Immerhin: Das Clickbaiting mit Toten haben sie eingestellt. Aber sonst geht es munter weiter auf der Facebookseite der „TV Movie“:
Oder auf der Facebookseite der „Intouch“ (Bauer):
Oder der „Bravo Girl“ (Bauer):
Oder der “Closer” (Bauer):
(Unkenntlichmachung von uns.)
Oder der „Bravo“ (Bauer):
Um Letzteres kurz aufzuklären: LionT (ein Youtuber) spricht natürlich nicht über Selbstmord. Also, schon ein bisschen, denn er spricht darüber, dass er manchmal hässliche Kommentare bekommt – zum Beispiel, er solle sich doch umbringen.
Wundern muss man sich über diese Geschmacklosigkeiten aber nicht, schließlich gehört die Irreführung der potentiellen Kundschaft zu den Kernkompetenzen der Bauer Media Group.
Auch in der analogen Welt. Das ebenfalls im Bauer-Verlag erscheinende Knallblatt „das neue“ zum Beispiel will die Leser am Kioskregal aktuell mit diesem Cover zum Kauf verführen:
Nun könnte man meinen – und darauf zielt die Redaktion ja ab –, dass sich der Gesundheitszustand von Michael Schumacher auf wundersame Weise verbessert hat und “das neue” über exklusive Infos verfügt (so, wie es viele Regenbogenhefte seit Schumachers Ski-Unfall immer wieder suggerieren). Das „Wunder“ besteht aber, wie man dann im Heft erfährt, in Wahrheit darin, dass es Fotos von Corinna Schumacher gibt, auf denen sie lächelt.
Die Kinder lassen sie einen Moment lang die Sorgen vergessen. Die Sorgen um ihren Mann, der seit Dezember 2013 nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen wurde. Und über deren (sic) Gesundheitszustand nur die Familie Bescheid weiß. (…) Es könnte doch sein, dass sie so glücklich ist, weil sie weiß, dass es ihrem Michael jeden Tag ein bisschen besser geht …
So ist das Clickbaiting bei “TV Movie”, “Bravo” & Co. im Grunde die digitalisierte Version dessen, was Bauer in der analogen Welt schon seit Jahrzehnten treibt: ein perfides Spiel mit den Erwartungen und Sorgen der Leser, um sich selbst zu bereichern.
Seit knapp eineinhalb Wochen sucht die Polizei Niedersachsen nach einer Familie aus Drage. Mutter, Vater und Tochter waren spurlos verschwunden, die Polizei startete eine öffentliche Fahndung. Dafür hat sie Scans der drei Passfotos auf die eigene Internet- und auf eine Facebook-Fahndungsseite gestellt. Zahlreiche Medien haben die Fotos in der aktuellen Berichterstattung verwendet — macht ja auch Sinn bei einer öffentlichen Fahndung.
Inzwischen haben die Beamten die Leiche des Familienvaters gefunden. Die dazugehörige Pressemitteilung endet mit diesem Absatz:
Medienhinweis: Die Öffentlichkeitsfahndung nach dem 41-jährigen Marco S. ist somit beendet. Es wird darum gebeten, die Fotos aus der Berichterstattung zu nehmen.
Den Hinweis hat die zuständige Polizeiinspektion Harburg spätabends am vergangenen Freitag veröffentlicht.
Und so sieht die Berichterstattung von “Bild”, Bild.de und “Bild am Sonntag” seitdem aus:
Nun kann es eine etwas aufwendigere Sache sein, schon publizierte Online-Artikel zu durchkämmen und einzelne Fotos per Hand rauszulöschen. Aber all die aufgeführten Berichte sind eben erst nach der Bitte der Polizei erschienen.
Jan Krüger, Sprecher der Polizeiinspektion Harburg, sagte uns, dass eine Missachtung des Medienhinweises keine rechtlichen Schritte von Seiten der Polizei nach sich ziehe. Familienangehörige müssten sich dagegen wehren und das Persönlichkeitsrecht des verstorbenen Vaters durchsetzen.
Krüger und sein Team hätten das Foto direkt nach der Identifizierung der Leiche aus dem Internet genommen, online fänden sich nur noch die Bilder der Mutter und der Tochter, nach denen weiterhin gesucht wird. Bei den Medien könne man nur darauf hoffen, dass sie der Bitte nachkommen.
Allerdings haben wir das Gefühl, dass diese Hoffnung bei denLeutenvon“Bild” vergebens ist.
Heute hat vor dem Oberlandesgericht in Celle der Prozess gegen zwei mutmaßliche „IS“-Rückkehrer begonnen. „Mitgliedschaft in terroristischer Vereinigung und Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat“ lautet der Vorwurf, entsprechend groß ist das Interesse der Medien.
In einer Anordnung hatte das Gericht zuvor festgelegt, dass die Angeklagten nur verpixelt gezeigt werden dürfen. Die dpa hat sich daran gehalten und die Fotos nur mit Unkenntlichmachung veröffentlicht.
Inzwischen hat Bild.de das Foto ausgetauscht — und zeigt jetzt eins, auf dem der Mann noch besser zu erkennen ist.
(Der Vollständigkeit halber: Unkenntlichmachungen von uns.)
Nun könnte man argumentieren, dass sich der Angeklagte vor etwas mehr als zwei Wochen ja auch von der “Süddeutschen Zeitung” und dem NDR hat fotografieren und filmen lassen. Die Leute von “Bild” aber begründen die Missachtung der gerichtlichen Anordnung so:
Die blutigen Bilder seiner Kämpfer präsentiert ISIS regelmäßig im Internet, prahlt damit, rekrutiert neue Mitglieder. Doch stehen zwei dieser Kämpfer in Deutschland vor Gericht, sollen sie plötzlich unkenntlich gemacht werden? Da macht BILD nicht mit.
Mit Dank auch an Wolfram S., @RamisOrlu, Sebastian R., Bernhard W., Heinz B., Christian M. und Daniel!
Nachtrag, 16.55 Uhr: Inzwischen haben wir auch die sitzungspolizeiliche Anordnung des Gerichts gefunden (PDF). Darin steht:
Bei den Filmaufnahmen ist sicherzustellen, dass das Gesicht der Angeklagten vor der Veröffentlichung und vor einer Weitergabe der Aufzeichnungen an Fernsehveranstalter oder andere Medien durch ein technisches Verfahren anonymisiert wird und nur eine Verwendung in anonymisierter Form möglich ist.
Das habe der Senat aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes entschieden, erklärte uns die Gerichtssprecherin, und dabei sei ihm durchaus bewusst gewesen, dass einer der Angeklagten bereits im Fernsehen zu sehen gewesen sei.
Und was hält das Gericht von der Veröffentlichung? Die Gerichtssprecherin: “Die Anordnung ist seit Wochen für jeden zugänglich. Mit der Veröffentlichung wurden die Auflagen nicht eingehalten.”
Auf die Frage, ob “Bild” nun mit Konsequenzen rechnen muss, verwies die Sprecherin auf einen weiteren Punkt in der Anordnung, in der es heißt:
Kommen akkreditierte Pressemitarbeiter den Aufforderungen nicht nach, so können ihre Presse- und Medienunternehmen die Akkreditierung verlieren. Darüber entscheidet der Vorsitzende.
Nachtrag, 18:40 Uhr. “Bild” ist nun tatsächlich vom Prozess ausgeschlossen worden. Das hat der Vorsitzende Richter entschieden, wie uns die Gerichtssprecherin bestätigte.
Nachtrag, 4. August: In der heutigen Ausgabe nennt “Bild” die Sache einen “Eklat vor Gericht”, und Bild.de-Chef Julian Reichelt beklagt sich erwartungsgemäß über den …
Nun will das Gericht die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten schützen. Die Medien sollen diese Männer, die sich der schlimmsten Terrororganisation der Welt angeschlossen haben, nur gepixelt zeigen.
BILD hat sich dieser Anordnung widersetzt – und wurde deswegen vom Prozess ausgeschlossen. Mit Verlaub, Herr Richter Meier, damit schützen Sie die Falschen.
Wenn ISIS seine blutrünstigen Taten verübt, posieren die Täter mit abgeschlagenen Köpfen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Wenn die Terroristen sich aber vor einem deutschen Gericht für ihre Taten verantworten sollen, dürfen sie plötzlich nicht mehr erkannt werden? Das ist absurd!
BILD wird sich gegen diese Entscheidung wehren. Sie ist ein Angriff auf die Pressefreiheit!
Die Mitarbeiter von “Bild” und Bild.de können sich einfachnicht mit dem Gedanken anfreunden, dass auch Täter — und sei ihr Verbrechen noch so abscheulich — Rechte haben. Zum Beispiel Menschenrechte, aber auch Persönlichkeitsrechte. Oder das Recht, nach der Verbüßung ihrer Strafe wieder vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Damit das klappt, müssen ihnen die Gesellschaft und die Medien natürlich erstmal die Chance dazu geben.
Am vergangenen Freitag haben “Bild” und Bild.de ein Paradebeispiel geliefert, wie das zu verhindern ist:
(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)
Wenn eine Redaktion von einem solchen Vorfall in einer Justizvollzugsanstalt hört, mag sie sich dazu entscheiden, darüber zu berichten. Und dass “Bild” das in einer boulevardesk-knalligen Aufmachung tut — geschenkt. Problematisch ist der Umfang der identifizierenden Berichterstattung: auf der Titelseite mit unverpixelten Fotos, Vornamen, abgekürzten Nachnamen und Kurzabriss der Taten; im Innenteil großflächig noch einmal Fotos der “zwei besonders brutalen Killer”, dazu ausführlichere Schilderungen ihrer Verbrechen, ein Foto aus der JVA und Archivfotos der damaligen Tatorte:
Die Taten liegen inzwischen zehn beziehungsweise 14 Jahre zurück. Ihre erneute Ausbreitung durch die “Bild”-Medien ist in diesem Fall besonders gravierend, weil der eine Häftling (der Zusammengeschlagene) in einem Jahr entlassen werden könnte. Das weiß auch Autor Peter Rossberg, er schreibt es schließlich selbst. Beim anderen Insassen ist die zehnjährige Haftstrafe auch bald rum, allerdings gab es aufgrund weiterer Vorfälle in der Haft weitere Verurteilungen.
Damit sei die Veröffentlichung von “Bild” und Bild.de rechtswidrig, sagt der Medienrechtsprofessor Udo Branahl auf Anfrage:
Bei Straftaten, die so lange zurückliegen, dass potenziell eine Entlassung bervorsteht, genießen die Täter einen Resozialisierungsschutz. Über die Prügelei mag man berichten können, aber nicht flächendeckend über die Taten von damals.
Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so. Und das nicht erst seit Neuestem, sondern schon seit 1973:
Die für die soziale Existenz des Täters lebenswichtige Chance, sich in die freie Gesellschaft wieder einzugliedern, und das Interesse der Gemeinschaft an seiner Resozialisierung gehen grundsätzlich dem Interesse an einer weiteren Erörterung der Tat vor.
Für den Fall, dass ein Medium — warum auch immer — doch unbedingt über eine länger zurückliegende Tat berichten will, hat der Deutsche Presserat im Pressekodex festgehalten, was dabei zu vermeiden ist:
Wenn erneut über ein zurückliegendes Strafverfahren berichtet wird, sollen im Interesse der Resozialisierung in der Regel Namensnennung und Fotoveröffentlichung des Täters unterbleiben. Das Resozialisierungsinteresse wiegt umso schwerer, je länger eine Verurteilung zurückliegt.
“Bild” und Bild.de haben es mit der Veröffentlichung vom vergangenen Freitag geschafft, nicht einmal diesen Mindeststandard einzuhalten.
Die heutige Titelseite der “Bild”-Zeitung sieht auf den ersten Blick ganz normal aus: ein bisschen Fußball (“Neuer Zwirn für Schweini”), ein bisschen mehr vom Wir-gegen-die-Griechen-Gefühl (“Merkel rettet Griechenland mit unserem Geld!”), was Kurioses (“Betrunkener Einbrecher schläft im Kofferraum ein”). Oben rechts wird’s aber eher ungewöhnlich, da steht nämlich das hier:
Sie bezieht sich auf die riesige “Bild”-Titelstory vom 17. Juni, in der das Blatt keinen Zweifel daran ließ, was nach der Urteilsverkündung im Tuğçe-Prozess (BILDblogberichtete) passiert ist:
Das Besondere an der Gegendarstellung auf der “Bild”-Titelseite von heute: Sie hätte in dieser Form gar nicht abgedruckt werden müssen.
Vor zwei Wochen hat das Landgericht Berlin zugunsten von Sadija M. eine einstweilige Verfügung erlassen und die “Bild”-Zeitung dazu verdonnert, eine Gegendarstellung abzudrucken. Gegen diese Abdruckanordnung hat “Bild” Widerspruch eingelegt, eine mündliche Verhandlung folgt in der kommenden Woche. Trotzdem hat sie schon heute eine Gegendarstellung veröffentlicht, allerdings nicht entsprechend den Vorgaben des Gerichts.
Warum? Der Grund könnte in eben diesen gerichtlichen Vorgaben liegen: Demnach muss das Wort “Gegendarstellung” in der Größe der Dachzeile der Erstveröffentlichung (“EKLAT NACH DEM HAFTURTEIL”) gedruckt werden, der dazugehörige Text (“In der BILD-Zeitung vom 17.06.2015 haben Sie auf …”) in der Größe der einstigen Überschrift (“Mutter des Schlägers spuckt auf Tugce-Foto!”). Das würde bedeuten, dass die Gegendarstellung am Ende in etwa so aussieht, wie die von Heide Simonis aus dem Jahr 2006.
Felix Damm, Anwalt von Sadija M., vermutet, dass die “Bild”-Zeitung sich mit dem Abdruck der kleinen Version für die mündliche Verhandlung wappnen will:
Es scheint die Hoffnung zu bestehen, das Gericht werde von der verfügten Abdruckanordnung derart abweichen, dass mit dem Abdruck der verkleinerten Version der gerichtlichen Entscheidung genügt wurde. Ich gehe allerdings davon aus, dass die „Bild“-Zeitung die Gegendarstellung noch einmal drucken muss, dann deutlich größer.
Warum “Bild” bei der Position bleibt, Sadija M. habe auf das Tuğçe-Foto gespuckt, steht auf Seite 6 der heutigen Ausgabe:
Dem Gericht legte [M.] eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der sie nicht gespuckt habe.
Wir glauben, dass Frau [M.] lügt, und bleiben deshalb bei unserer Darstellung und werden Strafanzeige stellen.
Mehrere Zeugen haben den Vorgang beobachtet und gegenüber BILD bestätigt.
Interessanterweise berichteten auchandereMedien von einem Spucken nach der Verhandlung, sie ordneten es im Gegensatz zur “Bild”-Redaktion aber nicht unmittelbar Sadija M. zu.
Ihr Anwalt Felix Damm sagt, ihn erinnere die Art der “Bild”-Berichterstattung über seine Mandantin an eine “moderne Form der Sippenhaft”:
Als Sanel M. im Gefängnis saß, hat sich die “Bild”-Zeitung dessen Brudervorgenommen. Als sie damit durch war, kam die Mutter dran. Es wird versucht, der Öffentlichkeit eine schuldige Familie zu präsentieren.
Deswegen gehe Familie M. nun juristisch gegen einzelne Veröffentlichungen vor. Erste Unterlassungserklärungen konnte sie bereits einsammeln. Zum Beispiel hatte “Bild” auch ein unverpixeltes Foto der Mutter abgedruckt. Das Blatt darf es nun nicht mehr zeigen — weiß sich aber natürlich zu helfen und druckt heute einfach ein anderes Foto der Mutter, schon wieder ohne jede Unkenntlichmachung. Auch dagegen wird sie sich nun wehren.
Bild.de berichtete gestern über „eine neue, zynische Propaganda-Aktion“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ („IS“ oder „ISIS“):
Vermummte Kämpfer führen vier gefesselte Männer auf das Dach eines vierstöckigen Hauses in der Stadt Falludscha (Zentral-Irak). Mit ihren wehrlosen Gefangenen treten sie an die Brüstung des meterhohen Hauses – stoßen dann ihre Opfer nacheinander in den Tod: Der Vorwurf der Terroristen: Die Männer seien homosexuell gewesen.
Bilder der Hinrichtung sind bei Twitter zu sehen. Und bei Bild.de.
Die Redaktion hat in dem Artikel drei Fotos veröffentlicht, die zeigen, wie die Terroristen einen (zumindest halbwegs verpixelten) Mann zum Dach bringen …
… wie sie ihn über die Brüstung schubsen und sogar, wie er vom Dach fällt:
Wieder einmal verbreitet die Terrormiliz im Internet die grausame Propaganda ihres „Gottesstaates“.
Und wieder einmal verbreitet Bild.de fleißig mit.
“Die Medien sollten zurückhaltend mit der Veröffentlichung von Fotos umgehen und sich nicht als Propagandainstrument der Terroristen missbrauchen lassen.”
… sagte der Presserats-Vorsitzende Lutz Tillmanns vor gut einem Jahr, als die Bilder von der Hinrichtung des Journalisten James Foley um die Welt gingen.
Bei Bild.de sieht die Zurückhaltung so aus:
Wenn ein „Neues Schockfoto aus der perversen Welt der Terrormiliz“ auftaucht — Bild.de zeigt es:
(Immerhin: Gesichter von Geiseln und abgetrennte Köpfe macht Bild.de in den meisten Fällen unkenntlich.)
Wenn auf Youtube ein neues „abscheuliches Propagandavideo“ auftaucht, baut Bild.de es oft direkt in den Artikel ein …
… unterlegt es mit einem Off-Kommentar und lädt es als eigenes Video („Copyright BILD“) wieder hoch …
… oder zeigt die „barbarischen“, „widerwärtigen“, „perversen“ und „niederträchtigen“ Szenen als Screenshots (kleine Auswahl):
Etliche Fotos und Videos hat Bild.de schon veröffentlicht, von posenden, Fahne schwingenden, Panzerfaust schießenden Terroristen; und von gedemütigten, gefolterten und ermordeten Geiseln vor, während und nach ihrem grausamen Tod. Nur in den seltensten Fällen beschränkt sich Bild.de auf die bloße (ausführliche) Beschreibung der “Horrorbilder”.
Dabei schreibt Bild.de selbst:
Für ISIS erfüllt die Veröffentlichung derart abscheulicher Videos mehrere Zwecke. Zum einen dienen die medialen Zeugnisse ihrer Grausamkeit als wichtiges taktisches Mittel. (…)
Zudem erfüllen die Gräuelvideos auch einen Rekrutierungszweck: Bei den Sympathisanten der Terrorgruppe handelt es sich offenkundig um Personen mit ausgeprägter Gewaltaffinität und starken sadistischen Neigungen. Gegenüber konkurrierenden Terrorgruppen, die ihre Mordtaten weniger medial aufbereiten, hat ISIS den Vorteil, die sadistischen Bedürfnisse dieser Personengruppe stärker zu befriedigen.
Kurzum:
Mit ihrer massiven Propagandaschlacht im Internet vermarkten die Terroristen regelrecht ihren Kampf!
Vergangene Woche sind am tunesischen Strand von Port el Kantaoui, den „Bild“ den „Todesstrand“, „Strand des Grauens“, „Strand des Terrors“ und „Strand der Tränen“ nennt, 38 Menschen getötet worden.
Bild.de zeigte auf der Startseite grausame Fotos:
(Unkenntlichmachungen von uns.)
Die „Bild“-Medien zeigten Fotos des erschossenen Attentäters in einer riesigen Blutlache (in „Bild am Sonntag“ und bei Bild.de immerhin verpixelt, in „Bild“ nicht), Fotos von blutüberströmten Verletzten, von blutüberströmten Sonnenliegen, von blutüberströmten Treppenstufen, von weinenden Angehörigen und immer wieder Fotos von Leichen, die am Strand liegen.
Aber das war den Leuten von Bild.de offenbar immer noch nicht grausam genug. Bei mindestens einem Foto — es zeigt zwei notdürftig bedeckte Leichen zwischen Sonnenstühlen — haben sie, bevor sie es auf die Startseite gepackt haben, einen Filter über das Foto gelegt, um das Opfer blutiger zu machen.
Zum Vergleich (Achtung, auf dem Foto ist der Arm einer Leiche zu sehen): Vergleich
Dieser Putin schon wieder. Russlands Präsident soll in der Nähe von Moskau einen Freizeitpark voller Militärgerät planen, einen “Kriegs-Vergnügungspark”, schreibt Bild.de und findet das gar nicht gut:
(Unkenntlichmachung von uns)
Im sogenannten “Patriot Park” sollen die Besucher ab 2017 “Panzer fahren, Helikopter fliegen und Waffen ausprobieren” können. Bild.de kramt schon mal ein paar Archivfotos raus, um zu zeigen, wie es da dann aussehen könnte:
Dem russischen Priester Sergej Privalov zufolge ist das neue Putin-Projekt eine spitzenmäßige Idee:
Der Priester: “Kinder sollten herkommen, mit den Waffen spielen und auf die Panzer klettern und all diese moderne Technologie kennenlernen, von der sie noch nie ihn ihrem Leben etwas gehört haben.”
Wladimir Putin selbst sehe das Projekt “als einen wichtigen Bestandteil seiner ‘militärisch-patriotischen Arbeit mit jungen Leuten'”.
Kinder an die Knarren? Gar nicht in Ordnung, findet Bild.de:
Dass Krieg kein Spiel ist und nicht vor Kindern verherrlicht werden sollte, spielt in Russland anscheinend keine große Rolle.
Und:
Statt Micky Maus und Donald Duck propagiert Russland das Spiel mit Waffen
Man kann von der Eröffnung eines solchen Militär-Kinderparks halten, was man will. Wie großartig die “Bild”-Medien Panzerklettern und Helikopterfliegen allerdings dann finden, wenn nicht Putin und Russland dahinterstecken, sondern Ursula von der Leyen und ihre Bundeswehr, konnte man vor zwei Wochen sehen:
Hier, wo sonst die Feldjäger ihr strenges Regiment führen, tobten Kinder über einen 62,5 Tonnen schweren Leopard-2-Kampfpanzer. Der Transporthubschrauber “CH-53” kreiste über der Stadt, Fallschirmjäger stürzten sich zur Erde, legten zwischen staunenden Besuchern eine punktgenaue Landung hin. In mehr als 20 gepanzerten Fahrzeugen konnte man Probe sitzen.
Das Fazit für die Veranstaltung in Hannover:
6000 Besucher, Volksfeststimmung in der Kaserne.
Mindestens genauso begeistert war Bild.de von einem anderen “Highlight” am gleichen Tag, diesmal im hessischen Fritzlar beim “Kampfhubschrauber-Regiment 36 Kurhessen”:
Da gab es “Hammer-Loopings und Luft-Stunts”, “Klatschkonzerte für die kühnen Piloten” und “spektakuläre Nahkampf-Vorführungen”.
Zehntausende krabbeln durch den Transporthubschrauber CH-53, Eurocopter & Co. Kinder ballern mit Papp-Panzern auf Ziele.
Um mit Waffen spielen, auf Panzer klettern und all die moderne Technologie kennenlernen zu können, von der sie noch nie ihn ihrem Leben etwas gehört haben, müssen Kinder also gar nicht in Putins Propagandapark. Gibt’s alles schon in Deutschland.
Gruselig? Nein: “Gut so”, findet „Bild am Sonntag“-Chefin Marion Horn. Der “Tag der Bundeswehr” war “längst überfällig”, wenn man bedenke, “was es bei uns für idiotische Ehrentage gibt”:
Kritiker haben gestern moniert, mit den Feierlichkeiten dringe die Bundeswehr “dreist in den öffentlichen Raum” ein. Gut so! Da gehört sie hin!
Und wenn die Bundeswehr mal nicht selbst in den öffentlichen Raum drängt, holt Bild.de sie dort hin:
Blaumann an, dann endlich darf ich Panzer fahren!
Die distanziert-kritische Berichterstattung zum Kriegsgerät liest sich dann so:
Brrrrrrum!
Und:
Wrrrrrrrrrom!
Und:
Wahnsinn!
Und:
Mein Brecher und ich donnern durchs Gelände, fliegen über Sand-Piste, Brettern durchs Wasser. Auch anfahren bei 60 Grad Steigung — kein Problem.
Wie würde Bild.de sagen? Dass Krieg kein Spiel ist und nicht verherrlicht werden sollte, spielt in den “Bild”-Medien anscheinend keine große Rolle.
Gestern hat das Landgericht Darmstadt das Urteil im Tuğçe-Prozess gesprochen. Der Angeklagte Sanel M. wurde zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt.
Während der gesamten Ermittlungen hatte es immer wieder harsche Kritik an den Medien gegeben, sowohl von der Polizei als auch von der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und dem Richter. Vor allem die Berichterstattung der „Bild“-Zeitung wurde stark kritisiert: Sie habe ein falsches Bild von Täter und Opfer gezeichnet, Zeugen beeinflusst und die Ermittlungen damit massiv erschwert.
Rückblick. An einem Abend im November schlug Sanel M. der Studentin Tuğçe A. auf einem Parkplatz in Offenbach gegen den Kopf. Die junge Frau stürzte, erlitt schwere Kopfverletzungen, fiel ins Koma und starb zwei Wochen später.
Was in den Minuten vor dem Schlag geschah, ist zwar bis heute nicht eindeutig geklärt. Doch für „Bild“ war die Sache schon drei Tage nach der Tat völlig klar:
Lehramts-Studentin Tugce A. (22) wollte nur helfen – und wurde ins Koma geprügelt. (…) Samstagnacht in einer Offenbacher McDonald‘s-Filiale: Tugce A. greift mutig ein, als zwei Frauen auf der Damen-Toilette von drei Männern belästigt werden. Vor dem Fastfood-Laden eskaliert der Streit: Die junge Türkin wird von einem der Männer angegriffen!
Ein Schlag trifft sie an der Schläfe, sie knallt mit dem Kopf auf den Boden – Schädelbruch, Klinik, künstliches Koma.
Sofort waren die Rollen verteilt: hier der brutale Verbrecher, dort die mutige Heldin; Teufel gegen Engel, so einfach, so eindeutig. „Es ist die Geschichte Böse gegen Gut“, schrieb „Bild“-Kolumnist Franz-Josef Wagner Anfang Dezember.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten „Bild“, „Bild Frankfurt“ und die “Bild am Sonntag” schon über dreißig Artikel zu der Sache gedruckt:
Das sind, wohlgemerkt, allein die Artikel, die in den ersten drei Wochen nach der Tat gedruckt wurden (eine Sammlung der Online-Artikel haben wir im Dezember hier zusammengestellt). Dieses Ausmaß ist selbst für „Bild“-Verhältnisse ungewöhnlich. Der Umgang mit dem Täter ist es nicht.
„Koma-Schläger“ und „Totschläger“ nannten ihn die “Bild”-Medien, sie veröffentlichten Details aus seinem Privatleben und zeigten immer wieder Fotos von ihm, meistens unverpixelt oder nur mit winzigem Balken über den Augen.
Eine regelrechte Kampagne, wie auch der Vorsitzende Richter laut „FAZ“ gestern bei der Urteilsverkündung sagte:
„Anfangs hat es eine Kampagne gegeben, das lässt sich gar nicht anders beschreiben“ (…). Da sei ein junger Mann von gerade 18 Jahren gewesen, „der sich mit seinen Mitteln nicht dagegen wehren kann, einer großen Zeitung ausgeliefert zu sein“. (…) Einen „Killer“ und „Koma-Schläger“ habe man ihn dort genannt – das sei er aber nicht.
M. habe mit seinem Schlag „vieles gewollt, was nicht in Ordnung ist, aber sicher nicht den Tod eines Menschen“. Aber gegen das Bild, das von ihm gezeichnet und „von vielen Medien blind“ übernommen worden sei, das sich aber im Prozess „wenn überhaupt nur in Teilen bestätigt“ habe, sei M. nicht angekommen.
(Sogar bei Bild.de haben sie gestern ein paar dieser Sätze zitiert, aber so getan, als wüssten sie nicht, wer gemeint ist: Der Richter habe die Worte “an die Presse” gerichtet, heißt es nur.)
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Punkt, den der “Spiegel” im Dezember erwähnt hat:
Die Ermittler in Offenbach fragen sich inzwischen, ob Sanel M. überhaupt jemals wieder in Deutschland leben kann, wenn er nach der Untersuchungshaft oder einer möglichen Freiheitsstrafe wieder auf freien Fuß kommt. Und die Empörten, die im Internet sein Bild verbreiten und nach einer knallharten Strafe für den “Koma-Schläger”, wie ihn die Bild-Zeitung nennt, verlangen, könnten sogar das Gegenteil bewirken. “Grundsätzlich ist es so, dass solche Auswüchse in Berichten und Kommentaren von Gerichten auch strafmildernd gewertet werden können”, sagt der Offenbacher Oberstaatsanwalt Axel Kreutz.
Je härter also ein Medium auf einen Täter einprügelt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er eine mildere Strafe bekommt. Das haben sie bei “Bild” anscheinend nicht verstanden. Oder es steckt Kalkül dahinter, schließlich lässt sich dann wieder gegen die Weichei-Justiz wettern, und fertig ist der Empörungskreislauf.
Der Oberstaatsanwalt jedenfalls kritisierte die Berichterstattung ebenfalls und sagte laut „FAS“, man habe „am Anfang“ den Eindruck haben können, „dass Teile der Medien jeden Grauton vermeiden wollten“.
Bei „Bild“ kamen leichte Grautöne erst zum Vorschein, als der „Spiegel“ am 8. Dezember berichtete, dass laut Augenzeugen die Provokation nicht nur von Sanel M. ausging, sondern auch von Tuğçe A. (wovon inzwischen auch der Richter ausgeht). Von da an nahm die Intensität der „Bild“-Berichterstattung stark ab, auch die Darstellung des Geschehens wurde etwas differenzierter. Aber da hatte sich das Schwarz-Weiß-Bild, diese “Geschichte Böse gegen Gut”, längst in den Köpfen der Öffentlichkeit etabliert und schon eine Menge Schaden angerichtet.
Insbesondere die Ermittler klagten immer wieder darüber, dass die Berichterstattung die Untersuchungen massiv erschwere. Schon vor einem halben Jahr schrieb die „FAZ“:
Aus den Behörden ist zu hören, dass es enorm schwierig sei, in einem Fall zu ermitteln, der medial so stark begleitet werde. Mit „medial“ meinen die Beamten auch die Einträge in den sozialen Netzen, die von Anfang an vom Entsetzen über die Tat und Beileidsbekundungen bis hin zu Beschimpfungen und Drohungen gegen den mutmaßlichen Täter reichten. Polizeigewerkschafter Grün sagt, es gebe auch in vermeintlich eindeutigen Fällen kein „Schwarz und Weiß“. Womöglich auch in diesem Fall nicht.
Zum Problem wurde die Schwarz-Weiß-Malerei der Medien auch bei der Befragung der Zeugen. Laut „FAZ“ sagte der Richter gestern, dass eigentlich alle Zeugenaussagen als „vergiftet“ zu betrachten seien, …
weil die Freunde des Täters wie auch die Freundinnen des Opfers vor allem durch die Berichterstattung erheblich beeinflusst gewesen seien. Die dichotomische Fixierung der Medien auf M. und [A.] habe dazu geführt, dass Zeugen besonders M. Handlungen zugeschrieben hätten, deren Urheber er nicht gewesen sein könne.
Auch der Reporter der „FAS“ beobachtete, dass sich die Freundinnen des Opfers …
weniger an der eigenen Wahrnehmung orientierten als vielmehr versuchten, diese mit der öffentlichen Stimmungslage in Deckung zu bringen. Bei denjenigen Zeugen, die man zum Lager des Angeklagten rechnen kann, war es nicht besser, nur dass sie in ihren Aussagen, zum Teil erklärtermaßen, versuchten, das Bild, das in der Öffentlichkeit entstanden war, zu konterkarieren. Auch mehrere neutrale Zeugen konnten sich den Umständen offensichtlich nicht entziehen. Besonders deutlich wurde das, wenn sie vermeintlich Belastendes über die Tote sagten und dabei das Wort „leider“ anfügten.
Besonders stark kritisiert wurde die “Bild”-Zeitung für die Veröffentlichung des Überwachungsvideos, auf dem die Tat zu sehen ist:
Sowohl in der Print-Ausgabe als auch bei Bild.de wurden die Szenen der Überwachungskamera — „die letzten Minuten, die Tugce bewusst erlebte!“ — detailliert dokumentiert, die entscheidenen Momente hatte die Redaktion sogar extra von einem Illustrator nachzeichnen lassen:
Schon kurz nach der Veröffentlichung äußerten Staatsanwaltschaft und Polizei die Befürchtung, dass die Zeugen dadurch beeinflusst werden könnten:
Durch die Veröffentlichung des Videos werde das Beweismittel zwar nicht wertlos für den Gerichtsprozess, allerdings bestehe die Gefahr, dass dadurch Zeugen in ihrer Aussage manipuliert werden könnten. “Man muss damit rechnen, dass sich Zeugen vor ihrer Vernehmung das Video anschauen und ihre Aussage dann damit abgleichen”, so [Oberstaatsanwalt] Kreutz. Dadurch könnten unter anderem subjektive Erinnerungen an das Geschehen eingefärbt werden.
Auch Interpretationen des Videos, die im Vorfeld eines Prozesses über die Medien verbreitet würden, könnten einen Einfluss auf Zeugenaussagen haben — womöglich auch auf die Schöffen in einem Gerichtsverfahren.
Und so kam es dann auch: Laut „FAS“ hatten „im Grunde alle Zeugen“ das Video vor ihrer gerichtlichen Einvernahme “und zum Teil schon vor ihrer Aussage bei der Polizei gesehen”.
Eine Vernehmungsbeamtin sagte deshalb vor Gericht, es sei schwer gewesen, überhaupt eine objektive Aussage zu bekommen.
Von all der Kritik ist in der “Bild”-Zeitung von heute natürlich kein Wort zu lesen. Die titelt:
Belege finden sich im Artikel keine. Dafür aber ein großes Foto der Mutter des Täters — ohne jede Unkenntlichmachung.