es heißen: Die Angelegenheit hat Teile Deutschlands wochenlang wutschnaubend von Behördenversagen, unfassbarem Betrug und mafiösen Strukturen beim Bamf schreien lassen — alles, ohne Prüfungen wie die nun abgeschlossene abzuwarten. Ganz vorn dabei bei dieser Empörung: die “Bild”-Medien.

Heinz Buschkowsky, der frühere Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, durfte in “Bild” und bei Bild.de beispielsweise davon schwadronieren, dass es sich bei den Bamf-Missständen um “organisierte Kriminalität” handele. Die “Bild”-Chefreporter Peter Tiede und Hans-Jörg Vehlewald fragten in “Bild”: “Leben wir eigentlich in einer BAMFNANEN-Republik?” Und dann gab es noch, neben vielen weiteren Artikeln, diese “Bild”-Titelgeschichte:

Ausriss Bild-Zeitung -Seit 2000 - Asyl-Behörde ließ 46 Islamisten ins Land!

Im Blatt klang das alles ähnlich beunruhigend:

Ausriss Bild-Zeitung -Asylbehörde Bamf ließ 46 Islamisten ins Land! Ein Ermittler zu Bild: Die Liste wird noch länger werden

Oben bedrohliche ISIS-Kämpfer, unten die düstere Prophezeiung, dazu die Schlagzeile auf Seite 1 mit Ausrufezeichen. Und im Text:

Im dramatischen Asyl-Chaos in der Bremer BAMF-Außenstelle kommt nun auch noch heraus: Seit dem Jahr 2000 haben in der Skandal-Behörde mindestens 115 “nachrichtendienstlich relevante Personen” einen Schutzstatus in Deutschland erhalten!

Darunter sollen auch 46 Islamisten sein, bei denen nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um “terroristische Gefährder” handele.

Jaja, das kann “nicht ausgeschlossen werden” — wenn man im Sinne einer knalligen und verkaufsträchtigen Titelgeschichte die Prüfung des Verfassungsschutzes nicht abwarten möchte. Dort hat man nämlich 18.000 Personen, die von der Bremer Bamf-Außenstelle seit dem Jahr 2000 Asyl erteilt bekommen haben, überprüft. Ergebnis: ein Gefährder, wie das WDR-Magazin “Monitor” berichtet.

Tatsächlich tauche in einer Antwort des Bundesinnenministeriums auch die Zahl 46 auf. Allerdings handele es sich dabei um sogenannte “Kontakt- und Umfeldpersonen”, die bei der Prüfung aufgefallen seien. Das können auch völlig unbescholtene Geschwister, Eltern, Geschäftspartner, sogar Nachbarn sein.

Bild.de versetzt Tochter an Tatort

In Offenburg soll gestern ein Mann einen Arzt in dessen Praxis mit einem Messer erstochen haben. Bei Bild.de erzählten sie auf der Startseite diese falsche Geschichte dazu:

Screenshot Bild.de - 26-Jähriger tötet Hausarzt mit Messer - Tochter (10) war dabei, als ihr Vater in der Praxis starb

Der vermeintliche Umstand, dass die Tochter vor Ort gewesen ist, macht den ohnehin schon dramatischen Fall noch dramatischer. Das findet auch Bild.de-Autorin Stephanie Keber:

Am Donnerstagmorgen stürmte ein Mann (26) in eine Hausarztpraxis in Offenburg (Baden-Württemberg), tötete einen Mediziner und dessen Assistentin mit einem Messer. Schrecklich: Die Tochter (10) des Arztes war dabei, als ihr Vater in den Räumen der Praxis starb.

Dass auch die Assistentin getötet wurde, stimmt nicht — sie wurde verletzt und musste ins Krankenhaus. Diese Stelle hat Bild.de inzwischen korrigiert.

Doch zurück zu der Tochter. Dass die ebenfalls in der Praxis gewesen sein soll, berichteten auch anderen Medien. Darunter “Focus Online”:

Screenshot Focus Online - Sie rief noch Papa! Mann ersticht Arzt in Offenburger Praxis - zehnjährige Tochter sieht Drama mit an

HNA.de:

Screenshot HNA.de - Angriff ohne Vorwarnung - Messerattacke in Offenburg: Arzt vor seiner Tochter (10) getötet - Haftbefehl erlassen

Merkur.de:

Screenshot Merkur.de - Messerattacke in Offenburg: Arzt vor seiner Tochter (10) getötet - Haftbefehl erlassen

Sie alle beziehen sich dabei auf die “Bild”-Medien.

Da der mutmaßliche Täter aus dem Ausland stammt, interessiert sich auch die AfD für den Fall. Ein Landtagsabgeordneter der Partei startete noch gestern einen Demo-Aufruf, unter anderem mit der Behauptung:

Anlass ist der feige Mord […] an einem deutschen Arzt vor den Augen seiner 10-jährigen Tochter

Woher die Partei die Information mit der Tochter hat, wird nicht direkt klar. Da aber nur Bild.de und die von Bild.de abschreibenden Redaktionen dieses Detail erwähnten, dürfte auch die AfD es von dort haben.

Das Portal “Baden online” berichtet heute* von der Pressekonferenz der zuständigen Staatsanwaltschaft. Dort ging es auch um die angebliche Anwesenheit der Tochter:

Entgegen diverser Berichte hat die Staatsanwaltschaft keine Hinweise darauf, dass sich Familienangehörige während der Tat in der Praxis aufgehalten haben, sagte [Staatsanwaltschaftsleiter] Schäfer. Unter anderem die AfD Ortenau behauptet auf einem Flyer, dass der Arzt vor den Augen seiner Tochter getötet worden sein soll. Das war den Ermittlern zufolge nicht so.

Mit Dank an Fabian für den Hinweis!

*Nachtrag, 18. August: “Baden online” hat den verlinkten Beitrag in der Zwischenzeit überarbeitet. Daher findet man die oben zitierte Passage nicht mehr in dem Artikel. Stattdessen heißt es dort nun:

Falsch waren Medienberichte und Kommentare in den sozialen Medien, denen zufolge die zehnjährige Tochter des Hausarztes die Tat beobachtet haben soll. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tat unter den Augen eines Angehörigen stattgefunden habe, betonte Schäfer. Tatsächlich scheint sich das Kind aber in unmittelbarer Nähe des Tatorts befunden zu haben.

“Bild” zum Fall Sami A.: Populismus statt Aufklärung

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat gestern entschieden: Sami A., vor gut einem Monat nach Tunesien abgeschoben, muss zurück nach Deutschland geholt werden.

In der “Bild”-Ausgabe von heute und bei Bild.de ist dazu ein Kommentar der gesamten Redaktion erschienen:

Ausriss Bild-Zeitung - Das meint Bild - Propaganda-Fest für Radikale

Darin heißt es unter anderem:

In über einem Jahr hat die Bundesregierung es nicht geschafft, einen Mechanismus zu schaffen, um Terroristen wie Sami A. rechtssicher in ihre Heimat zurückzuschicken.

Ein Land, das diejenigen, die es auslöschen und mit Terror überziehen wollen, jahrelang auf Kosten der Steuerzahler aushält, dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet ausfliegt und dann auf Kosten der Steuerzahler im Privatjet wieder zurückholt, damit sie hier wieder — vom Steuerzahler bezahlt — ihr Unwesen treiben können, das gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt. Und dieses Land heißt Deutschland.

Natürlich gelte im Rechtsstaat Deutschland das letzte Wort der Gerichte, natürlich müsse dieser Staat dem Urteil im Fall Sami A. folgen. Doch:

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Osama bin Ladens Leibwächter bald wieder deutschen Boden betreten und umgehend seinen Antrag auf Hartz IV stellen wird. Ein Propaganda-Fest für alle Radikalen im Land, das Merkel, ihr Innenminister Horst Seehofer und der zuständige Minister in NRW zu verantworten haben.

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt. (…)

Wenn Sami A. zurückkehrt, kann man das durchaus als Sieg des Rechtsstaats bezeichnen. Aber auch als schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates. All die Versprechen, dass Deutschland Gefährder, Kriminelle, Vorbestrafte bald konsequent abschieben wird, kann kein Mensch mehr ernsthaft glauben.

Es gehört schon ein bisschen Aufwand und Wille dazu, den eigenen Leserinnen und Lesern Urteile von Gerichten, die viele Leute vielleicht nicht verstehen können oder wollen, zu erklären. Bei den “Bild”-Medien gibt es diesen Willen offenbar nicht. Stattdessen hohlen Populismus und falsche Fakten.

Die Redaktion erklärt den Vorgang zu einer “schrecklichen Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates”. Dabei ist die Rückholung — ob sie nun wirklich stattfinden oder an der tunesischen Staatsanwaltschaft scheitern wird, die noch gegen Sami A. ermittelt — das genaue Gegenteil davon. Der Vorgang zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert, auch wenn ihn manch einer auszutricksen versucht. Er zeigt, dass Gerichte unabhängig entscheiden, auch wenn Politiker öffentlich Druck ausüben. Und er zeigt, dass der Rechtsstaat für alle gilt, auch für jene, die als Gefährder geführt werden, auch für jene, die die “Bild”-Redaktion als “Terroristen” bezeichnet, obwohl sie mindestens rechtlich gesehen keine sind.

Genau das müsste man den Leserinnen und Lesern erklären: Dass der Rechtsstaat für jeden gilt; dass jeder das gleiche Recht auf einen fairen Prozess hat, unabhängig von politischer Einstellung und Ideologie, und egal wie unliebsam die jeweilige Person sein mag.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass sich die Stärke eines Staates auch darin zeigt, wie er mit seinen Feinden umgeht: Ob er ihnen dieselben Rechte und Verfahren zugesteht wie allen anderen; dass es dabei unerheblich sein muss, wer die politische Macht gerade innehat.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass es im Interesse jeder Bürgerin und jedes Bürgers ist, dass das genau so bleibt; dass es für jeden nur Vorteile hat, wenn Gerichte unabhängig und nur auf Grundlage des Gesetzes entscheiden; dass Behörden und Ministerien sich nicht einfach über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen können; und dass es zu solchen Entscheidungen wie der des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster kommt, wenn sie es doch tun.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass die Entscheidung des OVG nicht bedeutet, dass Sami A. in Zukunft nicht abgeschoben werden kann; dass es darum auch gar nicht ging; dass sein Asylantrag weiter als abgelehnt gilt, dass aber auch weiterhin ein Abschiebeverbot besteht; dass es in der Entscheidung des OVG auch nicht darum ging, ob Sami A. gefährlich ist oder nicht, ob er Leibwächter Osama bin Ladens war oder nicht, ob er Terrorist ist oder nicht oder ob ihm im Falle einer Abschiebung Folter droht; dass es um die Fragen ging, ob die Abschiebung rechtswidrig war, ob Behörden einem Gericht Informationen vorenthalten und ob sie sich über eine Gerichtsentscheidung hinweggesetzt haben.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass bisher eine Abschiebung unter anderem auch daran gescheitert ist, dass es noch immer keine offizielle Zusicherung aus Tunesien gibt, dass Sami A. dort nicht gefoltert wird; dass die einzige Aussage in diese Richtung vom tunesischen Minister für Menschenrechte stammt, erschienen in “Bild”; dass das dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen verständlicherweise nicht als Zusicherung reichte.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass Sami A. kein verurteilter Terrorist ist; dass Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingestellt wurden, weil die Ergebnisse dieser Ermittlungen nicht für eine Anklageerhebung reichten.

Man müsste den Leserinnen und Lesern erklären, dass nicht endgültig bewiesen ist, dass Sami A. Leibwächter Osama bin Ladens war; dass dieser Vorwurf vor allem auf der Aussage eines anderen Mannes beruht, bei dem Ermittler schon früh Zweifel hatten, ob seine Geschichte in allen Punkten stimmt.

Vielleicht interessieren sich die “Bild”-Leute auch deswegen nicht für eine solche Aufklärung der eigenen Leserschaft, weil sie mit ihrer Berichterstattung der vergangenen Monate Beteiligte sind. Mit dem Druck, den ihre Schlagzeilen auf Politiker und Behörden ausübten, sorgten auch sie dafür, dass der Fall Sami A. für alle so groß wurde, dass derart überstürzt gehandelt wurde.

Statt aufzuklären, schreiben die “Bild”-Medien dann Sätze wie diesen:

“Das Land, das Terroristen zurückholt” — diesen Wahlkampfslogan bekommt die AfD in Bayern von der Bundesregierung geschenkt.

Genau genommen ist es natürlich nicht die Bundesregierung, die der AfD den Wahlkampfslogan mit dem falschen “Terroristen” schenkt, sondern “Bild”. Und es sind die “Bild”-Mitarbeiter, die das alles als “Propaganda-Fest für Radikale” bezeichnen.

Welche “Radikalen” meinen sie damit? Jene, die die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster für ihre Stimmungsmache als “schreckliche Niederlage für die Handlungsfähigkeit unseres Staates” auslegen? Das macht die Redaktion ja schon selbst.

Mit Dank an Johannes K. und Thomas für die Hinweise!

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Der Retweet-Gesinnungsfuror des selbstgerechten Julian Reichelt

Aus der beliebten Reihe “Die gelenkige Selbstgerechtigkeit des Julian Reichelt”: Wirft man dem “Bild”-Chef vor, dass er einen rechten Hetzaccount kommentarlos retweetet hat, fragt Reichelt: “Seit wann sind denn bitte Retweets gleich politische Unterstützungsbekundungen?”:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Seit wann sind denn bitte Retweets gleich politische Unterstützungsbekundungen? Ich verstehe nicht, wieso Zitierungen hier gleich solche Wutwellen auslösen. Zitieren muss erlaubt sein, ohne dass gleich ein Gesinnungsnachweis beigefügt werden muss.

Die Kritik an einem Retweet (RT) sei laut Reichelt “schrecklicher RT-Gesinnungsfuror”:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Meine Position ist, dass mein Retweet nichts mit der Person zu tun hat, dass ich in keiner Verbindung stehe und keine Agenda unterstütze. Herr Gensing sollte schlicht seine Sicht auf Feine Sahne Fischfilet erläutern. Der Screenshot wirft nunmal Fragen auf. Und dieser RT-Gesinnungsfuror ist schrecklich.

Retweetet hingegen “FAZ”-Journalist Patrick Bahners ein Gedicht des Satiremagazins “Titanic” über Sami A., in dem es unter anderem darum geht, dass der Tunesier doch mit einem Flugzeug ins Axel-Springer-Hochhaus fliegen könnte, will Julian Reichelt nichts mehr wissen von “Seit wann sind denn bitte Retweets gleich politische Unterstützungsbekundungen?” Keine Spur mehr davon, “dass mein Retweet nichts mit der Person zu tun hat, dass ich in keiner Verbindung stehe und keine Agenda unterstütze.” Und “zitieren muss erlaubt sein, ohne dass gleich ein Gesinnungsnachweis beigefügt werden muss”? Pah!

Für Reichelt ist Bahners Retweet nichts weniger als Propaganda für den Massenmord an Journalisten:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Unter dem Deckmantel der Satire propagiert FAZ-Kollege Patrick Bahners den Massenmord an Journalisten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Ja, schlimm. Aber Nutella könnte für uns bald günstiger werden

Wenn 2016 starke Waldbrände in Spanien, in Frankreich, in Portugal, in Griechenland, auf Madeira und auf den Kanaren Menschenleben bedrohen, deren Häuser und Existenzgrundlagen zerstört werden, Personen in Krankenhäuser müssen, manche von ihnen sterben, dann titeln die Empathiker von Bild.de:

Screenshot Bild.de - Hier fackelt unser Urlaub ab - Waldbrände lodern auf Madeira, den Kanaren, in Frankreich, Spanien, Portugal

Wenn ein Jahr später in Griechenland, in Italien, in Kroatien, in Frankreich, in Portugal und in Montenegro ebenfallas verheerende Brände wüten, Menschen ums Leben kommen, andere alles verlieren, dann schreiben sie bei Bild.de:

Screenshot Bild.de - Waldbrände in Italien, Kroatien Frankreich - Hilfe, unser Urlaub brennt - Sind Sie auch betroffen? Schicken Sie uns Ihre Urlaubsfotos aus der Flammenhölle

Und wenn aktuell in der Türkei die Währung abrauscht, die Lira heftig an Wert verliert, die Leute weniger für ihr Geld bekommen, Läden dichtmachen müssen, Menschen Jobs verlieren, einige nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, dann fragen sie bei Bild.de:

Ausriss Bild.de - Die Folgen des Lira-Absturzes für Deutschland - Macht Türkei-Krise unser Nutella billiger? Und warum Sie jetzt nicht All inclusive buchen sollten

Wie “Bild” mit einer Vorverurteilung den Rechtsstaat in Verruf bringt

Es gibt ihn noch. Ernst Elitz, vor eineinhalb Jahren von “Bild”-Chef Julian Reichelt als Ombudsmann eingesetzt, als Anwalt für die Leserinnen und Leser, ist noch immer im Amt. Nach wie vor scheint er sich eher als Anwalt der Redaktion zu sehen und verteidigt die “Bild”-Medien gegen kritische Zuschriften aus der Leserschaft, aber manchmal findet selbst Elitz, dass “Bild” und/oder Bild.de was falsch gemacht haben. Vor gut zwei Wochen schrieb er:

Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch der Hinweis des Lesers Alexander Neu.

Die Sendung “Hart aber fair” hatte eine offizielle Kriminalstatistik über “tatverdächtige” Ausländer präsentiert. Der Leser kritisiert zu Recht, dass im BILD-Bericht über die Sendung der Eindruck erweckt wurde, es handle sich um eine Statistik bereits verurteilter Täter. Das war sie nicht!

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Hört, hört!

Es ist aber schon etwas niedlich, dass jemand in “Bild” und bei Bild.de ernsthaft mahnt, man solle Tatverdächtige nicht als überführte Kriminelle darstellen; in den zwei Medien, die seit jeher wie keine anderen Tatverdächtige als überführte Kriminelle darstellen.

Das aktuellste Beispiel dieser redaktionellen Leidenschaft: Sami A.

Über den Tunesier wurde in den vergangenen Wochen viel geschrieben und diskutiert. Bei Bild.de unter anderem mit dieser Schlagzeile aus dem Juli:

Screenshot Bild.de - Abschiebe-Skandal! Juristisches Tauziehen um Ex-Leibwächter von Osama bin Laden - Kommt Terrorist Sami A. jetzt zurück nach Deutschland?
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Das Problem dabei: Sami A. ist kein Terrorist. Jedenfalls wurde er nie als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Oder wie Ombudsmann Elitz sagen würde:

Nicht jeder, der unter Verdacht steht, ist schon ein überführter Krimineller. Gerade bei einem politisch so brisanten Thema muss korrektes Zitieren erstes Gebot sein.

Die Berichterstattung der “Bild”-Redaktion zum Fall von Sami A., die man wohlwollend als schlampig und ungenau bezeichnen kann und weniger wohlwollend als böswillig falsch, ist gleich doppelt problematisch: Sie erklärt einen Mann zum Terroristen, der rechtlich gesehen keiner ist. Und vielleicht noch schlimmer: Sie hinterlässt bei der Leserschaft den falschen Eindruck, dass der Staat überlegt, einen verurteilten Terroristen nach Deutschland zurückzuholen. Die daraus resultierende (unberechtigte) Verachtung für Behörden und Gerichte kann man in den Facebook-Kommentaren zum “Terrorist”-Artikel bestens beobachten:

Bitte bitte nicht! Ein Terrorisrt und Mörder oll zurückgeholt werden! Seit ihr jetzt alle komplett durchgeknallt oder habt ihr schlechte Drogen erwischt!

Je mehr Verbrechen du als Migrant begehst und je mehr einer weltweit gejagt wird, desto mehr klammert sich dieser Staat an seine Terroristen.

Jeden Tag kann man sehen warum man Heute die AFD eigentlich schon wählen muss: Alle anderen Parteien hofieren Verbrecher und Terroristen.

Wie kommen andere Länder nur auf die Idee, Deutschland würde Terroristen willkommen heißen. Kann ich ja so gaaaar nicht nachvollziehen.

Das Theater signalisiert allen Terroristen auf der Welt — in D kannst du sicher und vollversorgt auf Kosten Anderer, deinen wohl verdienten Terror Lebensabend geniessen….

Überall wird Terrorismus bekämpft und in Deutschland holt man ihn sich rein….Ganz sauber im Oberstübchen sind wohl hier viele Amtsinhaber nicht mehr.

Jetzt kämpft das Gericht in Gelsenkirchen darum, das der arme Traumatisierte Terrorist sofort wieder an die Sozialtöpfe nach Deutschland zurückkehren kann. Dieser Irrsinn ist nicht mehr zu verstehen.

Natürlich versteht man als nur halbinformierter “Bild”-Leser die Welt und vor allem deutsche Behörden und Gerichte und die Regierung nicht mehr, wenn scheinbar ein Terrorist “jetzt zurück nach Deutschland” kommen soll, und kommentiert bei Facebook wütend drauf los. Dass diese Empörung auf falschen Tatsachen beruht, ist auch “Bild” zu verdanken.

Sami A. kommt 1997 als Student nach Deutschland. 2006 stellt er einen Asylantrag, der 2007 abgelehnt wird. 2010 entscheidet ein Verwaltungsgericht, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, weil ihm in Tunesien unter anderem Folter drohe. 2014 widerruft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dieses Abschiebungsverbot, weil in Tunesien ein Regimewechsel stattgefunden hat. 2016 entscheidet ein Verwaltungsgericht erneut, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, da ihm in Tunesien noch immer “mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” drohe. Ein Oberverwaltungsgericht bestätigt diese Entscheidung 2017. Am 13. Juli dieses Jahres wird Sami A. doch nach Tunesien abgeschoben, obwohl einen Tag zuvor ein Verwaltungsgericht erneut entschied, dass er dorthin nicht abgeschoben werden darf. Der Mann kam in Tunesien direkt ins Gefängnis. Nun wird diskutiert, ob Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Bei “Spiegel Online” gibt es eine detaillierte Chronologie.

Mittendrin in diesem Hin und Her, ab März 2006, gibt es Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Sami A. wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll um die Jahrtausendwende mehrere Monate im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan gewesen sein und dort eine militärische Ausbildung der Terrororganisation al-Qaida durchlaufen haben. Anschließend soll er zum Mitglied der Leibgarde Osama bin Ladens aufgestiegen sein. Sami A. bestreitet all das. Das Verfahren gegen ihn wird im Jahr 2007 eingestellt, da die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklageerhebung reichen.

Sami A. ist also kein verurteilter Terrorist. Ihm wurde auch nie von einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht nachgewiesen, Leibwächter Osama bin Ladens gewesen zu sein. Er ist laut Behörden ein islamistischer Gefährder.

Einen Mann, gegen den wegen Mordes ermittelt wird, kann man auch nicht einfach Mörder nennen, wenn die Ermittlungen mangels Beweisen eingestellt werden. Wer es trotzdem macht, hat nichts übrig für den Rechtsstaat und das Prinzip der Unschuldsvermutung. Und wer es so penetrant macht wie die “Bild”-Redaktion, gibt diese Justizverachtung an die eigene Leserschaft weiter.

Nur ein paar Beispiele:

Screenshot Bild.de - Ex-Leibwächter von Osama bin Laden abgeschoben!
Ausriss Bild-Zeitung - Gericht entscheidet zwölf Stunden nach Abschiebung - Bin Ladens Leibwächter muss zurück nach Deutschland!
Ausriss Bild-Zeitung - Schon wieder grobe Fehler beim Abschieben - Nach Bin Ladens Leibwächter soll erneut ein Asylbewerber nach Deutschland zurückgeholt werden
Screenshot Bild.de - Bin-Laden-Leibwächter Sami A. nach Tunesien gebracht. Jetzt soll er zurück
Ausriss Bild-Zeitung - Abschiebung von Bin Ladens Leibwächter - Wer hat Schuld am Chaos?
Screenshot Bild.de - Abschiebung des Bin-Laden-Leibwächters - Dieser Anwalt will Sami A. nach Deutschland zurückbringen
Screenshot Bild.de - Sami A. ist das Sinnbild für den Abschiebe-Irrsinn - Kein Fall mehr für deutsche Gerichte - Bin Ladens Ex-Leibwächter wurde endlich abgeschoben - Anwältin des Terror-Gefährders: Er muss mit Visum zurück

“Bild” veröffentlichte auch eine Art Interview mit Sami A. “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer hatte dem Anwalt des Tunesiers Fragen mitgegeben. Sami A. antwortete unter anderen:

“Ich war nie Leibwächter von Osama bin Laden, das ist völlig frei erfunden. Ich war in Saudi-Arabien, Pakistan und Iran in meinem Leben, aber nie in Afghanistan. Auch hier in Tunesien wissen alle, dass diese Vorwürfe einfach nicht stimmen.”

Dass es doch so war, dass die “Bild”-Berichterstattung der vergangenen Wochen und Monate also nicht in einem wichtigen Punkt falsch war — dazu liefern “Bild” und Ronzheimer nicht einen Beweis.

Ende Juli gab es dann gleich zwei größere Überraschungen: Sami A. wurde in Tunesien aus der Haft entlassen, und Bild.de schrieb auf einmal:

Screenshot Bild.de - Breaking News - Mutmaßlicher von Osama bin Laden: Sami A. in Tunesien vorläufig wieder frei

Das Wort “mutmaßlicher” war aber wohl doch nur ein Ausrutscher. Kurz darauf ging es bei “Bild” und Bild.de mit der gewohnten Missachtung der Unschuldsvermutung weiter.

“Bild” verunsachlicht Kindergeld-Debatte mit falschen Zahlen

“Bild”-Chefreporter Peter Hell hat einen Bulgaren gefunden, der den Leserinnen und Lesern mal erklärt, wieso das mit den deutschen Sozialleistungen für EU-Bürger aus Sicht eines Bulgaren eine ganz einfache Rechnung ist:

Screenshot Bild.de - EU-Ausländer stauben Kindergeld ab - Ein Bulgare erzählt, warum er nach Deutschland kam

Blöderweise nutzt er dafür allerdings falsche Zahlen. Und die “Bild”-Medien verbreiten sie weiter:

Einer, der aufgrund der lukrativen Sozialleistungen aus Plovdiv (Bulgarien) mit dem Bus vor acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland reiste, ist Ricky* (20, Name geändert). BILD traf den Bulgaren, seine zwei Geschwister und Eltern in ihrer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung (70 qm) in Dortmund. Zwei Jahre arbeitete Ricky als Koch. Aktuell lebt die gesamte Familie von Sozialleistungen.

Ricky rechnet gegenüber BILD vor: “In Bulgarien bekommst du 7 bis 8 Euro Kindergeld und 15 Euro Arbeitslosengeld pro Monat. In Deutschland ist das besser. Hier sind es fast 200 Euro pro Person. Eine Familie mit drei, vier Kindern kommt auf fast 800 Euro. Die Miete und der Strom werden uns mit 600 Euro auch bezahlt. Außerdem bekomme ich Arbeitslosengeld. Deshalb ist Deutschland für mich das beste Land.”

Erstmal: Wenn Ricky heute 20 ist und vor acht Jahren nach Dortmund kam, dürfte es ausgesprochen unwahrscheinlich sein, dass er als 12-Jähriger auf die Idee kam, sich aufgrund deutscher Sozialleistungen nach Deutschland aufzumachen, wie Bild.de in der Überschrift behauptet. Die Initiative dürfte wohl eher von Rickys Eltern ausgegangen sein.

Dann: Wenn Ricky zwei Jahre als Koch gearbeitet hat, wird er vermutlich in die Sozialkassen eingezahlt haben. Dass er daraus nun Arbeitslosengeld bekommt, ist erstmal nur fair.

Aber vor allem: Leider hat Ricky keine besonders große Ahnung von den Sozialleistungen in Bulgarien. Und leider hat “Bild”-Chefreporter Peter Hell kein besonders großes Interesse an Fakten.

“7 bis 8 Euro Kindergeld und 15 Euro Arbeitslosengeld pro Monat” in Bulgarien — da wird selbst der letzte Stammtischler sagen: “Ist ja klar, dass die zu uns kommen und hier was abstauben wollen!” Nur sind die Zahlen falsch.

Eine bulgarische Familie mit einem Kind bekommt aktuell 40 Lew pro Monat, mit zwei Kindern insgesamt 90 Lew, mit drei Kinder 135 Lew, mit vier Kinder 145 Lew. Für jedes weitere Kind gibt es 20 zusätzliche Lew. Zwei bulgarische Lew sind in etwa ein Euro. Also: 20 Euro für ein Kind, 72,50 Euro für vier Kinder. Das ist, verglichen mit den monatlich rund 200 Euro Kindergeld in Deutschland, immer noch wenig. Aber eben deutlich mehr als von Ricky in den “Bild”-Medien behauptet.

Noch viel weiter entfernt von den tatsächlichen Zahlen ist Rickys Angabe zum Arbeitslosengeld. In Bulgarien hat jeder darauf einen Anspruch, der in mindestens neun der 15 Monate vor der Arbeitslosigkeit in den staatlichen Arbeitslosenfonds eingezahlt hat. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem durchschnittlichen Nettolohn der vorangegangenen 24 Monate und beträgt 60 Prozent davon. Es gibt allerdings einen Mindestbetrag: Für 2018 liegt dieser bei 9 Lew, also 4,50 Euro — pro Tag. Und nicht, wie von Ricky in “Bild” behauptet, bei 15 Euro pro Monat. Der Höchstbetrag liegt bei 74,29 Lew beziehungsweise 37,15 Euro täglich. Das monatliche Arbeitslosengeld beträgt in Bulgarien bei 30 Tagen im Monat also zwischen 135 Euro und 1114,50 Euro. Wer bis zu drei Jahre in den Arbeitslosenfonds eingezahlt hat, hat vier Monate lang Anspruch auf Arbeitslosengeld; wer über zwölf Jahre eingezahlt hat, hat Anspruch auf zwölf Monate Arbeitslosengeld.

Daneben gibt es in Bulgarien auch eine Sozialhilfe. Der Staat unterscheidet bei der Festlegung der Höhe, je nach Lebenssituation: Eine Alleinerziehende bekommt einen anderen Betrag als ein Rentner. Grundsätzlich orientiert sich die Sozialhilfe aber am monatlichen garantierten Mindesteinkommen von 75 Lew, also 37,50 Euro.

Die “Bild”-Redaktion hat sich mal wieder große Mühe gegeben, eine Debatte möglichst zu verunsachlichen.

Mit Dank an Björn S. für den Hinweis!

Im Namen des Volkszorns

Es ist schwierig mit der “Bild”-Redaktion und dem Rechtsstaat. Der heutige Kommentar im Blatt handelt vom Urteil im Prozess gegen eine Mutter, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten den eigenen Sohn missbraucht und an Pädophile verkauft hat. “Bild”-Ressortleiter Christian Stenzel schreibt:

Ausriss Bild-Zeitung - Kein Urteil im Namen des Volkes

Was muss man in Deutschland tun, um nicht mehr aus dem Gefängnis herauszukommen?

Seit gestern wissen wir: Als Mutter den eigenen Sohn zu missbrauchen und an Kinderschänder aus ganz Europa zu verhökern, reicht nicht. Es wird nicht einmal die Höchststrafe verhängt.

15 Jahre Haft wären laut Gesetz möglich gewesen. Nur 12 Jahre hat die Horror-Mutter von Staufen bekommen. Die Milde des Richters mag vom Gesetz gedeckt sein — wütend macht sie trotzdem. Aus drei Gründen besonders.

1.) Zugutegehalten wird Berrin T., dass sie ein zögerliches Geständnis abgelegt hat. Leugnen hätte sie aber auch kaum können — sie hat den Missbrauch selbst auf Film festgehalten!

2.) Die Horror-Mutter ist nicht vorbestraft.

Rechtlich ist sie vielleicht eine Ersttäterin. Doch kann jemand nach dem gesunden Menschenverstand ein Ersttäter sein, der sein Kind 19-fach missbraucht? Sie konnte ja auch nicht zuvor verurteilt werden. Warum nicht? Weil Jugendämter gepennt haben, ersten Hinweisen auf Missbrauch nicht nachgegangen sind.

3.) Sicherungsverwahrung war laut Gesetz nicht möglich, Wiederholungsgefahr bestünde auch nicht.

Der Gesetzgeber sollte darüber nachdenken, ob das Gesetz für Fälle wie in Staufen angepasst werden muss.

Wer tat, was Berrin T. tat, sollte das Gefängnis nie wieder verlassen dürfen. Ich bin kein Richter. Aber ich bin sicher: Das Urteil von Freiburg ist kein Urteil im Namen des Volkes.

“Bild”-Chef Julian Reichelt hat Stenzels Kommentar komplett bei Twitter gepostet und dazu wiederholt:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Die Täterin von Staufen hat nicht einmal die Höchststrafe bekommen. Sie habe ein Recht auf Resozialisierung, so der Richter. Wenn unsere Gesetze es nicht hergeben, solche Menschen für immer wegzusperren, sollte die Politik die Gesetze ändern.

Ja, der Missbrauch macht wütend. Und man kann sich definitiv darüber wundern, dass das Freiburger Landgericht darauf verzichtet hat, gegen Berrin T. die Höchststrafe von 15 Jahren zu verhängen, die für den besonders schweren Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgesehen ist. In seiner Urteilsbegründung nannte der Vorsitzende Richter Gründe, die zur Strafmilderung führten, darunter das abgelegte Geständnis. Dennoch kann man sich der Frage anschließen, die Heribert Prantl bei Süddeutsche.de stellt:

Wann, wenn nicht in diesem Fall, soll denn bitte die Höchststrafe verhängt werden?

Einen wichtigen Punkt erwähnen Stenzel in seinem Kommentar und Reichelt in seinem Kommentar zum Kommentar interessanterweise überhaupt nicht: Im Prozess von Freiburg wurde jemand “für immer weggesperrt”, die Gesetze geben es also bereits her. Der Lebensgefährte von Berrin T., der ebenfalls angeklagt war, bekam zwölf Jahre Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der Unterschied zwischen den beiden Angeklagten: Der Lebensgefährte war bereits vorbestraft wegen sexuellen Missbrauchs. Das Gericht entschied daher, dass von ihm als Wiederholungstäter auch weiter eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Für Berrin T. hingegen hat ein Gutachter festgelegt, dass sie nicht pädophil veranlagt sei. Daher sehe man keine Wiederholungsgefahr. Ihr stehe unter anderem deswegen die Chance auf Resozialisierung zu.

Wofür plädiert Christian Stenzel stattdessen in seinem Kommentar? Ein Strafmaß nach dem “gesunden Menschenverstand”? Gesetze und Urteile dem wutgeladenen Bauch nach? “Im Namen des Volkes” heißt nicht: im Namen des Volkszorns.

Aber noch mal zurück zur Resozialisierung: Dass die im Fall von Berrin T. kaum klappen wird, dafür wird die “Bild”-Redaktion schon sorgen, so, wie sie häufig dafür sorgt, dass die Resozialisierung von Straftätern nicht klappt. Sie legt damit heute schon los, indem sie die verurteilte Frau, anders als viele andere Medien, im Blatt und online ohne Verpixelung zeigt.

Wer in Deutschland ein Recht auf Resozialisierung hat, entscheidet laut “Bild” immer noch “Bild” und nicht so ein Pillepalle-Verein wie ein Gericht.

Ach, und eine Bitte noch, Christian Stenzel und “Bild”: Überlegen Sie doch mal, ob Ihnen nicht ein anderer Begriff als das unsägliche Wort “Kinderschänder” einfällt. Warum das im Sinne der Opfer dieser schrecklichen Taten ist, können Sie hier nachlesen.

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