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Wie wird so einer zum Sex-Monster?

Für die Redakteure von “Bild” ist es schwer hinnehmbar, dass auch Menschen, die schlimme Dinge getan haben, Rechte haben. Menschenrechte zum Beispiel.

Im vergangenen Dezember wurde ein Krankenpfleger aus Berlin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern verhaftet. In seiner Wohnung fand die Polizei Filmaufnahmen, die ihn bei den Taten zeigen. In der Untersuchungshaft unternahm der Mann einen Selbstmordversuch und trennte sich einen Hoden ab. In einem Abschiedsbrief bereute er seine Taten und entschuldigte sich dafür.

All das schrieb “Bild” am 22. Dezember in der Regionalausgabe Berlin/Brandenburg. Dann muss der Redaktion aufgefallen sein, dass die eigene Berichterstattung viel zu sachlich war.

Deshalb sah die Berichterstattung am nächsten Tag ein bisschen anders (man könnte auch sagen: “Bild”-typischer) aus:

Wie wird so einer zum Sex-Monster?

In der Berliner Ausgabe prangte ein großformatiges Foto des Tatverdächtigen, in der riesigen Überschrift fragte “Bild” “Wie wird so einer zum Sex-Monster?”

Der Bruder des mutmaßlichen Täters, der seit dessen Selbstmordversuch dessen vorläufiger Betreuer ist, ging Anfang Januar mit anwaltlicher Hilfe gegen die Berichterstattung vor und forderte die Axel Springer AG auf, die Verbreitung der privaten Fotos zu unterlassen. Springer lehnte mit der Begründung ab, es bestehe ein “außerordentliches Berichtsinteresse der Öffentlichkeit” und die Taten seien besonders verwerflich.

Am 11. Januar erließ das Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung, die “Bild” verbietet, weiterhin Fotos zu verbreiten, auf denen der Mann erkennbar abgebildet ist. Gegen diese einstweilige Verfügung zog die Axel Springer AG vor Gericht — verlor aber überwiegend.

Dabei hatten sich die Springer-Anwälte so eine schöne Begründung zurechtgelegt, warum “Bild” auf diese Weise berichten dürfe: Der Mann sei “zweifelsfrei” der Täter, dem die schwer kranken Kinder hilflos ausgeliefert gewesen seien. Weil er seine Stellung als Pfleger auf einer Intensivstation ausgenutzt haben soll, bestehe ein “erhebliches öffentliches Interesse” an seiner Person, eine Berichterstattung mit Foto sei wegen der “Schwere und der Art der Begehung” dieser Taten auch zulässig.

Sogar den Selbstmordversuch wertet “Bild” als Grund für ihre Berichterstattung: Er stelle wegen der Selbstverstümmelung einen “ebenfalls ganz außergewöhnlich brutalen Zerstörungsakt” dar, weshalb von einem herausragenden zeitgeschichtlichen Ereignis zu sprechen sei. Und dass “Bild” ein Foto des Mannes zeigen konnte, sei der ja quasi selbst schuld: Er habe das Bild ja selbst auf der Internetseite StudiVZ “für alle registrierten Nutzer öffentlich gemacht”.

Das Landgericht Berlin bestätigte die einstweilige Verfügung “im Tenor”. In seiner sehr differenzierten Urteilsbegründung (PDF) erklärt das Gericht, die erste Berichterstattung von “Bild” sei nicht zu beanstanden, wohl aber die weiteren Artikel:

Bereits in der großformatigen Überschrift wird der Antragsteller (“so einer”) nicht als Mensch sondern als “Sex-Monster” bezeichnet. Der Artikel enthält wenig objektive Information, stattdessen verschiedene reißerische Textpassagen (“Wie wird so einer zum Sex-Monster”, “ER IST EIN MONSTER. DAS HABE ICH NICHT ERKANNT”, “Es war offenbar die Maske eines Perversen.”), die über ein bloßes boulevardmäßiges Zuspitzen von Tatsachen hinausgehen.

Die Angst des mutmaßlichen Täters, er könne anhand der Fotos identifiziert und durch die Berichterstattung zum Opfer gewalttätiger Übergriffe werden, erschien dem Gericht “nicht völlig abwegig”. Die Veröffentlichung des Fotos sei daher nicht zulässig gewesen.

Auch bei der Berichterstattung in der Bundesausgabe hätte “Bild” auf ein Foto verzichten müssen:

Die dem Antragsteller zur Last gelegten Taten werden nicht als Vorwurf sondern als feststehende Tatsachen dargestellt. Im Übrigen wird auf einen bereits erfolgten Bericht der Zeitung verwiesen. Einerseits sind Artikel und Foto insgesamt klein gehalten. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Artikel in Bezug auf den Antragsteller keine neue sachbezogene Information enthält, die das erneute Abdrucken des Fotos rechtfertigen könnte.

Unmissverständlich äußert sich das Gericht zu der bei “Bild” so beliebten “Quelle” Soziale Netzwerke:

Eine Einwilligung des Antragstellers in die Verbreitung der Bilder liegt nicht vor. Unbeachtlich ist, ob der Antragsteller mit der Verbreitung seines Bildnisses gegenüber dem begrenzten Kreis der Nutzer von “studiVZ” einverstanden war. Hier geht es um eine Veröffentlichung von Bildern in einer Zeitung im Zusammenhang mit dem Vorwurf schwerer Straftaten.

Mit Hilfe seines Anwalts Ulrich Dost hat der Mann auch einstweilige Verfügungen gegen die “B.Z.” und den “Berliner Kurier” erwirkt. Der “Kurier” hatte über mehrere Tage das Foto des Tatverdächtigen gezeigt und ihn als “Sex-Bestie” bezeichnet, einmal sogar auf der Titelseite. Das Berliner Landgericht hat auch die einstweilige Verfügung gegen den “Berliner Kurier” bestätigt.

In beiden Fällen sind die Urteile noch nicht rechtskräftig, da die unterlegenen Boulevardzeitungen in Berufung gegangen sind.

Star Wars Kid forever!

Der Fall des “Star Wars Kid” ist ein Lehrstück für neue Öffentlichkeiten. Ein gestohlenes, peinliches Video wird 2003 auf Youtube ins Internet hochgeladen und wird unerwartet zum Klickerfolg. Unzählige Überarbeitungen folgen, das Medium “Webvideo” zeigt sein volles Potenzial. Millionen sehen und amüsieren sich über die unbeholfenen Versuche eines dicklichen Jungen aus Kanada, einen Lichtschwert-Kampf nachzuspielen.

Doch dieses Internet-Mem hatte auch eine Schattenseite, wie die Online-Ausgabe des “Standard” weiß:

Vielmehr verfiel der damals dreizehnjährige Kanadier in Depressionen und musste in eine psychiatrische Anstalt für Kinder. Daraufhin klagten seine Eltern 250.000 US-Dollar bei den Familien jener ehemaligen drei Klassenkameraden erfolgreich ein. Die Urteilsbegründung: Ghyslain musste, und muss auch heute noch, Belustigung und Spott durch seine High-School-Freunde und die Öffentlichkeit in großem Ausmaß ertragen.

Und was zeigt der Standard direkt darunter? Genau – das Video, das das Trauma ausgelöst hat. Ist halt zu drollig, da interessieren Persönlichkeitsrechte einfach nicht. Und wenn “Techcrunch”, “Huffington Post” und “Slashdot” den vollen Namen, Universität und Arbeitgeber des Medienopfers ohne jeden Anlass publizieren – warum sollte man in Österreich darauf verzichten?

Bild  

Hamburger Räuberlauf fällt aus

“Bild” hat manchmal ein paar Probleme mit dem Verständnis des deutschen Justizsystems. Oder mit der deutschen Sprache.

Wenn die Überschrift beispielsweise

Justiz-Skandal: Richter lässt Räuber laufen

lautet, muss das nicht zwangsläufig heißen, dass irgendwo ein Räuber freigesprochen wurde. Es kann auch bedeuten, dass ein Dieb 20 Monate Haft auf Bewährung erhalten hat.

Im konkreten Fall ging es vor dem Hamburger Amtsgericht um einen Wachmann, der einen kaputten Tresor bewachen sollte, diesen aber stattdessen leer räumte, mit einem Taxi nach Österreich fuhr und die Beute von 107.600 Euro dort im Spielcasino verspielte.

Im Text wird aus dem “Räuber” dann immerhin wieder ein Dieb:

Jetzt stand der 22-Jährige wegen Diebstahls vor Gericht, ihm drohten bis zu 10 Jahre Haft.

Zum “Justizskandal” wird der Fall laut “Bild”, weil der Richter, den “Bild” mit Foto und Namensnennung gleich an den Pranger stellt, bei der Urteilsbegründung folgendes gesagt haben soll:

“Wenn ich mir angucke, dass Manager Schäden in Millionenhöhe verursachen und frei herumlaufen, sehe ich nicht ein, warum ich dann auf den kleinen Mann einhauen soll.”

Das Schwesterblatt “Welt” zitiert den Richter etwas anders:

Sein Argument: “Wenn bekannte Manager, die um Millionen betrügen, mit Bewährung davonkommen, dann muss man auch diesem jungen Mann Bewährung zugestehen.”

In der “Welt” erfährt man auch, dass der Angeklagte vor Gericht Reue zeigte, dass “der Staatsanwalt” (“Bild”) offenbar eine “junge Staatsanwältin” war, und dass der Richter in seiner Urteilsbegründung auf einen weiteren Aspekt eingegangen ist:

Eine Rüge verpasste der Richter der Wachdienst-Firma, die Mirnes H. beschäftigt hatte: “Es ist eine grobe Fahrlässigkeit, einen jungen Mann, der gerade erst eingestellt wurde, ganz allein mit der Bewachung eines defekten Tresors zu betrauen.”

Mit Dank an Sarah K.

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“Bild” macht Mann zum “Kinderschänder”

Bei der “Bild”-Zeitung ist die Meinung weit verbreitet, dass Angeklagte eigentlich irgendwie auch immer schuldig sind. Entsprechend hat “Bild” kein Problem damit, Angeklagte vor einer Verurteilung vorzuverurteilen. Wie schlecht diese Idee ist, zeigt der Fall “Frank M.”:

Anfang Dezember 2008 stand in der “Bild”-Zeitung eine Geschichte, die wie gemacht war für den Boulevard. Es ging darum, “wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing”. “Bild” berichtete groß und ziemlich eindeutig:

"Wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing - Mädchen überführte Fummler mit Handy"

Thea ist erst 14 aber unterschätzen sollte man sie nicht. (…) Mit einem Trick und einer großen Portion Mut überführte sie einen Kinder-Schänder! (…) Der Vorwurf laut Staatsanwalt Michael Höhle: zwischen 2001 und 2007 soll er vier Mädchen (11-12) an ihren intimsten Stellen befummelt haben, darunter seine eigene Tochter.

“Bild” ließ kaum Zweifel daran, dass der vermeintliche “Kinder-Schänder” Frank M. schuldig sei. Zwar ließ sie ihn und dessen Anwalt die Vorwürfe kurz abstreiten (“Alle Vorwürfe sind falsch”, “Was meinem Mandanten vorgeworfen wird, stimmt nicht”), schrieb aber direkt im Anschluss:

Doch die Beweislage lastet schwer. Denn es gibt eine Tonaufzeichnung von einer der Taten des Kinderschänders. Die mutige Thea hat Frank M. damit zur Strecke gebracht!

Detailliert schildert “Bild”, wie “Thea” und ihr Bruder mit einem “Handy-Trick” Frank M. “zur Strecke” brachten:

“Am 13. Januar 2007 lockte er mich zu sich (…)”, erzählt das Mädchen. (…) [Ihr Bruder] sollte sie anrufen, nachdem sie bei Frank M. eingetroffen war. Damit er alles mithören und aufzeichnen konnte. In der Wohnung zog sich Frank M. aus, befummelte die Schülerin. (…) Am anderen Ende der Leitung hörte Theas Bruder alles mit, zeichnete das Gespräch auf. (…) “Dann sind wir mit den Handyaufzeichungen zur Polizei, haben ihn angezeigt”, sagt das tapfere Mädchen.

Anfang Januar sprach das Amtsgericht Leipzig Frank M. von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei.

Das überrascht angesichts der geradezu erdrückenden “Beweislage”, die “Bild” nach dem ersten Verhandlungstag schilderte. Allerdings hatte die mit dem Verlauf der Verhandlung ohnehin nur sehr wenig zu tun.

Was womöglich kein Wunder ist. “Bild”-Autorin Angela Wittig war offenbar einen erheblichen Teil der Verhandlung gar nicht im Saal. So schildert es uns jedenfalls der von “Bild” als “Fummler”, “Sexstrolch” und “Kinder-Schänder” verunglimpfte Frank M.: Der erste Verhandlungstermin habe ein paar Stunden gedauert, die “Bild”-Mitarbeiter seien jedoch nach etwa einer Dreiviertelstunde aus dem Saal gegangen und hätten “Thea” draußen “bearbeitet” und offenbar auch fotografiert (siehe Ausriss oben). Am zweiten Verhandlungstermin im Januar, an dem auch der Freispruch verkündet wurde, sei indes niemand mehr von “Bild” da gewesen.

Und anders als das Gericht, das bereits nach dem ersten Verhandlungstermin den seit 2007 bestehenden Haftbefehl gegen Frank M. aufhob, glaubte “Bild” der “mutigen Thea” offenbar jedes Wort und schrieb das am nächsten Tag ohne jede Distanz auf.

Wäre die “Bild”-Zeitung etwas länger geblieben und hätte der Verhandlung mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie eigentlich mitbekommen müssen, was uns der Anwalt von Frank M., Stephan Bonell, erzählt:

  • dass auf dem vermeintlichen Handy-Mitschnitt des sexuellen Missbrauchs außer Rauschen nichts zu hören gewesen sei;
  • dass die Polizei das bereits am Tag, als “Thea” Frank M. angezeigt hatte, festgestellt hatte;
  • dass die Widersprüche in den Aussagen der Mädchen, die Frank M. sexuell missbraucht haben sollte, so groß gewesen seien, dass das Gericht sie als “unglaubwürdig” eingeschätzt habe.

Laut Frank M. handelt es sich bei den Anschuldigungen um eine pubertäre Racheaktion an ihm und seiner Tochter.

Unabhängig davon zeigt die Urteilsbegründung vom Januar, was das Gericht von den Aussagen der “Opfer” hielt. Zu den Anklagepunkten 4., 5. und 6. (insgesamt waren es sechs), die auf der Aussage von “Thea” beruhten und in denen es jeweils darum ging, wie Frank M. sie und andere Mädchen sexuell missbraucht haben sollte, heißt es unter anderem:

Diese Zeugin ist als völlig unglaubwürdig einzuschätzen, nachdem sie (…) dargelegt hat, dass sie das Tatgeschehen zu 4. frei erfunden habe und sich an das Tatgeschehen zu 5. überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ihre Aussagen (…) besonders auf Punkt 6. bezogen, sind darüberhinaus derart widersprüchlich, dass ihnen nicht gefolgt werden kann. Insbesondere durch die Aussagen ihres Bruders (…), der ohne Umschweife in der Hauptverhandlung kundtat, den Angeklagten in den Knast bringen zu wollen, wurde deutlich, dass dem Angeklagten auch das Tatgeschehen vom 13.01.2007 nicht angelastet werden kann.

Pressekodex:

Richtlinie 13.2 – Folgeberichterstattung
Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten, sofern berechtigte Interessen des Betroffenen dem nicht entgegenstehen.

Zu den zwei weiteren Zeuginnen (die Tochter von Frank M. hatte die Aussage verweigert), merkt das Gericht an, ihre Aussagen seien “bemerkenswert widersprüchlich” zu vorherigen gewesen.

All das hätte die “Bild”-Zeitung spätestens am 6. Januar bei der Verkündung des Freispruchs zumindest in groben Zügen erfahren können – hätte sie sich die Mühe gemacht, über den Ausgang des Verfahrens zu berichten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (siehe Kasten). Hat sie aber nicht.

Für die “Bild”-Zeitung und ihre Leser ist Frank M. immer noch der “Fummler”, der “Sexstrolch” und der “Kinder-Schänder”.

Mit Dank auch an Mario S. und Uwe H.

Gericht: Springer verhöhnt “Bild”-Opfer

Das Landgericht München I hat die Axel Springer AG heute zu einer Zahlung von 50.000 Euro an eine Frau verurteilt, über die die “Bild”-Zeitung im September 2005 in unzulässiger und beleidigender Weise berichtet hat. Weil der Artikel auch gesundheitliche Probleme der Frau mitverursacht habe, muss der Verlag zudem für die Kosten aufkommen, die ihr dadurch entstanden sind oder noch entstehen. Neben der Axel Springer AG haften auch Clemens Hagen, der presserechtlich Verantwortliche der entsprechenden Ausgabe, sowie Rolf Hauschild, der Leiter von “Bild-München” — obwohl er am Produktionstag nicht in der Redaktion gewesen sein soll.

Dokumentation

Eine ausführliche Darstellung der Hintergründe des Prozesses:

Nach Ansicht des Gerichtes hat der “Bild”-Artikel das Persönlichkeitsrecht der Klägerin “in einer besonders schweren Weise” verletzt. Die Kammer wies die Gegenargumente der Axel-Springer-AG deutlich zurück und sah in dem Verhalten des Justiziariats des Verlages “eine zusätzliche Verhöhnung” des “Bild”-Opfers. Die Anwälte Springers hatten bereits vor dem Urteil angekündigt, in Berufung zu gehen. Einen vom Gericht angeregten Vergleich hatte der Vorstand der Axel Springer AG offenbar abgelehnt.

Es geht um eine Frau aus München, deren türkischer Ehemann bei seiner Einreise nach Deutschland am Flughafen unter dem Verdacht verhaftet wurde, elf Jahre zuvor seine damalige Freundin umgebracht zu haben. In einem “Bild”-Artikel war die Frau identifizierbar: Die Zeitung nannte ihren richtigen Vorname, der durch eine besondere, in Deutschland seltene Schreibweise auffällt, den richtigen Anfangsbuchstaben des Nachnamens, ihr Alter, ihren Beruf, den Stadtteil, in dem sie wohnt — und beschrieb sogar das Klingelschild an der Wohnungstür. Das Gericht erklärte in seiner Urteilsbegründung:

Unter diesen Umständen ist die Annahme, dass die Klägerin nicht zumindest in ihrem privaten und beruflichen Umfeld erkennbar ist [wie Axel Springer behauptet hatte], lebensfremd.

Die Frau habe ein Recht darauf, nicht erkannt zu werden, so das Gericht. Schon bei dem Ehemann, der damals noch nicht verurteilt war, sei zweifelhaft, ob er hätte identifiziert werden dürfen.

Umso mehr muss die Presse dafür Sorge tragen, dass Personen des privaten Umfeldes, die mit der vorgeworfenen Straftat nichts zu tun haben, nicht in erkennbarer Weise in die Öffentlichkeit gezogen werden.

(…) Hinzu kommt noch, dass über die Klägerin in weitem Umfang gerade nicht in Zusammenhang mit der Straftat berichtet wird. So ist weder der Umstand, dass es sich bei der Klägerin um eine                  aus                  handelt, noch der Umstand, dass sie zehn Jahre älter als ihr Ehemann ist oder welcher Name auf dem Klingelschild steht, von irgendeiner Relevanz für die Berichterstattung über die Strafverfolgung.

(…) Schon die Überschrift (…) — “Münchnerin heiratete diesen eiskalten Killer” – (…) stellt in reißerischer Manier die Beziehung der Klägerin zum Verdächtigen heraus.

Der Eingangssatz “Mit Mitte 40 noch mal einen zehn Jahre jüngeren Mann abgreifen – für die Münchner                                  . war’s wie ein Hauptgewinn im Lotto.” Stellt eine Beleidigung der Klägerin dar. Die Klägerin wird herabgewürdigt, indem ihr unterstellt wird, aus einer Art “Torschlusspanik” heraus eine Beziehung zu ihrem Ehemann eingegangen zu sein. Damit wird ihr gleichzeitig unterstellt, normalerweise für eine Beziehung zu alt und nicht mehr attraktiv zu sein.

Unter diesen Umständen sind die Ausführungen in der Klageerwiderung, der Artikel wecke Mitleid mit der Klägerin und Erleichterung, dass ihr nichts passiert sei, eine zusätzliche Verhöhnung der Klägerin.

Das Gericht kam nach einem psychologischen Gutachten zur Überzeugung, dass der “Bild”-Artikel die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigt habe. Er sei für verschiedene Störungen zumindest “mitursächlich” gewesen. Deshalb müssen Springer und die “Bild”-Redakteure auch für materielle Schäden wie Verdienstausfälle oder Behandlungskosten aufkommen, die der Frau aufgrund des Artikels entstanden sind oder in Zukunft noch entstehen. (Im Justizdeutsch heißt das: Sie haften “dem Grunde nach”.)

Zudem müssen sie 50.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Die Höhe der Summe begründete das Gericht damit, dass die “Bild-München” eine starke Verbreitung aufweise, die Klägerin “in reißerischer Form” hervorgehoben habe und ohne Anlass herabgesetzt worden sei. Der Betrag soll auch abschreckend wirken.

Noch hat Bohlen nicht verloren

Manche Leute können einfach nicht verlieren.

Dieter Bohlen zum Beispiel. Als die Quoten von “Deutschland sucht den Superstar” im November 2005 richtig gut waren, war der Gewinner des Tages für “Bild”: Juror Dieter Bohlen. Als die Quoten von “Deutschland sucht den Superstar” im Dezember 2003 richtig mies waren, war der Verlierer des Tages für “Bild”: RTL-Chef Gerhard Zeiler.

Als die Firma Müller-Milch im Dezember 2004 einen Werbevertrag mit Bohlen für Buttermilch fristlos kündigte, weil er Buttermilch-Käufer als “50-jährige alternative Bio-Latschen-Trägerinnen” bezeichnet hatte, machte “Bild” deshalb nicht Bohlen zum Verlierer des Tages, sondern den Firmenchef Theo Müller.

Jetzt ist es amtlich: Wenn Dieter Bohlen (53) in der Jury von "Deutschland sucht den Superstar" Sprüche klopft, ist das Kunst! Sechs Stunden sah sich das Sozialgericht Köln Aufzeichnungen der RTL-Show an. Ergebnis: Der Sender muss 173 000 Euro an die Künstlersozialkasse zahlen. Der Richter: "Die Kommentare tragen zum Unterhaltungscharakter der Show bei!" BILD meint: Bohlen-Sprüche geadelt!Und auch heute ist Dieter Bohlen wieder Gewinner des Tages in “Bild”.

Gestern hat nämlich das Kölner Sozialgericht geurteilt, dass es sich bei dem, was die Juroren von “Deutschland sucht den Superstar” in der Show machen, um Kunst handele. Der Sender RTL hatte versucht, Sozialabgaben zu sparen, indem er erklärte, Shona Fraser, Thomas Bug, Heinz Henn und die anderen erbrächten keine eigene künstlerische Leistung. Die Künstlersozialkasse, die freie Künstler absichert, hatte deshalb gegen RTL geklagt und nun Recht bekommen.

Bohlen selbst betrifft das nur indirekt. Aber natürlich hat er es nun, wie “Bild” richtig schreibt, “amtlich”: Seine Sprüche in der Sendung sind Kunst. Und macht ihn das zum Gewinner?

BILD meint: Bohlen-Sprüche geadelt!

Ach ja? Ein nicht ganz unwesentliches Detail aus der Urteilsbegründung hat “Bild” bei seiner Gewinnererklärung weggelassen. Der Richter sagte, für die Einordnung als Kunst sei künstlerische Niveau egal: Schon ein sehr geringer Grad der schöpferischen Eigenleistung reiche aus, um eine Tätigkeit als künstlerisch einzustufen. Auf eine “hohe Qualität” oder das “Niveau des Gebotenen”, so der Richter wörtlich, komme es nicht an.

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Schmerzensgeld für “Nymphomanin”

Es ist schon zwei Jahre her, und es war Sommer. Damals war gerade ein Buch erschienen, und “Bild” versprach:

“BILD druckt exklusiv die aufregendsten Kapitel.”

Die dritte der insgesamt fünf Folgen erschien unter der Überschrift “Ich stellte mich aufs Bett. Dann setzte ich mich auf sein kleines Ausrufezeichen” — und begann so:

Sex ist ihr Leben. Und Hemmungen sind ihr fremd: Valérie Tasso (35). Die ehemalige Verlagsmanagerin aus Paris, die sich selbst als “sexsüchtig” bezeichnet, schrieb das Skandalbuch des Sommers.

Danach fing Tassos Ich-Erzählung an, die sich um ein großes Nacktfoto einer wolllüstig dreinblickenden Brünette schmiegte (siehe Ausriss). Betextet war das Foto mit den Worten:

“Gleicht wirst du merken, daß du’s mit einer Französin zu tun hast”, sage ich und drehe dabei meinen Kopf zu ihm, damit er mein Gesicht sehen kann…

Dafür allerdings wurde der Verlag Axel Springer am vergangenen Donnerstag, zwei Jahre später also, vom Landgericht Kaiserslautern (2 O 970/05) zu 12.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Denn: Die barbusige Frau, die “Bild” zeigte, war nicht die ehemalige Verlagsmanagerin Valerie Tasso aus Paris, sondern eine Studentin aus Kaiserslautern — ein Symbolfoto quasi.

Die Abgebildete fand das gar nicht lustig (sondern, wie es in der Urteilsbegründung heißt, “obszön und Frauen verachtend”) — und klagte. Denn ihre Aufnahmen waren von einer Foto-Agentur nur mit dem ausdrücklichen Vermerk “Aproval Frei. Nutzung nur in einem positiven Zusammenhang!” angeboten worden. Das war auch der “Bild”-Redaktion bekannt, als sie das Foto für 200 Euro kaufte, um damit Valerie Tassos “Nymphomanin”-Text zu illustrieren.

Wie “Bild” sich vor Gericht rechtfertigte

1.) Man habe das Foto “nicht im Bereich der Pornografie genutzt, sondern der Berichterstattung über erotische Literatur und damit im Bereich der Kunst”, also “in positivem Zusammenhang”.
Das Gericht widersprach: Schamlos geschilderte “Sexerlebnisse” und “obszöne Details” seien der Frau “inhaltlich geradezu in den Mund gelegt” worden, was “die sexuelle Verfügbarkeit der Klägerin suggeriert” habe.
2.) Man könne und müsse sich “im Tagesgeschäft” auch bei Fotos auf die Informationen der Agenturen verlassen und könne nicht jedesmal nachfragen.
Das Gericht widersprach: Bei einem Buch-Abdruck hätte die Zeitung auf das OK warten können und müssen; ihr Handeln sei “fahrlässig” und “leichtfertig”.
3.) “Bild” habe sogar trotzdem von einer Mitarbeiterin der Agentur “vor der Veröffentlichung” telefonisch das Einverständnis eingeholt.
Das Gericht zweifelte: Die Mitarbeiterin der Agentur habe unwiderlegt ausgesagt, dass “Bild” erst anrief, nachdem die Klägerin sich beschwert hatte.

Als Folge der “Bild”-Veröffentlichung habe die Frau “von Albträumen berichtet sowie Schlafstörungen, Angstgefühle, Nervosität und Antriebsstörungen beklagt”, sagte ihr Arzt dem Gericht. Sie sei knapp anderthalb Jahre in psychiatrischer Behandlung gewesen.

Das Gericht urteilte, die Aufmachung des “Bild”-Artikels habe beim Leser “eindeutig den Eindruck erweckt, dass die Klägerin die in dem ‘Tagebuch’ erwähnte Nymphomanin oder eine andere Nymphomanin ist, also eine Frau mit gesteigertem Geschlechtstrieb”. Kurzum:

Die Veröffentlichung des Nacktfotos stellt eine schwer wiegende Verletzung der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Klägerin dar (…). Durch die Veröffentlichung (…) ist die Klägerin in ihrer Menschenwürde aber auch in ihrem Ansehen empfindlich herabgesetzt worden.

Prozessbeobachter vermuten jedoch, dass Springer die 12.000 Euro Schmerzensgeld nebst Zinsen und 60 Prozent der Prozesskosten nicht zahlen, sondern in Berufung gehen wird.

PS: Dass eine Rückfrage von “Bild” bei der abgebildeten Frau für den Abdruck irgendwie hilfreich gewesen wäre, ist unwahrscheinlich: Der Fotograf erklärte vor Gericht, er sei sich mit seinem Modell darüber einig gewesen, dass die Nacktfotos “auf keinen Fall in der ‘Bild’-Zeitung” veröffentlicht werden sollten…

Mit Dank auch an Tomchen und Dirk S. sowie Heinz M. und swr.de.

“Hör auf!”

Als Bild.de kürzlich wieder über Leonardo DiCaprio berichtete, war es noch keine drei Wochen her, dass der Bundesgerichtshof ein vielbeachtetes Grundsatzurteil gefällt hatte. Im Kern ging’s vorm BGH um die Frage, ob bzw. wann Fotos von Prominenten ohne deren Zustimmung gemacht und veröffentlicht werden dürfen — und wann nicht.

Beklagt war u.a. “Die Aktuelle”, geklagt hatte (wieder mal) Caroline von Monaco. Aber das nur nebenbei, denn zur Debatte stand Grundsätzlicheres: Fotos, die dem Gericht zufolge für sich genommen “denkbar harmlos” waren. Doch weil die Berichterstattung über Prominente zugenommen und — nicht zuletzt durch die Verbreitung von Handy-Fotos in der Presse — teilweise groteske Züge angenommen habe, entschied der BGH, die Privatsphäre stärker zu schützen. In der Urteilsbegründung heißt es weiter:

“Der Schutz der Persönlichkeit der Betroffenen wiegt umso schwerer, je geringer der Informationswert für die Allgemeinheit ist. Das muss (…) auch für Personen mit hohem Bekanntheitsgrad gelten, so dass es auch hier eine Rolle spielt, ob die Berichterstattung zu einer Debatte mit einem Sachgehalt beiträgt, der über die Befriedigung bloßer Neugier hinausgeht.”

Und das ist nun vielleicht eine gute Gelegenheit, um zu Leonardo DiCaprio zurückzukehren. Denn bei Bild.de findet sich seit vergangenem Montag ein kurzer Text folgenden Inhalts:

"Hier kauft Leonardo DiCaprio Zeitschriften"

(…) Ein Leser-Reporter (36) entdeckt den Superstar in einem Zeitschriftenladen.

“Ganz ohne Bodyguards. Er wollte aber nicht erkannt und fotografiert werden. Kaufte einen ganzen Stapel Zeitschriften, ging dann in einen Fotoladen.”

Unser Leser-Reporter hinterher. “Ich wollte unbedingt ein besseres Foto. Da sagte Leo plötzlich auf Deutsch mit Akzent ‘Hör auf!’ Dann bin ich gegangen.” (…)
(Link von uns.)

Müssen wir noch erwähnen, dass Bild.de direkt neben diesen Zeilen ein (denkbar harmloses) Foto von DiCaprio in einem Zeitschriftenladen zeigt? Sollen wir wirklich darüber nachdenken, wie gering dessen Informationswert für die Allgemeinheit ist? Oder ernsthaft die Frage erörtern, ob diese Berichterstattung zu einer Debatte mit einem Sachgehalt beiträgt, der über die Befriedigung bloßer Neugier hinausgeht?

Sagen wir’s lieber so: Vermutlich ist die Bild.de-Veröffentlichung nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 unzulässig, nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2004 ebenfalls und nach dem aktuellen BGH-Urteil erst recht.

Im Zweifel gegen den Angeklagten

Im Oktober 2004 wurde eine Bank in Siegelsbach überfallen. Der Täter tötete dabei eine Person und verletzte zwei lebensgefährlich. Angeklagt wurde ein Bäcker aus dem Ort. Vergangenen Freitag wurde er freigesprochen.

Bei Bild.de wird daraus “Deutschlands merkwürdigster Freispruch”. Eine Einschätzung, die durchaus nachvollziehbar ist — zumindest, wenn man nur das liest, was Bild.de dazu schreibt. Denn Bild.de ignoriert fast alles, was den Bäcker entlastet.

Etwas anders sieht es aus, wenn man in die “Heilbronner Stimme”* schaut. Sie berichtet ausführlich über den Fall und zitiert aus der Urteilsbegründung des Gerichts. Dabei erwähnt sie, anders als Bild.de, belastende und entlastende Momente.

Wer will, kann also nach Lektüre der “Heilbronner Stimme” den Freispruch “merkwürdig” finden oder nicht. Vor allem aber kann er das Urteil deswegen merkwürdig finden, weil es so klar ausfiel. Das Gericht hat den Angeklagten nämlich, wie uns das Landgericht Heilbronn bestätigt, wegen “erwiesener Unschuld” freigesprochen — und nicht, wie Bild.de fälschlich schreibt, “nach dem Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten”.

Mit Dank an Jörn W. auch für die vielen Links.

*) Die “Heilbronner Stimme” ist übrigens bei weitem nicht das einzige Medium, das ausgewogen berichtet, sie berichtet lediglich am ausführlichsten.

Gericht verurteilt “Bild” zum Widerruf

Seit Sommer 2004 ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Corinna Werwigk-Hertneck. Sie soll als baden-württembergische Justizministerin ihrem FDP-Parteifreund und damaligen Ministerkollegen Walter Döring Details aus Ermittlungen gegen ihn verraten haben.

“Bild” veröffentlichte noch ganz andere Vorwürfe gegen Frau Werwigk-Hertneck. Sie soll Döring “vor einer Razzia der Staatsanwaltschaft gewarnt” haben, schrieb die Zeitung am 16. Februar 2005. Anscheinend zu unrecht. Die Staatsanwaltschaft wirft der Politikerin dies jedenfalls laut der Nachrichtenagentur dpa nicht vor. “Bild” hat bereits eine Unterlassungserklärung abgegeben, diese Behauptung nicht zu wiederholen. Öffentlich widerrufen wollte das Blatt seine Meldung allerdings nicht.

Nun hat das Landgericht Stuttgart die Zeitung am Dienstag genau dazu verurteilt. Danach muss “Bild” den Widerruf im gleichen Teil der Zeitung und in gleicher Aufmachung und Schriftgröße wie den ursprünglichen Bericht abdrucken. Die Axel Springer AG will die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, bevor sie über eine mögliche Berufung entscheidet.

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