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Gefährliche Berichte zum Tod von Avicii

Sie wissen es. Sie wissen ganz genau, was ihre Artikel anrichten können. Sie wissen, wie katastrophal die Folgen sein können, wenn sie detailliert über Suizide berichten. Und trotzdem machen sie es.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe.

… schreibt Bunte.de.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Der Grund ist die hohe Nachahmerquote.

… schreibt die Onlineredaktion der “Berliner Zeitung”.

BILD berichtet in der Regel nicht über Selbsttötungen, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit.

… schreibt Bild.de.

Also eigentlich wollen sie ja gar nicht berichten, die Leute bei Bunte.de, bei der “Berliner Zeitung”, bei Bild.de und bei all den anderen Portalen, die aktuell über den angeblichen Suizid des schwedischen DJs Avicii berichten: Express.de, inFranken.de, Kurier.at, Rollingstone.de, Heute.at, Musikexpress.de, oe24.at. Aber, hey: die “besondere Aufmerksamkeit”! Es ist Avicii! Da kann man ja gar nicht anders. Und dann machen sie es eben doch: berichten, obwohl sie den “Werther-Effekt” kennen, der beschreibt, dass eine ausführliche Berichterstattung über einen Suizid zu Nachahmungen führen kann; obwohl sie wissen, dass die Nennung der Suizidmethode Leserinnen und Leser in Gefahr bringen kann; obwohl sie die wichtigen Ratschläge der “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” (PDF) und der “Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention” (PDF) kennen oder zumindest kennen könnten.

Die Redaktionen fügen seit ein paar Jahren einen Absatz in ihre Artikel ein, in denen die oben zitierten Sätze stehen und dazu noch die Telefonnummern der TelefonSeelsorge (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222), an die sich Menschen mit Suizid-Gedanken wenden können. Das ist eigentlich sinnvoll, aber inzwischen auch nur noch eine Alibihandlung. Als wäre ein kurzer Hinweis auf die TelefonSeelsorge für die Redaktionen ein Freifahrtschein, der sie dazu berechtigt, alles zu schreiben: “Wir nennen hier in diesem Artikel mal all die Details, die Dich in Deinen Suizid-Gedanken bestärken könnten, und hier ist übrigens die Nummer, an die Du Dich wenden kannst, wenn wir Dich damit in Gefahr gebracht haben sollten.”

Im aktuellen Fall schreiben sie wirklich alles, und das im größtmöglichen Format. Bild.de nennt die Suizidmethode in der Überschrift auf der Startseite (!):

Screenshot Bild.de - US-Klatschportal TMZ berichtet über Suizid - Avicii beendete seine Leben mit ...
(Unkenntlichmachung durch uns.)

“Focus Online” nennt die Methode zwar nicht, schickt dafür aber gleich vier Tweets (dreimal von @focusonline selbst, einmal von @focuskultur und von @focusonline retweetet) an die knapp 520.000 Follower, damit’s auch ja niemand verpasst.

Und wiederum die “Bild”-Redaktion sendet eine Push-Meldung an alle App-Nutzer:

Screenshot einer Bild-Push-Meldung - TMZ berichtet über Suizid: So starb Star-DJ Avicii

Das ist dann nicht nur bedenklich in Hinsicht auf den “Werther-Effekt”, sondern auch ekeligster Clickbait mit dem Tod eines Menschen.

“Bild” macht mit “ABSCHIEBE-IRRSINN” Stimmung

Um der eigenen Leserschaft den nächsten “Irrsinn” … Pardon, “IRRSINN” präsentieren zu können, stellen “Bild” und Bild.de nun auch recht logische Vorgänge als komplett unverständlich dar. Heute wundert sich die Redaktion über einen “ABSCHIEBE-IRRSINN”:

Screenshot Bild.de - Abschiebe-Irrsinn - Afghanen schicken uns diesen Terroristen zurück
(Alle Unkenntlichmachung in diesem Beitrag durch uns.)

Vor rund acht Wochen haben afghanische und us-amerikanische Einsatzkräfte ein Taliban-Versteck im Süden Afghanistans gestürmt und dabei Thomas K. festgenommen. Was bei der “Bild”-Überschrift sicherlich nur aus Versehen nicht direkt klar wird: Der Mann ist Deutscher. Er soll Taliban-Kämpfer sein und wurde vor wenigen Tagen per Flugzeug nach Deutschland gebracht. Ein Deutscher, offenbar Terrorist, der von den afghanischen Behörden nach Deutschland zurückgeschickt wird — klingt erstmal ganz sinnig. Wohin sollte Afghanistan ihn sonst abschieben? Nach Uruguay? Nach Papua-Neuguinea?

Ständig fordert “Bild” von den zuständigen Behörden, von der Bundesregierung, von allen, dass kriminelle Ausländer schneller und konsequenter aus Deutschland in ihre Heimatländer abgeschoben werden sollen. Nun schiebt Afghanistan einen kriminellen — aus afghanischer Sicht — Ausländer in sein Heimatland ab, und die “Bild”-Leute krähen “ABSCHIEBE-IRRSINN”:

Wenn Deutschland islamistische Gefährder oder Kriminelle abschieben will, dauert das oft Jahre oder geht gar nicht.

In die andere Richtung geht’s ganz schnell! Acht Wochen, nachdem der deutsche Taliban-Kämpfer Thomas K. (36) in Afghanistan gefasst wurde, landete er jetzt schon in Düsseldorf.

Dass Abschiebungen in die eine Richtung, aus Afghanistan nach Deutschland, eher funktionieren als in die andere, aus Deutschland nach Afghanistan, hat mitunter gute Gründe. Einer davon: In Deutschland gibt es einen funktionierenden Rechtsstaat, der garantiert, dass abgeschobene Personen nicht gefoltert werden, und die Sicherheit, dass sie nicht von Milizen umgebracht werden.

In der gedruckten “Bild” gehört zum “ABSCHIEBE-IRRSINN” noch ein zweiter Artikel:

Ausriss Bild-Zeitung - Abschiebe-Irrsinn - Afghanen schicken uns diesen Terroristen zurück - aber bin Ladens Leibwächter werden wir angeblich nicht los

“Bin Ladens Leibwächter” ist ein 41-jähriger Tunesier, der als “Gefährder” gilt und sich jeden Tag bei der Polizei melden muss. Er lebt seit 1997 in Deutschland, soll zwischenzeitlich im Ausland in einem Terror-Camp ausgebildet worden und in die Leibgarde von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden aufgestiegen sein. Er wohnt mit seiner Familie in Bochum. Eine Abschiebung nach Tunesien verhindert ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, das ein “sehr hohes Risiko” sieht, dass dem Mann dort “Folter und unmenschliche Behandlung” drohen. Das mag für “Bild”-Populisten gänzlich unverständlich sein, aber: Der Schutz des Rechtsstaats gilt auch für Menschen, die ihn in ihrer Ideologie ablehnen. Damit die Abschiebung nun doch noch klappt, präsentieren verschiedene Politiker in “Bild” eine Idee: Tunesien solle Deutschland zusichern, dass der Tunesier nach seiner Rückkehr nicht gefoltert wird. Genial.

Über den Fall des Mannes berichten “Bild” und Bild.de schon seit einigen Tagen durchgehend, auch weil er “1100 Euro Stütze” im Monat kassiere, was nun auch etwas ungenau ist: Die Summe bekommt nicht nur er, sie bezieht sich auf staatliche Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für ihn, seine Frau und vier Kinder. In den Kommentaren unter dem zugehörigen Facebook-Post der Redaktion äußert die “Bild”-Leserschaft ihre Tötungsfantasien (“Erschießen und gut ist …..”, “Ein Magizin und Thema hat sich erledigt”).

Doch zurück zum “ABSCHIEBE-IRRSINN” von heute. Schon klar, bei wem dieser Alarmismus gut ankommt:

Screenshot eines Tweets der AfD Bayern mit Link zum Bild.de-Artikel
Screenshot eines Tweets Seite AfD Support mit Link zum Bild.de-Artikel
Screenshot eines Posts der Facebook-Seite Widerstand Dresden mit Link zum Bild.de-Artikel
Screenshot eines Posts der Facebook-Seite Deutschland braucht die Wende mit Link zum Bild.de-Artikel

In den Kommentaren zum Facebook-Post der “Bild”-Redaktion kann man schön sehen, dass auch die Leserinnen und Leser es völlig abwegig finden, dass ein Deutscher nach Deutschland abgeschoben wird (oder dass sie nur die irreführende Überschrift und nicht den Artikel gelesen haben und daher gar nicht wissen, dass es sich um einen Deutschen handelt):

Warum lassen die USA,,die Tote zu Beklagen haben,,den Mann frei,,oder die Afghanische Armee,,da stimmt doch was nicht?? Er gab Informationen über die Taliban,, darum nach Deutschland,, Schutzhaft?? Fragen,,die nicht von Behörden beantwortet werden, und die Mütter haben Angst um Ihre Kinder,,

Das ist so was von lächerlich was hier abgeht.
Da fehlen mir echt die Worte.
Können wir nach einfach sagen … Nö den nehmen wir nicht zurück, der könnte ja kriminell sein. Die Länder von den Scheinsylanten machen es doch genau so.

Ach nee … wir sind ja hier in der Bananenrepublik Deutschland. Da kommt jeder rein selbst ohne Pass , aber keiner mehr ohne Pass raus.

LÄCHERLICH !!!!!!!!!!!!!!!

In zwei wochen hat er ein Deutsche pass.good old Germany.

Mit Dank an Christian S. und @MCalavera für die Hinweise!

“Bild” könnte sich laut “Bild” mehrfach strafbar gemacht haben

Manchmal stehen in der “Bild”-Zeitung auch interessante Sätze. Zum Beispiel am vergangenen Samstag in der Leipzig-Ausgabe:

Wenn sich das so bestätigt, ist das ohne Frage eine widerliche Tat. Aber klar sollte auch sein: Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Oder leicht abgewandelt ebenfalls am Samstag bei Bild.de:

Wenn sich das so bestätigt, ist das ohne Frage eine widerliche Tat. Allerdings: Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich möglicherweise strafbar machen.

Das, was sich “so bestätigen” könnte, ist ein Vorfall vom vergangenen Dienstag im sächsischen Schkeuditz. Dort soll ein Mann beim örtlichen Reitverein eine Stute mit einem stockähnlichen Gegenstand missbraucht haben. Eine Überwachungskamera lieferte Fotos des Mannes, die eine Pferdewirtin auf Zettel druckte, die sie wiederum in der Region verteilte. Die FDP Nordsachsen verbreitete die Aufnahmen des Mannes, ebenfalls ohne Unkenntlichmachung, auf der eigenen Facebook-Seite und fragte dazu: “Wer kennt diesen Mann?”

Darüber berichteten dann auch “Bild” und Bild.de:

Screenshot Bild.de - Polizei verärgert über Facebook-Post - FDP suchte nach mutmaßlichem Pferdeschänder
Ausriss Bild-Zeitung - Polizei verärgert über Facebook-Aufruf - Nordsachsen-FDP fahndet nach mutmaßlichem Pferdeschänder

Diese Fahndung sei nicht in Ordnung, sagt ein Polizeisprecher in “Bild”:

“Wir fangen erst an zu ermitteln und haben längst nicht alle Mittel ausgeschöpft. Eine Öffentlichkeitsfahndung ist dabei die letzte Maßnahme!”

Im Anschluss weisen die “Bild”-Medien in der bereits zitierten Passage darauf hin, dass man sich mit einem privaten Fahndungsaufruf strafbar machen könne.

Es ist gut und wichtig, dass die “Bild”-Redaktion mal so deutlich Position bezieht zu Fahndungsaufrufen, die nicht durch Gerichte angeordnet wurden. Denn als “Bild”-Leserin oder -Leser könnte man fast meinen, dass derartige Fahndungsaufrufe von Privatleuten oder Privatunternehmen das Geilste sind, wo gibt völlig in Ordnung sind.

Zur Erinnerung: So sah die “Bild”-Titelseite wenige Tage nach den Ausschreitungen rund um das G20-Treffen in Hamburg aus:

Ausriss Bild-Titelseite - Gesucht! Wer kennt diese G20-Verbrecher?
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Die “Bild”-Redaktion veröffentlichte im vergangenen Juli diesen Fahndungsaufruf in Millionenauflage, Vorverurteilung inklusive. Eine Öffentlichkeitsfahndung der Polizei gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir zitieren an dieser Stelle gern die Leipziger “Bild”-Ausgabe vom vergangenen Samstag:

Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Anderes Beispiel. Im vergangenen Oktober hat in Hamburg ein Mann seine eigene Tochter getötet und ist dann geflohen. Polizei und Staatsanwaltschaft verzichteten auf eine Öffentlichkeitsfahndung, weil man noch über erfolgsversprechende Ermittlungsansätze verfügte, die am Ende auch zur Festnahme des Mannes führten. Bild.de fragte bereits wenige Stunden, nachdem der Tod des Kindes bekannt geworden war, ungeduldig:

Warum fahndet die Polizei nicht öffentlich nach dem Killer?

Ein paar Tage später — es gab weiterhin keine Öffentlichkeitsfahndung durch die Polizei — reichte es den “Bild”-Medien. Sie veröffentlichten, ohne irgendeine Verpixelung, ein Foto des damals Tatverdächtigen:

Screenshot Bild.de - Dringend gesucht - Das erste Foto des Kinder-Killers

Noch einmal:

Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Man muss aber nicht mal ins Archiv schauen, um auf die “Bild”-Bigotterie zu stoßen. Es reicht schon, in derselben Leipziger “Bild”-Ausgabe, aus der die Aussage zu privaten Fahndungsaufrufen stammt, vier Seiten zurückzublättern. Dann landet man im überregionalen Teil und bei dieser Geschichte:

Ausriss Bild-Zeitung - Ständig kriegt Marianne Fotos der Diebe - Diese Jungs haben mein Handy geklaut

Nicht nur Marianne “kriegt (…) Fotos der Diebe” zu sehen, sondern auch die gesamte “Bild”- und Bild.de-Leserschaft. Sowohl online als auch in der Printausgabe zeigt die Redaktion ein unverpixeltes Foto der zwei Jungen, die die 70-Jährige beklaut haben und laut “Bild” “etwa zehn Jahre alt” sein sollen. Etwa zehn (!) Jahre alt.

Im Artikel sagt ein Polizeisprecher:

“Wir haben die Fotos der Jungen gesichert und fahnden jetzt nach ihnen.”

Es braucht also keine zusätzliche, mediale Fahndung nach zwei Kindern durch “Bild” und Bild.de. Zumal man sich mit dieser “strafbar machen” könnte. Das stand jedenfalls mal in “Bild”.

Mit Dank an Thomas, andreas und Alex F. für die Hinweise!

Gefährliche Suizid-Berichterstattung von “Bild” und Bild.de

Es ist eine wirklich positive Entwicklung: Wenn Redaktionen über Suizide berichten, dann binden sie inzwischen fast immer einen kleinen Kasten in ihre Artikel ein, in dem die Leserschaft die Internetadresse der “TelefonSeelsorge” (telefonseelsorge.de) sowie die kostenlosen Telefonnummern (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) der Organisation finden kann.

In der heutigen Düsseldorf-Ausgabe der “Bild”-Zeitung gibt es auch einen solchen Kasten. Er ist überschrieben mit “Selbstmordgedanken? Hier bekommen Sie Hilfe” und endet mit den Worten: “Unter der kostenlosen Hotline (…) erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.” Wie gesagt: Das ist gut. Aber es ist fragwürdig, wie ernst die Redaktion es wirklich mit der Suizidprävention rund um ihre Berichterstattung meint.

Der Hinweis zur “TelefonSeelsorge” gehört zu einem Artikel über einen 17-Jährigen, der sich das Leben genommen hat:

Ausriss Bild-Zeitung - Todesdrama um 17-jährigen Busfahrer - B. fuhr Passagiere ohne Führerschein. Als er aufflog, nahm er sich das Leben
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Auch bei Bild.de erschien der Artikel, weit oben auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - Als er aufflog, nahm er sich das Leben - Todesdrama um 17-jährigen Busfahrer B.

Der Junge hatte eine Ausbildung zum Busfahrer begonnen und ist — ohne den nötigen Busführerschein — reguläre Linienbusse mit Fahrgästen durch Wuppertal gefahren. Nach einigen Fahrten ist er aufgeflogen. Die “Wuppertaler Stadtwerke” sollen laut “Bild” daraufhin Schlüssel und Dienstausweis zurückgefordert und dem Jungen Hausverbot erteilt haben. Die “Bild”-Autorin schreibt dazu einen ausgesprochen bedenklichen Satz:

Bis ihn die Wuppertaler Stadtwerke (WSW) bei einer seiner illegalen Touren erwischten. Da sah B(.) keinen Ausweg — und nahm sich das Leben.

Es gibt verschiedene Leitfäden für Medien, wie sie — wenn sie denn unbedingt wollen — am besten über Suizide berichten sollten. Denn seit Jahrzehnten zeigt sich, dass eine intensive Berichterstattung über Suizide zu weiteren Suiziden durch Nachahmer führen kann (“Werther-Effekt”). Rücksichtslose Schlagzeilen und Artikel können Menschenleben kosten. Einer dieser Leitfäden stammt von der “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” (PDF), ein anderer von der “Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention” (PDF). In beiden Leitfäden wird vor einem solchen Satz, wie ihn “Bild” und Bild.de heute veröffentlichen, gewarnt:

In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, zum Beispiel den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen beziehungsweise den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe “in den Suizid getrieben”. (“Für ihn gab es keinen Ausweg”)

… schreibt die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention”. Und die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” schreibt:

Nachahmung setzt Identifikation voraus. Diese Gefahr steigt, wenn der Suizid als nachvollziehbare Reaktion oder als einziger Ausweg bezeichnet wird

Der so wichtige Ausweg, den es so gut wie immer gibt und mit dem “Bild” die Hotline der “TelefonSeelsorge” bewirbt, fehlt im “Bild”-Beitrag komplett.

Und auch weitere Aspekte, die in den Medienleitfäden gennant werden, missachtet der Artikel:

  • Die “Bild”-Medien berichten groß und ausführlich und prominent platziert über den Fall (im Leitfaden steht: “Diese Gefahr steigt, wenn durch Titelgeschichten, Schlagzeilen und Fotos Aufmerksamkeit erregt wird”).
  • “Bild” (im Blatt) und Bild.de (auf der Startseite) zeigen ein unverpixeltes Foto des Jungen, vermutlich mit Erlaubnis der Eltern. Jedenfalls hat die “Bild”-Autorin mit den Eltern gesprochen, Zitate der Mutter kommen im Artikel vor, genauso ein Foto der Eltern (im Leitfaden steht: “In der Berichterstattung sollte vermieden werden, ein Foto der betreffenden Person (besonders auf der Titelseite) zu präsentieren”).
  • Die “Bild”-Autorin nennt die Suizidmethode, den (anonymen) Ort sowie weitere Details zum Suizid (im Leitfaden steht: “Diese Gefahr steigt, wenn die Suizid-Methode detailliert beschrieben wird”).

Ja, es hat sich einiges verbessert bei der Berichterstattung über Suizide, auch bei den “Bild”-Medien. Es bleibt aber vieles, was sich noch verbessern muss.

Jens R.

“Spiegel Online” schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Spiegel Online - Amoktäter von Münster - Wie Jens R. sein Leben entglitt - Der Amokfahrer von Münster hatte wohl schon als Kind Suizidgedanken. Jens R. flüchtete sich später in Verschwörungsideen und zeigte nach SPIEGEL-Informationen seinen Vater an, als der ihm helfen wollte.

Welt.de schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Welt.de - Folgenschwerer Sturz - Wie konnte Jens R. zum Mörder werden?

FAZ.net schreibt von “Jens R.”:

Screenshot FAZ.net - Amokfahrer von Münster - Das rätselhafte Leben des Jens R.

Stern.de schreibt von “Jens R.”:

Screenshot stern.de - Amokfahrt von Münster - Es liegt der Verdacht nahe, dass Jens R. eine paranoide Schizophrenie hatte

Tagesspiegel.de schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Tagesspiegel.de - Täter von Münster - Hatte der Amokfahrer Jens R. Kontakte zu Rechtsextremisten?

“Zeit Online” schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Zeit Online - Jens R. - Täter von Münster wollte Suizid begehen - Jens R. handelte laut neuen Erkenntnissen in Selbstmordabsicht. Die Ermittler dementierten Berichte, wonach er seine Tat kurz zuvor andeutete.

Süddeutsche.de schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Süddeutsche.de - Anschlag in Münster - Jens R. gegen den Rest der Welt

Selbst “Focus Online” schreibt von “Jens R.”:

Screenshot Focus Online - Psychologe erklärt das Unfassbare - Jens R. machte Eltern Vorwürfe - Psychologe zweifelt an Kindheitstrauma als Amok-Auslöser

So gut wie jede Redaktion in Deutschland schreibt von “Jens R.”, wenn sie über den Mann berichtet, der bei seiner Amokfahrt am Samstagnachmittag in Münster zwei Menschen tötete und viele weitere verletzte — mit einer Ausnahme: “Bild” und Bild.de. Nur die “Bild”-Medien nennen den kompletten Namen des Attentäters, ohne Rücksicht etwa auf dessen Familie:

Ausriss Bild-Zeitung - Das Protokoll der Amok-Fahrt von Münster - Um 15.27 Uhr fuhr Jens Nachname Volleyball-Star Chiara ins Koma
Screenshot Bild.de - Amokfahrer von Münster schrieb Jammer-Brief im Tatfahrzeug - Psychotherapeut analysiert 92 Seiten Abschiedsbrief von Jens Nachname
(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)

Dazu auch:

Mit Dank an @FrauBeng, @bluejacket12346 und @jujohol für die Hinweise!

Ist Bild.de doch egal, worum das BKA bittet

Das Bundeskriminalamt (BKA) konnte in der vergangenen Nacht bei Twitter einen Fahndungserfolg melden:

Screenshot eines Tweets des Bundeskriminalamts - Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern - Fahndung ist erfolgreich beendet. Festnahme des Tatverdächtigen. Wir sagen Danke! Bitte löschen Sie alle geteilten Bilder. Weitere Informationen werden hier im Laufe des Tages veröffentlicht.

Nach dem Verdächtigen wurde seit gestern per Öffentlichkeitsfahndung gesucht. Zahlreiche Medien zeigten das Gesicht des Mannes, der zwei Jungen missbraucht, Aufnahmen von ihnen gemacht und diese Kinderpornographie in Foren verbreitet haben soll. Die Bitte des BKA, die Fotos, die den Verdächtigen zeigen, nun zu löschen, erscheint logisch: Die Fahndung ist abgeschlossen, der Verdächtige geschnappt — warum also weiter sein Gesicht zeigen?

Ja, Mitarbeiter von Bild.de, warum also weiter sein Gesicht zeigen?

Screenshot Bild.de-Startseite - Nach Öffentlichkeitsfahndung - Kinderschänder von Viersen gefasst - mit unverpixeltem Foto des Verdächtigen
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

In dem Artikel zur Festnahme des Gesuchten, den die Redaktion heute morgen auf ihrer Startseite anteaserte, hat sie auch den Tweet des BKA eingebettet, in dem die Behörde um die Löschung der Fotos bittet. Dieser Artikel startet so:

Screenshot eines Bild.de-Artikels - Zu sehen ist die Überschrift Kinderschänder von Viersen gefasst und direkt darunter das Gesicht des Tatverdächtigen in Großaufnahme

Etwas weiter unten im Text folgt dann der BKA-Tweet:

Screenshot des Bild.de-Artikels - Zu sehen ist der eingebettete BKA-Tweet

Ein paar Stunden später hat Bild.de einen weiteren Text zu der Festnahme gebracht — wieder mit dem BKA-Tweet, wieder mit einem unverpixelten Foto des Verdächtigen. Und wieder hat die Redaktion den Beitrag prominent auf der Startseite verlinkt:

Screenshot Bild.de-Startseite - Leberflecke überführen Kinderschänder - mit unverpixeltem Foto des Verdächtigen

Wir haben bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, warum Bild.de das Gesicht des Mannes ohne jegliche Unkentlichmachung zeigt und ob der Redaktion die Bitte des Bundeskriminalamts egal ist. Bisher haben wir keine Antwort erhalten.

Dass es auch anders geht, zeigen die “Springer”-Kollegen der “B.Z.”: Auf deren Website ist ebenfalls ein Artikel zu der Festnahme erschienen, auch sie haben den BKA-Tweet eingebettet — und über das Gesicht des Verdächtigen immerhin einen großen schwarzen Balken gelegt.

Dazu auch:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Resozialisierung? Nicht mit “Bild”!

Zwischen Donnerstag und Samstag vergangener Woche muss irgendetwas passiert sein, das nur die “Bild”-Medien mitbekommen haben. Jedenfalls schien der am Donnerstag für “Bild” und Bild.de offenbar noch geltende Anspruch von Dieter Degowski auf Resozialisierung am Samstag aus Sicht von “Bild” und Bild.de nicht mehr zu gelten.

Degowski, einer der zwei Täter bei der Geiselnahme von Gladbeck im August 1988, ist seit dem 15. Februar dieses Jahres wieder auf freiem Fuß. Er hat seine lebenslange Freiheitsstrafe abgesessen, im Gefängnis eine Therapie absolviert, eine Ausbildung gemacht, der Rechtsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen urteilte, dass von Degwoski keine Gefahr mehr ausgehe. Dass seine Entlassung für die Angehörigen der zwei bei der Geiselnahme getöteten Menschen wahnsinnig schmerzhaft sein kann, steht außer Frage.

Nach der Ausstrahlung von Teil 1 des erfolgreichen Gladbeck-Zweiteilers im “Ersten” titelte “Bild” am Donnerstag:

Ausriss Bild-Titelseite - Millionen sahen den ARD-Film - Das Leben der Gladbeck-Gangster heute

Im Blatt zeigte die Redaktion ein aktuelles Foto von Dieter Degowski, das Gesicht hatte sie verpixelt.

Zwei Tage später schreibt Rainer Fromm, ein Fotograf, der für “Bild” bei dem Geiseldrama dabei war und zur Medienmeute gehörte:

Ausriss Bild-Zeitung - Es ist eine Schande, dass Degowski frei rumläuft

Dass Fromm schreibt, Degowski sehe “noch genauso dümmlich aus wie damals” — geschenkt. Und es ist auch völlig legitim, es schwer auszuhalten und falsch zu finden, dass der einstige Geiselnehmer wieder in Freiheit leben darf, während der von ihm erschossene Emanuele De Giorgi nicht älter als 15 Jahre werden konnte. Wirklich problematisch ist, dass die “Bild”-Medien ein neues Foto von Degowski zeigen, ohne dabei sein Gesicht unkenntlich zu machen:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht der ganzen Seite mit dem Degowski-Foto
Screenshot Bild.de - Foto von Dieter Degowski
(Unkenntlichmachungen — auch beim Foto des blutverschmierten Emanuele De Giorgi, das “Bild” ohne Rücksicht auf Angehörige zeigt — durch uns.)

Damit könnte die Redaktion die Resozialisierung Degowskis enorm erschweren. Es ist im Interesse der Gesellschaft, dass dessen Wiedereingliederung, die jedem Ex-Häftling zusteht und die nicht von den “Bild”-Mitarbeitern nach Gutdünken mal zugelassen werden kann und mal nicht, klappt — schließlich erhöht sie die Chance, dass er nicht rückfällig wird. Für diesen Zweck hat Degowski auch die Erlaubnis bekommen, seinen Namen zu ändern. Am Donnerstag schrieb “Bild” zur Namensänderung:

Den neuen Namen bekam Degowski auch, weil befürchtet wird, dass die Mafia den Mord an dem italienischen Jungen Emanuele de Giorgi rächen könnte.

Sollte das stimmen, kennt die Mafia jetzt vielleicht noch nicht den Aufenthaltsort von Dieter Degowski und auch nicht den neuen Namen. Aber dank “Bild” und Bild.de hat sie immerhin ein aktuelles Foto.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

“Außerdem dazu, das Video der schrecklichen Tat”

Im baden-württembergischen Laupheim wurde am Dienstagabend eine 17-Jährige lebensgefährlich mit einem Messer verletzt. Es soll sich um einen versuchten Ehrenmord handeln. Das Mädchen ist nach islamischem Recht mit einem deutlich älteren Mann verheiratet und wollte sich angeblich von ihm trennen. Der Bruder des Mädchens räumte nach seiner Festnahme ein, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Das Mädchen ist inzwischen außer Lebensgefahr.

Die “Bild”-Zeitung berichtet heute auf ihrer Titelseite über den grauenhaften Fall:

Ausriss Bild-Titelseite - Scharia-Gericht im Kinderzimmer - Bruder rammt seiner Schwester Messer in die Brust - Schwer verletzt - Familie dreht Video von der Tat

Bei Bild.de ist die schreckliche Geschichte seit einigen Stunden ganz oben auf der Startseite zu finden:

Screenshot Bild.de - Scharia-Gericht im Kinderzimmer - Bruder rammt seiner Schwester Messer in die Brust - Schwer verletzt - Familie dreht Video von der Tat - Mit Video
(Unkenntlichmachung des Bruders durch uns — wir wollen diesem verachtenswerten Typen nicht auch noch eine Plattform bieten. Unkenntlichmachung des Mädchens durch Bild.de)

Jeder, der beim Hinweis “MIT VIDEO” schon zusammenzuckt, wird beim Klick auf den Artikel bestätigt. Für Leser ohne “Bild plus”-Abo erscheint folgender Teaser:

Mit BILDplus lesen Sie das grausame Protokoll einer Familie ohne Gnade, verhaftet in einem vorsintflutlichen Weltbild. Außerdem dazu, das Video der schrecklichen Tat — von der Familie gefilmt.

Wie skrupellos kann man eigentlich sein? Da filmt eine Familie, wie die eigene 17-jährige Tochter gerade dabei ist zu sterben, wie sie ihre Brüder anfleht, einen Krankenwagen zu rufen, wie einer der Brüder in die Kamera sagt, dass er den Anblick, wie seine Schwester stirbt, genieße. Und die Bild.de-Mitarbeiter halten es für eine gute Idee, dieses Video zu zeigen? Das ist billigster, menschenverachtender Sensationsjournalismus. Obendrein versucht die Redaktion, mit dieser abscheulichen Videoaufnahme Abos zu verkaufen.

Unter dem Facebook-Post der “Bild”-Redaktion gibt es ziemlich deutliche Kritik für die Veröffentlichung des Videos. Die Antworten der “Bild”-Redaktion darauf sind bemerkenswert. Etwa:

Es ist nicht unsere Absicht das Opfer bloßzustellen. [Das Opfer] Alaa hat schreckliches erlebt. Ihre Schmerzen und seelischen Qualen sind nicht vorstellbar. Es ist eine Geschichte die erzählt werden muss, denn sie ist mitten in unserem Land passiert. Einem Land in dem sich JEDER Mensch sicher fühlen soll. Die Geschichte von Alaa zu verschweigen, hätte niemandem geholfen. Zumal wir ihre Geschichte sachlich, empathisch erzählen. Aus Rücksicht vor Alaa.

“sachlich, empathisch”? “Aus Rücksicht vor Alaa”? Die Schlagzeile “SCHARIA-GERICHT IM KINDERZIMMER” wirkt auf uns nicht gerade “sachlich”. Das Zeigen des Videos wirkt auf uns nicht gerade “empathisch” und rücksichtsvoll.

An anderer Stelle antwortet die “Bild”-Redaktion:

Gerade den Punkt mit dem Video werden wir mal in der Redaktion zur Diskussion stellen. Das wird dir und allen anderen in diesem Augenblick nicht helfen. Aber es sollte und muss auch darüber gesprochen werden.

Und tatsächlich — das Video ist von Bild.de verschwunden:

Screenshot Bild.de - Scharia-Gericht im Kinderzimmer - Bruder rammt seiner Schwester Messer in die Brust - Schwer verletzt - Familie dreht Video von der Tat - dieses Mal ohne den Hinweis Mit Video

Allerdings nicht, weil die Leute in der Redaktion auf einmal etwas Mitgefühl in sich entdeckt haben, sondern weil die zuständige Staatsanwaltschaft es so wollte. Am Artikelanfang steht nun:

Hinweis der Redaktion: In der Ursprungsversion des Artikels zeigte BILD ein Handy-Video unmittelbar nach der Tat. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft hat BILD gebeten, das Video zu entfernen. Dieser Bitte sind wir selbstverständlich sofort nachgekommen.

Mit Dank an @rumpelwicht23, @LaVieVagabonde und @WaywardKitten93 für die Hinweise!

“Bild”-Richter vorverurteilen “G20-Plünderer”

Bei der von vielen Tiefpunkten geprägten “Bild”-Berichterstattung zu den G20-Ausschreitungen gibt es seit drei Tagen einen neuen Tiefpunkt: Nun (vor)verurteilen die “Bild”-Richter schon jemanden, bei dem einiges dafür spricht, dass er unschuldig ist, und stellen ihn an den Pranger.

Derzeit läuft in Hamburg der Prozess gegen den 30-jährigen Dimitri K.:

Als G20-Chaoten am 7. Juli einen Supermarkt im Schanzenviertel plünderten (Schaden: 1,7 Mio. Euro), soll er mittendrin gewesen sein. Anklage: besonders schwerer Landfriedensbruch.

K. sagt, er sei nicht vor Ort gewesen. Stattdessen sei er am fraglichen Tag mit Schmerzen zu Hause geblieben, schließlich hätten ihn am Vortag Polizisten angegriffen. Die Verlobte von K. bezeugte dessen Aussage.

Doch, so die “Bild”-Medien …

Doch ein verknackter G20-Plünderer identifizierte ihn. Sven B. (19) ist sich sicher: K. war dabei. Die Hals-Tattoos erkenne er wieder, hundertprozentig!

Für den Prozess zwar unerheblich, für die “Bild”-Redaktion aber bemerkenswert: Dimitri K. hat nicht nur ein Hals-Tattoo. Unter seinem rechten Auge hat er das Wort “Fuck” tätowiert und unter dem linken das Wort “Cops”. Was jetzt schon nach einer Folge “Richterin Barbara Salesch” klingt, wird noch besser:

Als der Angeklagte dann aber seine linke Hand zeigte, war plötzlich alles anders. Statt des von B. beschriebenen “187”-Tattoos stehen dort arabische Schriftzeichen. Irritiert änderte der Zeuge seine Aussage: “Ich bin mir sicher, dass er es nicht ist.”

Fassen wir mal zusammen: Ein Angeklagter, der ein Alibi für die Tatzeit zu haben scheint. Ein Zeuge, der den Angeklagten erst schwer belastet und dann komplett umkippt. Eine Tätowierung, die den Angeklagten belasten könnte, die es aber gar nicht gibt. Es sieht aktuell nicht gerade so aus, dass Dimitri K. während des G20-Gipfels “einen Supermarkt im Schanzenviertel” geplündert hat.

Und was machen die “Bild”-Medien? Trotz dieser Entwicklung im Prozess zeigen sie K. vor drei Tagen bei Bild.de unverpixelt ganz oben auf der Startseite und nennen ihn “G20-Plünderer” …

Screenshot Bild.de - G20-Plünderer mit Fuck Cops-Tattoo - Ihm steht der Hass ins Gesicht geschrieben - Dazu ein unverpixeltes Foto von Dimitri K
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

… und drucken vorgestern in der Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung das Foto des angeblichen “Plünderers” ebenfalls ohne jegliche Unkenntlichmachung:

Ausriss Bild-Zeitung - Prozess gegen Plünderer - Der Hass steht ihm ins Gesicht geschrieben - Dazu ein unverpixeltes Foto von Dimitri K

Persönlichkeitsrechte eines möglicherweise Unschuldigen? Sind der “Bild”-Redaktion doch egal. Und sowieso: Unschuldsvermutung? Ist der “Bild”-Redaktion doch egal. Julian Reichelt und sein Team treten elementare Prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens mit den Füßen. Für sie, die sich als Deutschlands oberste Ankläger und Richter sehen, reicht es offenbar, dass jemand angeklagt ist, um diese Person einem Millionenpublikum als Verbrecher zu präsentieren.

Reichelts Verachtung für deutsche Gerichte kann man regelmäßig in seinem Blatt beobachten. Sein gefährliches Rechtsverständnis präsentierte er am vergangenen Montag bei seinem Besuch in der Talkrunde “Hart aber fair”.

Mit Dank an Julia und @DonPepone110 für die Hinweise!

Bild.de macht bei Amokläufer-Inszenierung mit

Wir raten in solchen Fällen immer: Zeigt nicht das Gesicht des Täters, nennt nicht den Namen. Er soll nicht zur “Berühmtheit” werden, sondern dem Vergessen anheimfallen. Das kann Nachahmer abschrecken.

Das sagte der Psychologe Jens Hoffmann in einem Interview nach dem Amoklauf in München im Juli 2016. Seit vielen Jahren warnt er Redaktionen davor, Amokläufer (unfreiwillig) zu Helden der Szene zu machen, indem sie die Täter in der Berichterstattung auf ein Podest heben.

Bei Bild.de scheinen sie von solchen Bedenken nicht viel zu halten. Die Mitarbeiter des Portals nennen — entgegen Hoffmanns Empfehlung — den Namen des Amokschützen, der in Florida 17 Menschen erschossen hat. Sie zeigen — entgegen Hoffmanns Empfehlung — sein Gesicht, zum Beispiel auf einem Foto, das ihn bei der Festnahme zeigt. Beides gehört seit langer Zeit zum “Bild”-Standardprogramm und wird auch von anderen Medien im aktuellen Fall praktiziert.

Bild.de geht in der Berichterstattung über den Amoklauf in Parkland aber noch einen gefährlichen Schritt weiter: Das Portal zeigt Fotos, auf denen sich der Schütze mit Waffen in Szene setzt. Er posiert darauf mit Messern und mit einer Pistole. Das Bild.de-Team tut ihm den Gefallen, diese Inszenierungen einem Millionenpublikum zu präsentieren — groß in einem Artikel und etwas kleiner, aber dafür ganz oben auf der Startseite:

Screenshot der Bild.de-Startseite, auf der Fotos des Amokschützen zu sehen sind, darunter auch ein Foto, auf dem er mit einer Pistole posiert
Screenshot Bild.de - Fotos, auf denen der Amokschütze mit mehreren Messern posiert
(Alle Unkenntlichmachungen durch uns.)

Jens Hoffmann sagt:

Wer die Amokläufer mit Gesicht und vollem Namen zeigt, der macht sie damit zu Helden. Potenzielle Nachahmungstäter sehen das und begreifen, dass eine solche Tat sie unsterblich machen wird.

… und dass ihnen mit ihren Poser-Fotos ein prominenter Platz in den “Bild”-Medien sicher ist.

Es geht hierbei auch gar nicht darum, dass wir beim BILDblog laut “Bild”-Chefchef Julian Reichelt die “Das-darf-man-nicht-Ayatollahs” sind. Es geht schlicht um den gesunden Menschenverstand: Wenn das Veröffentlichen derartiger Fotos auch nur im Ansatz die Gefahr birgt, dass sich Nachahmungstäter dadurch angesprochen und motiviert fühlen, dann muss man eine solche Veröffentlichung unbedingt bleiben lassen.

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