“Bild” und Bild.de geben Personen gerne neue Namen. Knackig müssen sie sein, so richtig griffig und auf jeden Fall mit Bindestrich. So wird eine 21-jährige Russin, die bei Instagram über vier Millionen Follower hat, zum “Russen-Model”. Ein Vietnamese, der bei Olympia im Schießen Gold holt, zum “Pistolen-Vietnamesen”. Und ein Seemann, der auf Rügen lebt, zum “Rügen-Fischer”. “Lausitz-Luder”, “Mucki-Wiese”, “Abwehr-Grieche”, “Malle-Jens” — tagtäglich erfinden die “Bild”-Medien neue Bindestrich-Gebilde.
Auch für Lane Graves. Der kleine Junge wäre am Samstag (Bild.de schreibt fälschlicherweise von Sonntag) eigentlich drei Jahre alt geworden. Seine Familie versammelte sich vorgestern mit vielen Freunden und Nachbarn auf einem Footballfeld in ihrer Heimatstadt Omaha im US-Bundesstaat Nebraska, um Lanes Geburtstag zu feiern, allerdings ohne ihren Sohn. Der wurde im Juni beim Sandburgenbauen im “Walt Disney World Resort” von einem Alligator ins Wasser gezogen und starb.
Die Feier war sehr emotional, Lanes Eltern hielten Reden und sprachen über die Zeit mit ihrem Sohn. Fotografen waren vor Ort, viele Medien in den USA berichteten. Und auch Bild.de. In ihrem Drang, Menschen mit möglichst einfallsreichen Spitznamen zu versehen, machten die Mitarbeiter aus Lane Graves, dem Jungen, der durch einen Alligator ums Leben gekommen ist, den “toten Alligator-Jungen”:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Das ist so herz- und würdelos, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass das niemandem bei Bild.de vor Veröffentlichung aufgefallen ist.
Und dazu ist es sprachlich-inhaltlich auch noch so schief. Wenn ein Mann aus Bangladesch durch eine seltene Krankheit warzenähnlichen Wucherungen bekommt, die ein wenig aussehen wie Baumrinde, dann nennen die “Bild”-Medien ihn “Baum-Mann”. Immer noch platt, aber inhaltlich nicht völlig daneben. Doch Lane Graves hatte selbstverständlich nichts von einem Alligator. Er hatte das schreckliche Pech, von einem getötet zu werden. Lane Graves war kein “Alligator-Junge”. Er war ein ganz normales Kind.
Vor dem Landgericht im rheinland-pfälzischen Frankenthal wird derzeit ein Fall verhandelt, der einige Zutaten für eine ordentliche “Bild”-Geschichte mitbringt: ein Todesfall, Messerstiche in Brust und Hals, Drogen sollen im Spiel gewesen sein. Und dann ist da noch der Angeklagte, der zwar geständig ist, der aber auch sagt, dass er in der Situation der Tat nicht gewusst habe, ob er sich gerade in einem Traum befinde. Das LSD, das er und das Opfer zuvor genommen hatten, soll daran schuld sein.
Na, dann mal los, Rhein-Neckar-Redaktion der “Bild”-Zeitung:
Für Oliver A. (22) war es “einfach nur ein Scheiß-Tag”. Henry L. (25) musste diesen Tag mit dem Leben bezahlen. Der junge Mann verblutete nach Messerstichen in Brust und Hals.
Seit gestern steht der Arbeitslose (Spitzname “Bob”) wegen Totschlags vorm Landgericht.
Immerhin: Etwas Anonymisierung hat “Bild” dem Angeklagten im Artikel vom vergangenen Freitag mit einem schwarzen Augenbalken gewährt. Aber was soll die Sache mit dem “Arbeitslosen” in der Überschrift? Für die Tat an sich ist dieser Umstand nichtig. Uns sind zumindest keine Statistiken bekannt, die zeigen, dass Menschen ohne Arbeit eine stärkere Veranlagung dazu haben, “im LSD-Rausch” “zum MESSER-KILLER” zu werden, als Klempnerlehrlinge oder Realschullehrer oder Investmentbanker. Warum also diese Betonung? Wahrscheinlich war einfach noch Platz in der Titelzeile. So aber bildet “dieser Arbeitslose” mit dem “LSD-Rausch” und dem “MESSER-KILLER” einen unheilvollen Dreiklang.
Neben dem Angeklagten geht es in dem Text auch um das Todesopfer Henry L. Im Gegensatz zu Oliver A. zeigt “Bild” ihn jedoch ohne jegliche Anonymisierung:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Als Quellenangabe für das Fotos findet man am Rand des Artikels lediglich den Vermerk “PRIVAT”, was normalerweise so viel heißt wie: Urheber nicht gefragt, Abgebildeten oder dessen Angehörige nicht gefragt, bei Facebook zusammengeklaubt. In diesem Fall könnte es auch sein, dass sich irgendjemand aus der Redaktion an der kleinen Gedenkstätte für Henry L. am Tatort bedient hat. Besser macht es das nicht.
Stellen Sie sich mal vor, Sie sind Redakteur bei der “Bild”-Zeitung. Okay, vielleicht etwas heftig …
Stellen Sie sich mal vor, Sie sind Redakteur bei einer Zeitung. Am Mittwochmittag erreicht Sie die Mail eines Lesers, in der er Ihnen Fotos eines Liebespaares anbietet. Das Paar knutscht auf einer Wiese mitten in Bremen, und als sich die Frau über den Mann beugt, um ihn weiter zu küssen, rutscht ihr Rock hoch. Man kann auf den Fotos ihren Hintern und ihren Tanga gut erkennen. Es dürfte sich bei den Leuten nicht um Prominenten handeln. Der Leser schreibt Ihnen noch:
“Die beiden waren so mit sich beschäftigt, dass sie die nur wenige Meter entfernt sitzenden anderen Menschen überhaupt nicht mehr wahrgenommen haben. Ich würde das als schweres Fummeln bezeichnen!”
Welcher Gedanke gehen Ihnen als Blattmacher durch den Kopf?
Mögliche Reaktion 1: “Moment mal! Das ist doch aber gar nicht in Ordnung, einer Frau unter den Rock zu fotografieren. Klar, man könnte jetzt sagen: Selbst schuld, wenn die zwei da in aller Öffentlichkeit so eine Nummer abziehen. Aber reicht es nicht, dass die Leute drumherum das Ganze gesehen haben? Und die beiden konnten ja auch nicht wissen, dass da irgendein notgeiler Passant direkt sein Handy zückt, Fotos macht und für ein paar Euros das Material an eine Zeitung verkauft. Ich will nicht alles noch peinlicher für das Liebespaar machen und Fotos von nackten Hintern groß in meiner Zeitung mit einer hohen Auflage veröffentlichen. Die Leute auf den Fotos haben schließlich auch eine Würde. Und die will ich ja nicht mit den Füßen treten.”
Mögliche Reaktion 2: “Boah! Geil! Geiel!! GEIEL!!! Ein nackter Arsch! Darauf habe ich heute den ganzen Tag gewartet. Das bringen wird groß, ach was, riesengroß. Und gleich mit drei Fotos. Dann müssen unsere Leser morgen auch gar nicht auf ihren Lieblingspornoseiten nach Voyeur-Filmen suchen. Und dann packen wir noch ein paar gute Wortspiele dazu. Sowas wie: ‘Hallöchen Popöchen!’ oder ‘Heißes Wetter, heiße Show’. Das wird der Knaller! Vielleicht können wir daraus ja auch eine Serie machen. Morgen schicken wir erstmal den Praktikanten los und lassen ihn nach der Alten fahnden: ‘Ich bin der geile Arsch von der Wiese.’ Und dann suchen wir noch andere Leute, die schon mal jemanden in der Öffentlichkeit geküsst haben. Und dazu bringen wir noch ein Interview mit Nacktschnecke Micaela Schäfer. Vielleicht zeigt die uns ja auch noch ihre Hupen — Jackpot! Ich liebe meinen Job! Genau für solche Geschichten bin ich Journalist geworden!”
Für welche Variante sich die Bremen-Redaktion der “Bild”-Zeitung und Bild.de entschieden haben?
(Nur der Vollständigkeit halber: Unkenntlichmachungen durch uns.)
Neben Persönlichkeitsrechtsverletzungen, dumpfem Patriotismus und ein wenig Hetze gegen Minderheiten darf in einer typischen “Bild”-Ausgabe eins nicht fehlen: schlechte Witze. Jeden Tag gibt es eine kleine Humor-Ecke im Blatt, gekennzeichnet durch ein :-)-Emoticon. Mal sind es zwei Kalauer, mal drei, mal vier. Eines haben sie jedenfalls alle gemeinsam: Sie sind sehr, sehr dämlich.
So einen Witz findet man da zum Beispiel:
VATER-SOHN-WITZ
Vater und Sohn gehen spazieren. Plötzlich grüßt der Kleine einen wildfremden Mann. Fragt der Vater: “Wer war denn das?” — “Einer vom Umweltschutz. Er fragt Mutti immer, ob die Luft rein ist …”
Oder so einen:
GÄRTNER-WITZ
Sitzen zwei Gärtner im Garten. Saft der eine: “Pflanzen soll man gut zureden, damit sie schön wachsen.” Darauf der andere: “Gut, dann beschimpfe ich jetzt das Unkraut!”
Oder so einen:
URLAUBS-WITZ
“Ich habe gehört, ihr fahrt dieses Jahr doch nicht nach Argentinien?” — “Nein, das ist falsch. Nicht nach Argentinien sind wir im letzten Jahr gefahren. Dieses Jahr fahren wir nicht nach Hawaii!”
Das ist also der Humor, den die “Bild”-Zeitung ihren Leserinnen und Lesern zutraut.
Zu den “Bild”-Scherzen kommen wir gleich noch mal. Jetzt erstmal kurz zurück zu unserem Blogeintrag von vergangenem Samstag: Da hatten wir darüber geschrieben, dass “Bild” zwei Gegendarstellungen des Musikers Herbert Grönemeyer abdrucken musste. Es ging um eine “Bild”-Titelgeschichte aus dem Mai dieses Jahres. Das Blatt hatte geschrieben, Grönemeyer habe seine 28-jährige Freundin geheiratet. Die war aber gar nicht 28, sondern älter. Außerdem hatte “Bild” behauptet, dass die Trauung auf dem “Anwesen ‘La Fabrique'” stattgefunden habe. Auch das war falsch. Also musste die Redaktion diese zwei Gegendarstellungen von Herbert Grönemeyer veröffentlichen:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Gegendarstellung
Auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung vom 12. Mai 2016 heißt es: “JA-WORT MIT J… (28) IN FRANKREICH Grönemeyer heiratet seine junge Freundin!”
Hierzu stelle ich fest: Meine Partnerin ist nicht 28. Sie ist mehrere Jahre älter.
Berlin, den 12. Mai 2016 — Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Schertz für Herbert Grönemeyer
Anmerkung der Redaktion: Herbert Grönemeyer (60) hat recht. Vor Gericht hat er angegeben, seine Partnerin sei acht Jahre älter als von BILD behauptet.
Gegendarstellung
In der “Bild”-Zeitung vom 12. Mai 2016 schreiben Sie auf Seite 4 in einem Artikel mit der Überschrift “Männer heiraten heimlich“:
“Am vergangenen Wochenende sollen der Sänger und seine Lebensgefährtin (…) Gäste zur Trauung auf das Anwesen ‘La Fabrique’ (…) im südfranzösischen Ort Saint-Rémy-de-Provence eingeladen haben.”
Hierzu stelle ich fest: Es hat keine Trauung zwischen mir und meiner Lebensgefährtin auf dem Anwesen ‘La Fabrique’ stattgefunden.
Berlin, den 12. Mai 2016
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Schertz für Herbert Grönemeyer
Auch am vergangenen Samstag gab es wieder eine :-)-Ecke in “Bild”, dieses Mal direkt unter der zweiten Gegendarstellung abgedruckt:
Die drei Witze gehen so:
ANWALT-WITZ
“Ich weiß nicht, was Sie haben”, wundert sich der Scheidungsanwalt. “Ihr Mann ist doch für sein Alter noch sehr rüstig!” “Für sein Alter schon”, meint die junge Frau. “Aber nicht für meins!”
HELLSEHER-WITZ
Die Kartenlegerin ist besorgt, als sie in die Karten von Frau Müller schaut: “Ihr Mann wird sterben!” Die Reaktion: “Ich weiß. Mich interessiert, ob sie mich schnappen und zu was ich verurteilt werde.”
ARZT-WITZ
Ein alter Mann beim Arzt: “Meine 50 Jahre jüngere Frau ist schwanger! Wie kann das sein?” Doktor: “Stellen Sie sich vor, Sie laufen im Wald, sehen ein Reh, nehmen Ihren Stock und tun so, als ob Sie das Reh erschießen wollen. Das Reh fällt tot um. Was denken Sie?” “Da hat ein anderer geschossen!” “Richtig!”
Jetzt kann es Zufall sein, dass die Leute von “Bild” genau für den Tag, an dem sie die Gegendarstellungen eines älteren Mannes abdrucken mussten, der eine jüngere Frau geheiratet hat, drei Witze über ältere beziehungsweise sterbende Männer und jüngere beziehungsweise mordende Frauen rausgesucht haben. Oder aber sie sind beleidigte Nachtreter, die mit einer berechtigten Beschwerde und einer gerichtlichen Entscheidung nicht gerade souverän umgehen.
Zwischen Herbert Grönemeyer und den “Bild”-Medien herrscht nicht gerade das beste Verhältnis. Als der Musiker beispielsweise im Dezember 2014 am Flughafen Köln/Bonn mit Paparazzi aneinandergeriet, schrieb “Bild am Sonntag” dazu: “Herbert Grönemeyer vermöbelt Fotografen”. Grönemeyer wehrte sich gegen die Berichterstattung.
Am 12. Mai dieses Jahres brachte “Bild” ebenfalls eine große Geschichte über den Sänger. Auf der Titelseite machte das Blatt so auf:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Und im Innenteil gab es auf Seite 4 dann noch einen großen Artikel obendrauf:
In der heutigen “Bild”-Ausgabe durfte dann auch Herbert Grönemeyer — beziehungsweise sein Anwalt Christian Schertz — etwas zu der Hochzeitsgeschichte sagen:
Gegendarstellung
Auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung vom 12. Mai 2016 heißt es: “JA-WORT MIT J… (28) IN FRANKREICH Grönemeyer heiratet seine junge Freundin!”
Hierzu stelle ich fest: Meine Partnerin ist nicht 28. Sie ist mehrere Jahre älter.
Berlin, den 12. Mai 2016 — Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Schertz für Herbert Grönemeyer
Anmerkung der Redaktion: Herbert Grönemeyer (60) hat recht. Vor Gericht hat er angegeben, seine Partnerin sei acht Jahre älter als von BILD behauptet.
Und da auch in dem Artikel auf Seite 4 von damals etwas nicht stimmte, gibt es in der “Bild”-Zeitung von heute auf Seite 4 gleich noch eine weitere Grönemeyer-Gegendarstellung:
Gegendarstellung
In der “Bild”-Zeitung vom 12. Mai 2016 schreiben Sie auf Seite 4 in einem Artikel mit der Überschrift “Männer heiraten heimlich“:
“Am vergangenen Wochenende sollen der Sänger und seine Lebensgefährtin (…) Gäste zur Trauung auf das Anwesen ‘La Fabrique’ (…) im südfranzösischen Ort Saint-Rémy-de-Provence eingeladen haben.”
Hierzu stelle ich fest: Es hat keine Trauung zwischen mir und meiner Lebensgefährtin auf dem Anwesen ‘La Fabrique’ stattgefunden.
Berlin, den 12. Mai 2016
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Schertz für Herbert Grönemeyer
Zur Berichterstattung über das Attentat in München am vergangenen Freitag und all ihren Schwächen starteten noch am selben Abend viele Diskussionen. Sie drehten sich um grundsätzliche Fragen: Sollten Redaktionen besser erstmal abwarten, wie sich das Geschehen entwickelt, oder direkt live auf Sendung gehen? Tragen TV-Sender durch die Verbreitung von Gerüchten zu sehr zur Panik bei? Ist ein öffentlich-rechtlicher Newskanal nötig, der rund um die Uhr Nachrichten sendet und in Ausnahmesituationen schneller reagieren kann (übrigens eine Diskussion, die es schon länger gibt)?
In diesem Blogpost soll es um verschiedene Beobachtungen und ganz konkrete Beispiele gehen, in denen sich Medien unserer Meinung nach problematisch verhalten haben oder gar falsch berichtet wurde.
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Am vergangenen Freitag um 18:24 Uhr, also noch elf Minuten, bevor die Polizei München bei Twitter zum ersten Mal vor der Situation am Olympia-Einkaufszentrum warnte und darum bat, den Bereich ums OEZ zu meiden, twitterte “BR24”, das Online- und App-Team des “Bayerischen Rundfunks”:
(Den Tweet hat die Redaktion recht schnell wieder gelöscht.)
Wie hätten die nächsten Anfragen ausgehen, wenn sich jemand bei “B24” gemeldet hätte? Vielleicht: “Könntest Du mal im Einkaufszentrum nachschauen, wie es da so aussieht und für uns mit dem Handy draufhalten?”?
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Als dann die ersten Kamera-Teams und Live-Reporter am Einkaufszentrum angekommen waren, standen sie teilweise gefährlich nah am Tatort und/oder den Truppen der Polizei im Weg:
Bei RTL konnte man sogar live mitverfolgen, wie Fotografen von den Beamten weggeschickt werden mussten:
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Positiv aufgefallen ist uns am Freitagabend, dass viele Medien ohne das Zeigen von verletzten oder getöteten Menschen auskamen. Möglicherweise lag die Zurückhaltung schlicht daran, dass den Redaktionen nicht viele Fotos oder Videoaufnahmen von Opfern zur Verfügung standen. Aber es gab sie. Und Bild.de wollte nicht auf das Zeigen von Blutlachen und Toten verzichten:
(Zusätzliche Unkenntlichmachungen durch uns.)
Die Redaktion fand das Foto so zeigenswert, dass sie es in den folgenden Stunden und Tagen gleich mehrfach verwendete:
Und auch “Bild” druckte den Mann ab, der durch einen Kopfschuss getötet wurde:
Immerhin: Bild.de und “Bild” haben mindestens das Gesicht, teilweise auch den kompletten Oberkörper des Mannes verpixelt. Und dennoch ist das Zeigen dieses Fotos, ob verpixelt oder nicht, problematisch — allein schon wegen der Uhrzeit der Veröffentlichung.
Erstmals ist uns das Foto um 20:42 Uhr bei Bild.de begegnet, ganz oben auf der Seite. Gut möglich, dass es da schon einige Minuten online war. Es handelt sich also um einen Zeitpunkt, zu dem die Identifizierung des Opfers aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht abgeschlossen war, und somit auch die Angehörigen noch nicht informiert gewesen sein dürften. Sollten diese (wohl wissend, dass ihr Vater/Sohn/Ehemann rund ums Olympia-Einkaufszentrum unterwegs war) auf der Suche nach Informationen zum Attentat auch bei Bild.de vorbeigeschaut haben, könnten sie beim Aufrufen der Website zumindest stark verunsichert worden sein. Denn das auffällige rote Oberteil des Mannes dürften sie wiedererkannt haben.
Dass dieses Szenario nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, zeigt diese Passage aus einem “Focus Online”-Text zum Attentat in München:
Zu Hause wartete schon ihre kleine Schwester. “Sie lag weinend auf dem Sofa.” Jetzt wird Cahuans H. klar: Nicht alle Bekannten sind in Sicherheit. Sie erfährt: Der Bruder einer Freundin wurde erschossen. Auf einigen Fotos von Augenzeugen sieht man den Jungen, er trägt einen roten Pullover. Cahuans H. berichtet von Handyanrufen, in denen die Schwester des Erschossenen ins Telefon schreit. “Er ist tot, ich habe sein Handy, er ist tot!”
Und auch der Vater des Täters hat seinen Sohn kurz nach den ersten Schüssen anhand eines wackeligen Handyvideos, das im Internet kursierte, erkannt und sich bei der Polizei gemeldet.
Völlig allein waren “Bild” und Bild.de übrigens nicht — bei “N24” sollen ebenfalls Opfer zu sehen gewesen sein:
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Neben all diesen hässlichen Vorgängen gab es am Freitagabend und in den vergangenen Tagen auch großes Lob: für das Social-Media-Team der Polizei München. Die Beamten twitterten in der Nacht von Freitag auf Samstag sachlich, aber sehr bestimmt, sie warnten in verschiedenen Sprachen, baten um Mithilfe bei der Aufklärung der Tat und um Zurückhaltung beim Streuen von Gerüchten.
Julian Röpcke, “Political editor” von “Bild” und Bild.de, gefiel das, was die Polizei München bei Twitter veranstaltete, hingegen gar nicht:
Röpckes Kritik bezog sich auf diesen Tweet der Polizei:
Wenn also eine offizielle Stelle in einer unübersichtlichen Situation darum bittet, vorsichtig zu sein, auch wenn noch nicht ganz klar ist, ob “in der City” Gefahr besteht, macht das Julian Röpcke “*sprachlos*”.
Sein “Bild”-Kollege Björn Stritzel, mit dem Röpcke am Freitagabend zusammen an einem Text zum Attentat arbeitete, verbreitete hingegen wirklich gefährliche Gerüchte:
Gerade einmal 70 Minuten später wurde aus dem möglichen “rightwing extremist” ein möglicher Islamist:
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Das Gerücht, dass es sich bei dem Attentat um einen islamistischen Terroranschlag handeln könnte, schaffte es auch auf die Website der “Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen”. In einem Kommentar schrieb “HNA”-Redakteur Jörg-Stephan Carl um 21:17 Uhr — als also noch nicht wahnsinnig viel über die Tat und ihre Hintergründe bekannt war:
Die Islamisten haben der ganzen Welt den Krieg erklärt. Der Fanatismus, der religiös angestachelte Allmachtswahn, die Mordlust der Dschihadisten machen vor niemandem halt. Deutschland hatte bisher weitgehend Glück, der große Anschlag war ausgeblieben. Das Glück ist aufgebraucht.
Es deutet alles darauf hin: Der islamistische Terror ist in Deutschlands Großstädten angekommen. […]
Sich gegen Terror wehren, bedeutet immer auch, ihn aushalten zu müssen. Bei allem Entsetzen, bei aller Wut auf die Täter, bei aller Trauer über die Opfer — es klingt schal nach den Ereignissen in München: Aber das normale — das freie — Leben muss weitergehen, der Islamismus darf nicht triumphieren.
Am Samstag, als klar war, dass die Tat keinen islamistischen Hintergrund hatte, veröffentlichte die “HNA” den Kommentar um 8:42 Uhr noch einmal. Die Redaktion hatte den Text umgestellt und Textteile zum Islamismus gestrichen. Unter anderem findet man im Kommentar nun diese Passage:
Nach all dem durchlittenen Terror in den Metropolen Europas beschleicht einen sofort die bange Angst: Ist der islamistische Terror auch in einer deutschen Großstadt angekommen? Am Freitagabend wusste das noch niemand. Inzwischen geht die Polizei von einem jugendlichen Einzeltäter aus.
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Am Samstag und Sonntag wurde die Berichterstattung, mit mehr Zeit für die Recherche, nicht zwingend besser. Die Redaktionen von Bild.de und “Bild am Sonntag” haben sie zum Beispiel dafür genutzt, sich Fotos der Opfer zu besorgen:
(Diese und alle weiteren Unkenntlichmachungen durch uns.)
(“Bild am Sonntag” hat die Fotos auf der Titelseite und noch ein weiteres Mal im Innern der Zeitung komplett ohne Verpixelung veröffentlicht, Bild.de mit einem sehr schmalen Balken über den Augen; inzwischen hat Bild.de die Gesichter einiger Opfer stärker verpixelt, andere zeigt die Seite wiederum ohne jegliche Verpixelung.)
Als Quelle gibt Bild.de bei den meisten Fotos “privat” an. Was in der Regel so viel heißt wie: in den Sozialen Medien zusammengeklaubt. Persönlichkeitsrechte und der Respekt vor der Trauer der Angehörigen spielen bei der Jagd nach Fotos offenbar keine Rolle.
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Bei “Focus Online” hat die Redaktion die Zeit ebenfalls genutzt und ziemlich genau recherchiert, wo die Familie des Attentäters wohnt. In einem Artikel beschreibt das Portal seinen Lesern die Lage der Wohnung in München sehr detailliert — den Straßennamen, ein Foto des Hauses, das Stockwerk, in dem sich die Wohnung befinden soll, dazu Informationen aus dem Leben der Eltern, den Beruf des Vaters. Wer die Familie irgendwann mal aufsuchen will, muss sich nur den “Focus Online”-Text schnappen (auf einen Link oder einen Screenshot der Überschrift verzichten wir bewusst).
Hoffmann: Durch sehr vorsichtige Berichterstattung. Wir raten in solchen Fällen immer: Zeigt nicht das Gesicht des Täters, nennt nicht den Namen. Er soll nicht zur “Berühmtheit” werden, sondern dem Vergessen anheimfallen. Das kann Nachahmer abschrecken. Ich fand es eine sehr gute Entscheidung, das Gesicht des Täters in dem Video zu verpixeln, das ihn beim Schießen zeigt.
Dennoch zeigen viele Onlineportale, viele Zeitungen, viele TV-Sender Fotos des Attentäters. Ein Großteil kürzt seinen Namen ab, aber nicht alle. Die massive Berichterstattung über seine Person macht ihn jedenfalls zum Star. Er bekommt für seiner Tat Aufmerksamkeit und Reichweite.
Besondere hilfreich sind dabei die “Bild”-Medien:
Bild.de veröffentlicht sogar Artikel, die sich wie Manuskripte von Actionfilmen lesen:
Er rennt durch die Nacht. In Panik. Überall Polizei. Es ist erst wenige Stunden her, da erschoss A[.] kaltblütig neun Menschen. In einer Seitenstraße bleibt er stehen. Und richtet die Waffe auf seinen Kopf…
Der Text geht in diesem Ton weiter. Viel stärker kann man eine schreckliche Tat nicht auf ein Podest heben.
Aber auch andere Blätter machen mit und packen das Foto des Täters auf ihre Titelseiten (immerhin beide mit einem schmalen Balken über den Augen):
Dass es auch anders geht, selbst im Boulevard, hat am Sonntag die “B.Z.” gezeigt:
Was mag in Eltern und Freundin des Todes-Piloten vorgehen? Sind sie mit der Tat des Sohnes nicht gestraft genug?
Gemeint sind in diesen zwei Fragen die Eltern und die frühere Freundin von Andreas L., dem Co-Piloten des Germanwings-Flugs 4U9525. L. hatte im März vergangenen Jahres ein Flugzeug in die französischen Alpen gelenkt, wodurch er und 149 weitere Menschen ums Leben kamen. Die oben zitierte Passage stammt aus einem Artikel, den “Bild” und Bild.de am Dienstag veröffentlichten:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Artikel durch uns.)
Der Mann, der Anzeige gegen die Eltern von Andreas L. erstattet hat, hat bei dem Unglück vor 16 Monaten seine Tochter und sein Enkelkind verloren. Der Lebensgefährte seiner Tochter ist ebenfalls gestorben. Die “Bild”-Medien schreiben dazu:
Zur Berichterstattung über den Germanwings-Absturz:
Der schwere Vorwurf des Düsseldorfer Unternehmers: Die Eltern [von L.] hätten sich mitschuldig gemacht. […]
Konkret geht es um die zahlreichen Arztbesuche des kranken L[.]. Eltern und Freundin hätten davon gewusst und den späteren Amok-Piloten zu den Medizinern begleitet, ihn jedoch nicht davon abgehalten zu fliegen, so die Anzeige. […]
Sein juristischer Beistand, Klaus Brodbeck, zu BILD: “Die Anzeige ist für uns die einzige Möglichkeit, dass in diese Richtung ermittelt wird.” Für ihn komme der Straftatbestand der Beihilfe zur fahrlässigen Tötung in 149 Fällen in Frage.
Und nun fragt das Dreierautorenteam von “Bild” also mitfühlend, ob die Eltern von Andreas L. nicht schon genug gestraft seien.
Dass “Bild”-Mitarbeiter sich ums Wohlbefinden von Angehörigen von Tätern sorgen, ist, gelinde gesagt, überraschend. Gerade im Fall von Andreas L. Denn die “Bild”-Medien hatten wenige Tage nach der Tat von L. kein Problem damit, auch seine Eltern in den Fokus der Berichterstattung zu zerren:
Autor Tim Sönder nannte in dem Artikel die Berufe der beiden Eltern und ließ einen “Trauma-Experten” eine Ferndiagnose über sie anstellen.
Nur wenige Tage später ging es in einem weiteren Artikel noch einmal um das Ehepaar L.:
Erneut wurden die Berufe genannt, dieses Mal von “Bild”-Mitarbeiter Philipp Blanke. Er ließ den “Trauma-Experten” ebenfalls zu Wort kommen. Und bei seiner Recherche hat er offenbar auch im Umfeld der Familie rumgeschnüffelt — eine Nachbarin der Großeltern von L. erzählt in dem Text nämlich über die Kindheit des Piloten.
Nun kann man Andreas L. aufgrund seiner Tat als Person der Zeitgeschichte sehen. Doch seine Eltern sind kein Teil dieser Tat, dieses zeitgeschichtlichen Ereignisses. Sie haben das Recht auf Privatsphäre.
Davon unabhängig sollte man ihnen auch ein Recht auf Trauer zugestehen. Neben dem Verlust ihres Sohnes müssen sie auch verarbeiten, dass dieser für den Tod vieler weiterer Menschen verantwortlich ist. Doch wie soll das funktionieren, wenn die “Bild”-Medien jede Kleinigkeit nutzen, um über ihren Sohn zu berichten? Zum Beispiel wenn sich ein früherer Bekannter im Fernsehen über ihn äußert …
… oder wenn die “Tagesschau” zum Jahrestag des Unglücks sein Gesicht nur verpixelt zeigt …
… oder wenn “Bild” einen Mann findet, der genauso heißt wie ihr Sohn:
Und dass Bild.de, gerade erst vor zwei Wochen, Fotos aus Ermittlungsakten veröffentlicht, die die private Wohnung von L. …
… und auch sein Kinderzimmers im Haus der Eltern zeigen:
Autor des Artikels ist Mike Passmann. Passmann ist es auch, der am Dienstag mit seinen zwei Kollegen fragte, ob die Eltern von Andreas L. nicht schon gestraft genug seien.
Vergangene Nacht, als die ersten Meldungen und Fotos und Videos vom Attentat in Nizza auftauchten, hat Tanit Koch sich richtig heißgetwittert. Die “Bild”-Chefredakteurin verbreitete Titelseiten von französischen Tageszeitungen, Aussagen vom früheren Bürgermeister von Nizza und vom deutschen Regierungssprecher, Fotos von Leichen. Und sie retweetete mehrere Videos aus der südfranzösischen Stadt.
Dafür gab es bei Twitter einiges an Kritik:
Es gab aber auch Leute, die Tanit Koch zur Seite sprangen und sie gegen ihre Kritiker verteidigten:
Was der frühere “Bild”-Mitarbeiter Dirk Benninghoff und “Tichys Einblick”-Autor Dushan Wegner offenbar nicht wissen: Die Kritik an Tanit Koch richtet sich nicht gegen das Verbreiten von News beziehungsweise von “Videos von Reuters oder ABC”, sondern gegen den Retweet eines ganz bestimmtes Videos: Es zeigt 45 Sekunden lang sehr explizit und sehr nah viele blutüberströmte und tote Menschen. Zuschauer, die die Personen aus dem Video persönlich kennen, dürften keine großen Probleme haben, sie zu identifizieren.
Diese Aufnahmen, die mit dem Warnhinweis “Extremely GRAPHIC VIDEO” versehen sind, hatte Tanit Koch bei einer britischen Sensationsplattform — die fälschlicherweise auch Meldungen über Geiselnahmen in Nizza verbreitet hatte — gefunden und retweetet:
(Unkenntlichmachung durch uns, da wir dieses Video, das jegliche Würde der abgebildeten Personen missachtet, nicht weiter promoten wollen.)
Dass selbst Tanit Koch die Kritik an ihr offenbar nicht für völlig unangebracht hielt, zeigt sich womöglich daran, dass sie ihren Retweet inzwischen gelöscht hat. (Das hinderte sie freilich nicht daran, Dushan Wegner, den Kritiker ihrer Kritiker, zu retweeten.)
Dennoch, und auch auf die Gefahr hin, dass wir uns wiederholen: Der Pressekodex sagt recht deutlich, was bei der Berichterstattungen über Situationen wie aktuell in Nizza in Ordnung ist und was nicht:
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird. […]
Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.
Am vergangenen Samstag starb bei einem Stierkampf in Spanien ein Torero. In der Arena von Teruel stach ein Stier dem 29-jährigen Matador Victor Barrio mit einem Horn in die Brust. Manche Portale berichten, dass dabei Barrios Herz verletzt worden sei, andere schreiben, Lunge und Halsschlagader seien getroffen worden. Jedenfalls starb Victor Barrio an den Folgen seiner Verletzung noch vor Ort — alles gut dokumentiert, da der Stierkampf live von einem spanischen TV-Sender übertragen wurde.
Der letzte Todesfall eines Stierkämpfers in einer Arena liegt bereits 31 Jahre zurück. Und so erhoben manche Nachrichtenseiten den Unfall vom Samstag direkt zum Jahrhundertereignis:
(Schade, liebe Jahrhundertjournalisten, leider habt ihr die große Chance vertan, aus Victor Barrios Tod gleich ein Jahrtausendereignis zu machen.)
Als wäre das — in Kombination mit mehr oder weniger detaillierten Beschreibungen des Vorfalls und Fotos vom verletzten, leblosen Victor Barrio — nicht schon Sensation genug, wollten manche Redaktionen ihrer Leserschaft nicht die Möglichkeit nehmen, einem Menschen beim Sterben zugucken zu können.
“N24” zeigt beispielsweise in einem Video in Zeitlupe, wie der Stier Barrio aufspießt. Genauso die “BZ”. Die “Huffington Post” bindet Aufnahmen von Victor Barrios Tod gleich in zwei Artikeln ein und will nicht darauf verzichten, in einem der Texte noch einmal extra auf das Material hinzuweisen, damit auch ja niemand etwas verpasst:
Eine Sequenz des Videos zeigt Barrio in Großaufnahme, bereits am Boden liegend, noch leicht zuckend. Es ist extrem würdelos. Diese Szene haben die russischen Propagandisten von “Sputnik” ebenfalls veröffentlicht. (Auf Links zu und Screenshots von den Videos haben wir bewusst verzichtet.)
Und auch Bild.de zeigt Victor Barrio beim Sterben. Auf der Startseite hat das Portal mit diesem Teaser für den Artikel geworben:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Dank der Taktlosigkeit einiger deutscher Redaktionen, können das nun auch alle anderen von zu Hause aus am Computer.
Es ist zum Verzweifeln. Da passieren so unfassbar schlimme Dinge, und dann kommen Journalisten und berichten, als hätten sie aus alldenbisherigenKatastrophen nicht das Geringste gelernt.
Aber wir wollen mit einem Positivbeispiel anfangen. Ein paar Medien haben gestern in unseren Augen einen richtig guten Job gemacht. Besonders aufgefallen ist uns “Zeit Online”, wo den ganzen Tag über sorgfältig und unaufgeregt erklärt wurde, „was wir wissen“ …
… und was nicht:
Viele andere Medien haben dagegen wieder den gewohnten Weg eingeschlagen, den mit Krach und ohne Besinnung.
***
Liebe Zuschauer, anlässlich der Terroranschläge in Belgien haben wir den gewohnten Programmablauf verändert und senden jetzt im Breaking-News-Modus.
Und da haben wir schon das erste Problem: Sie versprechen Breaking News, also brauchen sie Breaking News, und wenn es keine Breaking News gibt, na dann … nehmen sie halt irgendwas.
Wenn selbst die Börse nix hergibt, kann man ja immer noch irgendeinen Experten befragen, der dann alle “möglichen Szenarien” durchgeht und die “denkbaren Motive” der “angeblichen Attentäter” skizziert oder Sachen sagt wie …
Das ist natürlich jetzt alles Spekulation, aber es sieht ganz danach aus, dass das so ist.
Oder man kann, wie n-tv, zu einem Reporter schalten, der „nur 300 Kilometer von Brüssel entfernt“ steht, nämlich am Frankfurter Flughafen, um zu berichten, dass auch in Frankfurt „die Angst ein bisschen mitfliegt“.
Mutmaßungen werden zu Cliffhangern und Clickbaits, jede Kleinigkeit zur +++Sensation+++
***
Doch das ist alles nicht so tragisch, wenn die Fakten wenigstens stimmen.
Dieses Video wurde gestern Vormittag von vielen Medien verbreitet. Zunächst von belgischen wie dem Sender VRT.
Kurz darauf (unter anderem) vom ZDF:
… von RTL …
… Phoenix …
… „Focus Online“ …
… der „Huffington Post“ …
… dem „Kurier“ in Österreich …
… “TMZ” in den USA …
… stern.de …
… und der „Tagesschau“:
Als Quelle steht da: „Überwachungskamera“. Stimmt. Nur: Dieses Video aus dieser Überwachungskamera ist fünf Jahre alt und zeigt einen Anschlag in Russland. Irgendwer hat einfach das Datum von gestern eingebaut und das Video neu bei Youtube hochgeladen.
In diesem Fall hätten die Medien außerdem schon allein wegen des Zeitpunkts misstrauisch werden müssen. So ein Video kann ja eigentlich nur von der Polizei oder vom Sicherheitspersonal des Flughafens kommen, und die hatten so kurz nach dem Anschlag sicherlich Besseres zu tun, als Überwachungsvideos bei Youtube hochzuladen.
Inzwischen haben die meisten Medien das Video kommentarlos gelöscht. Der Sender VRT hat sich immerhin entschuldigt:
Und die „Huffington Post“ hat aus dem ursprünglichen Clickbait …
… einen neuen gebastelt:
***
Besonders panisch wurde es gestern, als diese „erschreckende Meldung“ (n-tv) reinkam:
Der Moderator gab sich geschockt — und große Mühe, dieses Gefühl auch bei den Zuschauern auszulösen:
Ein Atomkraftwerk ist natürlich ein Anschlagspunkt … da stehen einem die Haare zu Berge!
Kaum vorstellbar, dass es zu einem atomaren Zwischenfall kommen könnte, provoziert durch Terroristen!
Allein die Vorstellung ist natürlich ein absolutes Horrorszenario!
Tatsächlich war die Sache weit weniger dramatisch. „Zeit Online“ schrieb kurz nachdem die Meldung herumgereicht worden war:
Entwarnung aus den Atomkraftwerken in Belgien: Der Betreiber Electrabel hat klargestellt, dass keine Evakuierung laufe. Vielmehr seien auf Anforderung der Behörden alle Mitarbeiter, die nicht zwingend für den Betrieb benötigt würden, gebeten worden, nach Hause zu gehen. Der Schritt sei aus Sicherheitsgründen erfolgt.
Der Betreiber selbst twitterte:
Außerdem rieten die Behörden nicht nur den Atomkraftwerken, sondern auch anderen Einrichtungen, ihre Mitarbeiter nach Hause zu schicken, der Universität zum Beispiel, auch der Justizpalast wurde evakuiert. In die Eil-Schlagzeilen schaffte es aber nur das hier:
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Was bei der post-katastrophalen Breaking-News-Raterei selbstverständlich nicht fehlen darf, sind Mutmaßungen über den oder die Täter.
Der Schweizer „Blick“ präsentierte schon um 13 Uhr, als noch so gut wie gar nichts feststand, einen Kandidaten:
(Der Mann ist der mutmaßliche Komplize des Terroristen, der am Freitag in Brüssel festgenommen wurde.)
Ein paar Stunden später hatten auch deutsche Medien drei Verdächtige ausgemacht:
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei immer noch keine offiziellen Fahndungsfotos veröffentlicht.
… und trotzdem wurde es sofort verbreitet.
Erst zwei Stunden später veröffentlichte die belgische Polizei offizielle Fahndungsfotos, auf denen dieselben Männer zu sehen sind.
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Und dann gab’s natürlich: Opferfotos.
Die Leute von „Bild“ vertreten ja die Auffassung, dass man Selbstzensur betreibe und ein Feind der Pressefreiheit sei, wenn man Menschen verpixelt oder auf die Nennung grausamer Einzelheiten verzichtet. Weil man die Welt dann nicht so zeige, wie sie ist.
Nachdem „Bild“-Reporter Alexander Blum einige Fotos von Verletzten getwittert hatte und dafür kritisiert worden war, schrieb er:
Nach der Logik der „Bild“-Menschen ist es in Ordnung, ja sogar notwendig, die Gesichter von Opfern zu zeigen, ihre Verletzungen, das Blut, den HORROR in all seinen grausamen Details. Denn wer verpixelt, der verhindere, dass der Schrecken ein Gesicht bekommt. Wer verpixelt, schade den Opfern.
Darum zeigt „Bild“ — alles.
(Unkenntlichmachung — auch in allen anderen Screenshots — von uns.)
Einige davon wurden auch groß auf der Startseite gezeigt.
Auch in der Print-Ausgabe hat „Bild“ heute welche abgedruckt: Großaufnahmen von schwer verletzten Menschen, panische, blutüberströmte, unverpixelte Gesichter.
Eines der Fotos zeigt eine Frau, die sich kurz nach der Explosion auf einer Bank festklammert, die Schuhe zerfetzt, die Bluse zerrissen, man sieht ihren BH, ihren nackten Bauch, ihr blutiges Gesicht, das direkt in die Kamera guckt.
„Bild“ hat es gestern auf der Startseite präsentiert und heute groß in der Print-Ausgabe (oben links):
Und es diente „Bild“-Online-Chef Julian Reichelt als Hintergrundkulisse für ein Interview:
Und weil wir wissen, dass hier einige “Bild”-Menschen mitlesen, zum Schluss eine Bitte: Stellen Sie sich nur mal kurz vor, die Frau, die da liegt, nach einer Explosion, blutend, hilflos, völlig geschockt, in Unterwäsche, das wäre Ihre Mutter. Und dann würde jemand ein Foto von ihr machen und es mit der ganzen Welt teilen. Stellen Sie sich das nur mal vor.