Ende Juni kam die siebenjährige Mary-Jane aus dem thüringischen Zella-Mehlis nach der Schule nicht nach Hause, am nächsten Tag fanden Spaziergänger ihre Leiche. Zwei Wochen später, am vergangenen Freitag, nahm die Polizei einen Tatverdächtigen fest, am Samstag hat er gestanden, das Mädchen sexuell missbraucht und dann getötet zu haben.
Auch “Bild” berichtet heute groß über das Geständnis und bedient sich dabei einer inzwischen liebgewonnenen Formulierung:
SIE HABEN DAS SCHWEIN!
Tino L. (37), ein vorbestrafter Metzger, ermordete das Kind aus Zella-Mehlis (Thüringen). Er war nur auf Bewährung in Freiheit!
Man kann das so verstehen, dass der mutmaßliche Täter schon einmal ein ähnliches Verbrechen begangen hat und die deutsche Justiz (die “Bild” und ihren Lesern immer viel zu lax durchgreift) wieder mal versagt hat. Tatsächlich war er wegen Betäubungsmittel- und Straßenverkehrsdelikten vorbestraft und auf Bewährung frei.
Doch der Mann ist für Europas größte Boulevardzeitung nicht nur ein vorbestraftes “Schwein”, er ist noch mehr:
Wer ist der Mörder, der Mary-Jane das angetan hat? Beruflich und privat ein ewiger Verlierer.
“Bild” belegt diese Behauptung damit, dass der Mann zuletzt in einer Reinigungsfirma gejobbt habe, nachdem er bei seinem vorherigen Arbeitgeber rausgeflogen sei, und er zwei Kinder von zwei verschiedenen Frauen habe, die er (“Bekannte berichten”), auf Wunsch der Mütter nicht sehen dürfe.
Der Artikel endet mit diesen Worten:
Der Killer sitzt jetzt in einer Einzelzelle, wird dauerhaft überwacht. Ein LKA-Beamter: “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”
Insofern fällt dieser “Bild”-Artikel vermutlich unter “Servicejournalismus”:
Sie können es nicht lassen. Sie wollen ihren Spaß. Sie wollen provozieren.
Oder, wie Bild.de selber schreibt:
Sie können es nicht lassen. Sie wollen ihren Spaß. Sie wollen provozieren.
Nachdem “Bild” in der vergangenen Woche schon so emsig die Werbetrommel für sogenannte Facebook-Partys gerührt hatte (BILDblog berichtete), geht der Irrsinn ungerührt weiter: Schon letzten Donnerstag berichtete “Bild” in Hamburg über “mehr als 19 000 (!) ‘Facebook’-Mitglieder”, die sich schon für eine Party in Hamburger U- und S-Bahnen angemeldet hätten — und nannte natürlich Datum, Uhrzeit und den Titel, unter dem man die Veranstaltung bei Facebook finden kann.
Gestern Abend dann machte Bild.de groß mit diesem Veranstaltungstipp auf:
Natürlich nennt Bild.de das geplante Datum und den geplanten Ort. Den “Veranstalter” (also jene noch anonyme Person, die die Veranstaltung bei Facebook angelegt hatte), dessen erklärtes Ziel es ist, “50.000 Menschen zusammen zu bekommen”, zitiert das Onlineportal mit den anstachelnden Worten:
“Andere Städte haben es schon vorgemacht, doch diese Party wird alles übertreffen.”
Bild.de weiter:
Bislang gibt es 2381 Zusagen, aber das kann sich über Nacht vervielfachen.
Die Zahl der Zusagen lag heute um 15 Uhr bei 6.200, inzwischen ist die Veranstaltung bei Facebook verschwunden.
Die Pressestelle der Stadt Bochum zeigte sich auf unsere Anfrage hin eher unglücklich über die Berichterstattung der Medien. Der Pressesprecher sagte, er appelliere an alle Journalisten, sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein, und im Vorfeld auch auf Panikmache zu verzichten.
Seit Lena Meyer-Landrut ihre Deutschland-Tour begonnen hat, bemühen sich Journalisten, vor allem aber auch “Bild”, diese Tour als riesigen Flop zu beschreiben. “Nur 6000 Fans” waren zum Tourauftakt in die Berliner O2 World gekommen, die bis zu 17.000 Zuschauern Platz bieten könnte. Als Kylie Minogue die gleiche Halle mit 8.000 Fans ebenfalls nicht füllte, war das “Bild” allerdings keine kritische Zeile wert.
Vergangenen Dienstag hatten “nur 5500 Fans” den Weg in die Dortmunder Westfalenhalle 1 gefunden, was die Ruhrgebietsausgabe von “Bild” zu der gewagten Formulierung verleitete, es seien wie schon bei ihren vorherigen Konzerten “kaum Besucher” gekommen.
Doch nicht nur das:
Der harmlosere Fehler: Lenas Debütalbum hieß “My Cassette Player”. Der schwerwiegendere: Die Behauptung, Lena habe Playback gesungen, ist falsch, wie uns Lenas Management auf Anfrage bestätigte. “Lena singt natürlich live!”
Lena Meyer-Landrut hat “Bild” deshalb abgemahnt. Ihr Anwalt Heiko Klatt begründete diesen Schritt uns gegenüber damit, dass die in “Bild” verbreiteten Behauptungen inhaltlich nicht den Tatsachen entsprächen, da Lena “selbstverständlich” live und nicht Playback singe. Bis heute 18 Uhr hatten “Bild” und Bild.de Zeit, die Verbreitung dieser falschen Behauptungen zu unterlassen — bei Bild.de ist der Artikel inzwischen offline.
PS: Nur wenige Minuten, nachdem die Anwaltskanzlei am vergangenen Donnerstag die Abmahnung von Brainpool verschickt hatte, tauchte bei Bild.de auf der Startseite dieser Teaser auf:
Stefan Raab ist Gesellschafter bei Brainpool und Lenas Mentor. Die Überschrift des Artikels über Bushido hatte zunächst “Ich polarisiere nicht mehr, weil ich nicht mehr will” gelautet.
Es ist angesichts der weltweiten Nachrichtenlage etwas in den Hintergrund gerückt, aber vor dem Mannheimer Landgericht wird immer noch ein Prozess gegen Jörg Kachelmann geführt, dem vorgeworfen wird, eine frühere Lebensgefährtin vergewaltigt zu haben. Die Scharmützel, die sich Kachelmanns Verteidiger mit der Gegenseite liefern, werden dabei für juristische Laien zunehmend uninteressant und niemand will zum hundertsten Mal lesen, dass Kachelmanns Anwalt den Aktenkoffer eines Sachverständigen “samt Brotdose” hatte beschlagnahmen lassen.
Doch dann ist endlich etwas passiert: Jörg Kachelmann war vergangene Woche “mit einem Ring aus Weißgold am Finger” vor Gericht erschienen. “Spiegel Online” vermeldete daher am Samstag, Kachelmann habe geheiratet, und “Bild” “erfuhr” am Montag “aus Justizkreisen”:
Kachelmann ist wieder Ehemann!
Die “Justizkreise” müssen in Plauderlaune gewesen sein, denn “Bild” fasste mal eben auch noch die mutmaßliche Lebensgeschichte der mutmaßlichen Frau Kachelmann zusammen, wie diese sie in ihrer Vernehmung angegeben haben soll — einer nicht-öffentlichen Vernehmung, offensichtlich.
Gestern war “Bild” dann noch näher an die junge Frau herangekommen:
Da wurden “Freunde” herangezogen, die “die neue Frau Kachelmann als ruhig und verschlossen” beschreiben — und selbst vor der Familie machten die “Bild”-Reporter nicht halt:
Nicht einmal ihre Großeltern haben von ihrer Hochzeit etwas mitbekommen. Oma Heidemarie gestern traurig zu BILD: “Ich hätte ihr gerne gratuliert.”
Blöd nur, dass “Bild” beim Versuch, an Fotos der Frau heranzukommen, im Internet ein (inzwischen gelöschtes) Foto gefunden hat, das eine ganz andere Frau zeigt.
Heute entschuldigt sich “Bild” dann auch für dieses Versehen:
Die vielen Eingriffe in die Privat- und Intimsphäre der Frau sind dagegen offenbar nichts, wofür “Bild” um Entschuldigung bitten will.
PS: Jörg Kachelmann selbst scheint unterdessen einen eigenen Weg gefunden zu haben, mit der ständigen Belagerung durch Boulevard-Reporter umzugehen, und fotografiert jetzt einfach zurück.
Nach der Volks-Pizza, dem Volks-Joghurt und dem Volks-PC präsentiert “Bild” heute stolz das neueste Mitglied der Produktpalette: das Volks-Kammerergebnis.
Das Ergebnis der großen Telefon- und Fax-Abstimmung (BILDblog berichtete) unterscheidet sich marginal von der Umfrage auf Bild.de, auf die die Redaktion inzwischen aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr verlinkt:
Da “Bild” seine Leser auch gebeten hatte, Begründungen für ihr Votum einzureichen, war die Seite 2 heute schnell gefüllt: 19 Pro-Guttenberg-Leserzuschriften stehen drei gegenüber, die den Minister zum Rücktritt auffordern — womit das Abstimmungsergebnis exakt repräsentiert wird.
Unter den Leserbriefen finden sich Meinungen wie diese:
“Fehler machen wir alle. Wir und unsere Kinder brauchen Politiker wir Herrn zu Guttenberg. Deshalb, Herr Minister: Bleiben Sie bitte im Amt.”
Svenja R. (41), Golf-Managerin aus Sch. (NRW)
(Alle Anonymisierungen von uns.)
Auch Leute, die sich mit Berufsehre auskennen, kommen zu Wort:
“Als Handwerksmeister werde ich nach meinen handwerklichen Fähigkeiten beurteilt. Ob ich einen Doktortitel habe, spielt dabei keine Rolle. Das gleiche muss auch für Politiker gelten!”
Hermann R. (76), ehem. Installateurmeister aus Sch. (Hessen)
Doch nicht alle Zuschriften sind so schlüssig:
“Im Dritten Reich musste mein Vater ins Gefängnis, weil er sich für die Wahrheit eingesetzt hat. Auch heute haben in Deutschland nur wenige den Schneid, eigene Fehler einzugestehen. Herr Guttenberg hat das getan. Deshalb wünsche ich mir, dass er Minister bleibt.”
Amoene Sybille R. (75), Rentnerin aus W.
Es lohnt sich, malwieder einen Blick in die Archive zu werfen: Nachdem die Spitzenkandidatin der hessischen SPD, Andrea Ypsilanti, im Jahr 2008 beim Versuch einer Regierungsbildung von ihrem ursprünglichen Vorhaben abgelassen hatte, “keine Zusammenarbeit” mit der Linkspartei einzugehen (“weder so noch so”), nannte “Bild” sie fortan einigermaßen konsequent “Frau Lügilanti” und veröffentlichte damals Leserbriefe wie diese:
Jedem Arbeitnehmer, der seinen Chef belügt, droht die fristlose Kündigung (“Vertrauensbruch”). Frau Ypsilanti hat ihren Arbeitgeber, den hessischen Steuerzahler, aufs Tiefste belogen.
Christian L., O. (Niedersachsen)
Sie ist doch in guter Gesellschaft. Und da wundern sich die Politiker, wenn die Wahlbeteiligung zurückgeht. Ich habe schon lange den Glauben an die Aufrichtigkeit der Politiker verloren.
Gerhard H., C. (Niedersachsen)
Franz Josef Wagner schrieb damals einen (selbst für seine Verhältnisse bemerkenswerten) Brief an die “Liebe Lüge” und erklärte:
Wenn ich mich über die Lügnerin Ypsilanti empöre, dann muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich selbst ein wahrheitsliebender Mensch bin. Als Kolumnist ja, glaube ich. Privat – das ist Ansichtssache.
Schon im Februar 2008 hatte Wagner an Andrea Ypsilanti geschrieben:
Frau Ypsilanti, Sie müssen sich an Ihre Wahlversprechen halten, weil sonst das Bescheißen überhandnimmt. Der Diebstahl am Arbeitsplatz, die Steuerhinterziehung. Wenn Lügen in Deutschland schick werden, dann haben wir einen nationalen Notstand. Ich fordere Sie auf, nicht zu betrügen, weil wir doch alle moralisch sein wollen.
Wagner gerierte sich lange als Verteidiger des einfachen Volkes. Über unrechtmäßig erlangte Erfolge schrieb Wagner im Januar 2008:
Lieber Oskar Lafontaine,
ich habe Ihnen noch gar nicht zu Ihren Wahlerfolgen (7,1 und 5,1 Prozent) gratuliert. Ich sage Ihnen, warum. Weil ich einem Doping-Betrüger auch nicht gratuliere. Sie dopten Ihre Wähler mit den Drogen “Weg mit Hartz IV”, “Weg mit der Rente mit 67”, “Raus aus Afghanistan”.
Das ist, wie wenn man verspricht: nie mehr Zahnweh, nie mehr Liebeskummer, nie mehr Insektenstiche.
Was mich empört ist, dass die Mächtigen glauben, dass das alles normal ist. Als wären sie Könige, etwas Besseres. Mehr als wir.
Den Post-Chef Klaus Zumwinkel, der wegen Steuerhinterziehung vor Gericht stand, wollte Wagner “wegen Heuchelei” zu drei Jahren Gefängnis verurteilen. Doch das ging leider nicht:
Heuchelei ist kein Straftatbestand. Sie heuchelten Tugendhaftigkeit nach außen, aber in Ihrem Inneren waren sie nicht sittlich.
Und dann war da noch die Supermarkt-Kassiererin, die wegen der Unterschlagung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro entlassen worden war, und der Wagner ins Stammbuch schrieb:
Es ist der kleine Beschiss, Du nimmst dir was mit aus Deiner Firma, einen Kugelschreiber, eine Tintenpatrone für deinen Computer daheim. (…) Was ich denke, ist: Man darf nicht im Kleinen und im Großen bescheißen.
Man darf nicht bescheißen!
Was fast klingt wie ein göttliches Gebot, ist wohl eher als Regel zu verstehen. Und die werden bekanntlich von Ausnahmen bestätigt.
Mit besonderem Dank an Christoph S. und die vielen anderen Hinweisgeber!
Eine häufig gestellte Frage im Bezug auf exklusive (also: tatsächlich exklusive, nicht “exklusive”) Veröffentlichungen von “Bild” lautet: Wie kommen die immer an so was dran?
Beim Foto des mutmaßlichen Mörders eines zehnjährigen Grefrathers, das “Bild” heute fast lebensgroß wie eine Jagdtrophäe zeigt, hat die Polizei Mönchengladbach die Frage am Nachmittag beantwortet:
Bei dem in der heutigen Ausgabe einer Boulevard-Zeitung veröffentlichten Foto des ermittelten Tatverdächtigen Olaf H. handelt es sich um ein Polizeifoto.
Offensichtlich wurde das Foto von einem Polizeibeamten widerrechtlich an die Redaktion weitergereicht.
Eine Überprüfung habe ergeben, dass das Foto “zweifelsfrei” aus einer erkennungsdienstlichen Behandlung des Tatverdächtigen stamme und in einer polizeiinternen Datenbank abgespeichert war. Nun werde intern wegen Geheimnisverrats ermittelt.
“Bild” schreibt, der “Killer” habe Todesangst und sitze daher noch in einer Einzelzelle im Polizeipräsidium Mönchengladbach. Egal, wohin er demnächst verlegt wird: Seine Mithäftlinge werden dank “Bild” wissen, wen sie vor sich haben.
Bei Bild.de ist das Foto inzwischen verschwunden. Dafür hat es die Meldung über die internen Ermittlungen der Polizei via dpa-Ticker auf die Seite geschafft:
Wikileaks bestimmt nochimmer die Schlagzeilen. Doch heute bekommen die Enthüllungen auf der Plattform selbst kaum Raum, vielmehr konzentriert sich die redaktionelle Aufmerksamkeit ganz auf den “Hacker-Krieg” um die Enthüllungsplattform. Die lose Gruppierung “Anonymous” hat zu Attacken auf vermeintliche Wikileaks-Feinde aufgerufen — und tatsächlich waren einige Webseiten für kurze Zeit nicht erreichbar.
Grund genug für Bild.de, drängende Fragen zu stellen:
Die Antwort jedoch enthält Bild.de seinen Lesern vor. Dass beide Gruppierungen betonen, keine direkte Verbindungen untereinander zu haben und dass “Anonymous” bereits zahlreiche andere Kampagnen durchgeführt hat, kommt weder in diesem, noch in den zwei anderen Artikeln zum Thema vor.
Stattdessen hat Bild.de ganz exklusiv erfahren wie teuer die Aktionen der “Wikileaks-Hacker” sind:
Die Zahl ist besonders beeindruckend, wenn man berücksichtigt, dass keine der bisher angegriffenen Organisationen ihren Sitz in Deutschland hatte. Die Schäden in den Ländern, die tatsächlich Ziel der Angriffe waren, müssen in die Trillionen gehen.
Oder auch nicht. Bei den Kollegen von “Welt Online” klingt es nämlich ganz anders:
Aber auch ohne Wikileaks sind deutsche Unternehmen seit Jahren in höchstem Maße durch Computerspionage gefährdet. Grobe Schätzungen sprechen von Schäden in Höhe von 20 bis 50 Milliarden Euro jedes Jahr. Laut einer Statistik des Wirtschaftsberatungsunternehmens KPMG wurde jedes vierte deutsche Unternehmen in den letzten drei Jahren Opfer von Cybercrime.
Bild.de hat also mal eben alle digitalen Straftaten in Deutschland auf das publizistische Konto von Wikileaks geschrieben. Weitere Exklusiventhüllungen um den Super-Bösewicht “Dr. Leaks” lassen damit bestimmt nicht lange auf sich warten.
Warum Assanges Aktivitäten so überaus verwerflich sind, erklärt Profi-Rechercheur ”Bild”-Kolumnist Ernst Elitz heute in einem Kommentar:
Zum Staatsfeind wird man also, wenn man keinen ordentlichen Journalismus betreibt, die Wahrheit unter der Oberfläche ignoriert und nur bloßstellen will. Wenn es danach geht, müsste Elitz eigentlich in Kürze zum Einsatz der Bundeswehr gegen Bild.de aufrufen.
Wenn ein Boulevardmedium von einer “peinlichen Bordell-Panne” schreibt, bringt man das vielleicht nicht unbedingt direkt mit dem heute in Deutschland gestarteten “Street View”-Dienst von Google in Zusammenhang. Doch genau so ist es laut Bild.de, dem Zentralorgan der Street–View–Verdammung:
Sagen Sie nicht, der Mann auf dem Street-View-Screenshot sei ja wohl unkenntlich gemacht: “BILD hat diese Fotos massiv verfremdet”.
Dieses und sechs andere Fotos, die den Weg des Street-View-Autos vorbei an dem Bordell “in einer deutschen Großstadt” dokumentieren, bis schließlich …
Eingang noch da, Mann plötzlich weg. Ob er tatsächlich ins Bordell ging, bleibt unklar
Bild.de ist deshalb ernsthaft erzürnt:
Fatal: Die Gesichter von zwei vermeintlichen Freudenmädchen sind von Google unkenntlich gemacht. Das Gesicht des Mannes ist aber teilweise deutlich von der Seite zu sehen. Bild.de hat diese Szene unkenntlich gemacht.
Es stimmt: Auf einigen der Bilder bei Street View ist der Mann unverpixelt im Halbprofil zu sehen. Eine Position, mit der sich viele Angeklagte, die “Bild” vorGerichtfotografiert hat, wohl schon zufrieden geben würden.
Aber es heizt natürlich die Street-View-Panikmache an, wenn man jetzt schon Gefahr läuft, dass der Puffbesuch öffentlich gemacht wird.
Apropos:
Der vermeintliche Puffgänger, den “Bild” vor zwei Jahren unverpixelt zeigte, war allerdings psychisch krank.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 19. November: Google hat reagiert und den Mann deutlich(er) anonymisiert.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
2. “Tom Kummer” (hossli.com, Peter Hossli)
Peter Hossli fragt sich, warum Tom Kummer als “als verhinderter Künstler, der sich in den Journalismus verirrt hatte”, dargestellt wird. “Als ‘Borderline’-Journalisten reden viele Kummer schön, wie wenn solches Grenzgängertum eine Krankheit oder gar ein eigener Stil wäre. Dabei ist es hohle Wortklauberei, mehr nicht. Irgendwie pervers, wie andere Kreationen unserer Branche: ‘Midrisk’, ‘zuspitzen’, ‘kalt schreiben’ – deswegen verlieren wir Leser, nicht wegen der Gratiszeitungen.”
3. “Falschmeldung: Panik wegen Facebook” (kurier.at, Susanne Kohn)
Rund hundert Meldungen nehmen die Polizeistationen im Bezirk Neunkirchen entgegen. Grund ist eine sich in Facebook verbreitende Meldung, es seien zwei Kriminelle unterwegs, die “Kinder ins Auto locken unter dem Vorwand, dass die Eltern im Spital sind”.
4. “Nebenjob Dauerfernsehen” (jetzt.sueddeutsche.de, Andreas Glas)
Sandra Baumann und Nils Rieger sichten für die ZDF-Satiresendung “heute-show” täglich fünf Stunden TV-Sendungen: “Der Bestfall ist, wenn sich ein Politiker zu einem aktuellen Thema verhaspelt oder eine völlig bescheuerte Aussage macht, über die er vorher nicht nachgedacht hat.”
5. Interview mit Hermann Scheer (guenterbartsch.de)
Zum Tod von Hermann Scheer publiziert Günter Bartsch ein 2008 mit ihm geführtes Interview: “Es gibt ja heute ganze Artikel, wo nur noch anonyme Zitate vorkommen. Theoretisch kann man die erfinden – das ist überhaupt nicht mehr nachprüfbar. Über die Kämpfe in der SPD gibt es Artikel, in denen nur noch anonyme Zitate vorkommen. Man kann damit einen politischen Trend erfinden, den es gar nicht gibt. Hier wird die Kultur des Hinterhalts geradezu gepflegt.”
6. “Volksverhetzung wird alltagstauglich” (lawblog.de, Udo Vetter)
Udo Vetter macht sich Gedanken über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 130 des Strafgesetzbuchs. “Die Volksverhetzung ist schon jetzt mit Meinungsfreiheit kaum in Einklang zu kriegen. Nun soll die Strafvorschrift also auch noch für das Alltagsgeschäft tauglich gemacht werden.”
Es ist ein Glücksfall für die Boulevardmedien dieser Republik: Die Richter des “Brunner-Prozesses” (benannt nach dem Opfer Dominik Brunner) haben das Staffelholz an die Richter des “Kachelmann-Prozesses” (benannt nach dem Angeklagten Jörg Kachelmann) übergeben, die Gerichtsreporter müssen ihre Koffer gar nicht erst auspacken und beleben nach der Münchener jetzt die Mannheimer Hotelwirtschaft. Vorher gab es in München aber noch die Urteile: Neun Jahre und zehn Monate Jugendhaft wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung für den 19-jährigen Haupttäter, sieben Jahre Jugendhaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie versuchter räuberischer Erpressung für seinen 18-jährigen Mittäter.
Das mit der Körperverletzung mit Todesfolge hatte Bild.de Anfangs allerdings nicht ganz verstanden und zum “Totschlag” umdeklariert:
Überhaupt: Während andere Medien Dominik Brunner mit seiner Berufsbezeichnung (“Geschäftsmann” oder “Manager”) versehen, war er für “Bild” und Bild.de von Anfang an der “S-Bahn-Held”, der “vier Kinder vor zwei Schlägern beschützte”. Schon wenige Tage nach dem tödlichen Vorfall am S-Bahnhof Solln forderte die Zeitung das Bundesverdienstkreuz für Brunner und rief ihre Leser auf, den Appell an den Bundeskanzler Bundespräsidenten zu unterschreiben. Horst Köhler machte eine seltene Ausnahme und verlieh Brunner posthum das Verdienstkreuz 1. Klasse, worüber “Bild” wiederum groß berichtete.
Im Februar berichtete der “Spiegel” erstmalig, dass Brunner “den ersten Fausthieb setzte” — eine Meldung, die auch auchvonanderenMedien interessiert aufgenommen wurde. “Bild” versteckte eine kleine Meldung auf Seite 3 und bemühte sich sofort um eine Einordnung in den Helden-Kontext:
Jetzt geht die Staatsanwaltschaft München davon aus, dass Brunner zwar zuerst zuschlug – aber nur aus Notwehr, um dem Angriff der Jungs zuvorzukommen (“SZ”).
“Bild” und Bild.de konzentrierten sich (außer einem Hinweis darauf, dass dem “Münchner S-Bahn-Held Dominik Brunner” ein Denkmal gesetzt werden soll) lieber auf den Prozess, der im Juli begann, und liefen gleich zu Beginn zu Höchtsleistungen auf: Die Schwestermedien eröffneten ihre Prozessberichterstattung, indem sie auf die “besondere Zurückhaltung”, die der Pressekodex bei der Berichterstattung über Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche fordert, verzichteten (BILDblog berichtete).
Dann ging es los: Rührselig zitierte Bild.de eine SMS, die auf Brunners Handy eingegangen sei, als dieser schon tot war (“Der tote S-Bahn-Held erhielt einen Herzensgruß für seinen letzten Weg”). Aus der “Ex-Freundin”, die ihm diese Nachricht geschickt hatte, wurde dann kurze Zeit später seine “Lebensgefährtin”.
Ein 18-Jähriger, der vorab in einem eigenständigen Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter räuberischer Erpressung zu einem Jahr und sieben Monaten Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden war (“Bild”: “Gericht lässt 1. Täter laufen”), wurde bei Bild.de zum “Anstifter der Schläger”, der sich aus diesem Grund kein Urteil über die Situation erlauben dürfe:
Christoph T.: “Für mich ist dieser ausschlaggebende Punkt der Schlag von Herrn Brunner” – das sagt ausgerechnet der Anstifter der Schläger!
Dass der junge Mann beim tödlichen Angriff auf Brunner gar nicht dabei war und schon deshalb nur bedingt als Zeuge taugt, ist Bild.de immerhin aber auch noch aufgefallen:
Der Anstifter hat Dominik Brunner zwar nie gesehen – doch ohne ihn wäre der Mord am S-Bahnhof Solln am 12. September 2009 wohl nie geschehen!
Dann wiederholte der S-Bahn-Führer im Zeugenstand seine Aussage, dass Brunner den ersten Schlag gesetzt habe und die Situation erst daraufhin eskaliert sei (ein Umstand, von dem “Spiegel Online”-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen irritierenderweise annahm, er sei “erst jetzt, zu Prozessbeginn, der Öffentlichkeit mitgeteilt” worden). Zusammen mit dem Obduktions-Ergebnis, nach dem Dominik Brunner einen vergrößerten Herzmuskel hatte und letztlich an Herzversagen gestorben sei, ergab sich plötzlich ein etwas anderes Bild und viele Medien fragten sich selbstkritisch, ob sie nicht voreilig über die Situation am S-Bahnhof Solln geurteilt hätten. Viele, aber natürlich nicht alle.
“Bild” fand diese neuen Töne “unglaublich!”, und reagierte erschüttert auf die Medienberichte:
ZUM HELDEN HOCHSTILISIERT? ANGEBLICH TOTGETRETEN? PRÜGELNDER KAMPFSPORTFREUND?
Die Wahrheit ist: Nichts ist anders seit dem Wochenende! Nur, dass dem Opfer nun sogar im Grab die Ehre genommen werden soll.
Wohl weil die Verklärung Brunners andernorts ins Stocken geraten war, packte Tanit Koch noch eine Schüppe Poesie drauf:
Er hat diesen Bürgersinn nicht etwa mit seinem Leben bezahlt – es wurde ihm geraubt. (…)
Dominik Brunner starb nicht, weil er ein vergrößertes Herz hatte.
Der S-Bahn-Held starb, so erkennt die “Süddeutsche Zeitung” zu Recht an, weil er ein “großes Herz” hatte.
Franz Josef Wagner schließlich wusste es sowieso wieder besser als alle anderen und schrieb dem “lieben Held Dominik Brunner” ins Jenseits, “gegen Ihr Herzflimmern mussten Sie Mittel nehmen”. Gegen einen Herzfehler, von dem Brunner selbst Zeit seines Lebens nichts geahnt hatte.
Die Linie blieb also klar und das, was in anderen Medien “Präventivschlag” hieß, wurde bei Bild.de zum “Abwehrschlag” umdeklariert und taucht in der “Chronologie der tödlichen S-Bahn-Attacke”, wie sie heute noch online steht, gar nicht auf:
Der Mann steigt mit den Jugendlichen aus, die beiden Angreifer folgen ihnen. Plötzlich greifen sie den Mann an, er fällt zu Boden, sie treten weiter auf ihn ein.
Die Aussage des S-Bahn-Führers über Brunners Erstschlag ließ “Bild” erst mal unter den Tisch fallen und schrieb erst darüber, als ein “Lügenforscher” die Aussage “relativiert” hatte — gegenüber der Münchener Boulevardzeitung “tz”, wohlgemerkt, nicht gegenüber dem Gericht.
Der Beschreibung Brunners als “sozial besonders engagiert” setzte “Bild” die “kaputte Kindheit” und das “verpfuschte Leben des zweiten Brunner-Totschlägers” entgegen, dem die Zeitung nicht mal seine vor Gericht gezeigte Reue abnahm:
Sebastian L. behauptete: “Es tut mir auf jeden Fall wahnsinnig leid, es hätte nicht passieren müssen. Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen.”
Selbst Details der Gewalt, die eigentlich für sich sprechen, hat “Bild” noch zugespitzt: Wenn der Angeklagte Markus S. “einen Schlüsselbund aus der Tasche und als Waffe zwischen die Finger” nimmt, ist das nicht nur “schlimm” oder “brutal” oder wie immer man das nennen würde, für die Schlagzeilenmacher bei “Bild” ist es “Der Schlüssel-Trick des S-Bahn-Schlägers”.
Über die erste Aussage dieses Angeklagten wusste Bild.de zu berichten:
Kein Mitleid, keine Reue, keine Tränen. Nein! Seine ersten Worte in dieser Verhandlung sind der blanke Hohn: “Ich habe einen Hass auf die Polizei.” Ungläubiges Kopfschütteln im Gerichtssaal.
(In der Bildunterschrift und der URL übrigens: “Ich hasse die Bullen.”)
Harte Worte, die aber trotzdem niemanden außer den “Bild-Reporter erschüttert zu haben scheinen: Für das Zitat findet sich keine einzige andere Quelle.
Auch mit einem anderen Detail stand “Bild” etwas alleine da:
Der damals 18-jährige Markus S. habe zweimal gerufen: “Ich bring’ dich um! Ich bring dich um!”, während er auf Brunner eingetreten und geschlagen habe, sagte die 16-jährige Schülerin, die das Ganze vom Bahnsteig gegenüber verfolgt hatte, vor dem Landgericht München aus.
Bei der Polizei hatte Vera B. drei Tage nach der Tat ausgesagt, dass einer der Täter zu Dominik Brunner gerufen hätte: “Ich bringe dich um!” Nun kann sie dies aber nicht mehr ganz sicher bestätigen.
Es sind letztlich eher Kleinigkeiten, die “Bild” anders wiedergibt als die meisten anderen Medien. Die Brutalität, mit der die Schläger vorgingen, zeigt sich auch daran, dass das Gericht mit seinen Urteilen nur knapp unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft blieb. Aber es sind viele Kleinigkeiten, mit denen “Bild” das Gesamtbild verzerrt — immer darauf bedacht, das früh gezeichnete Bild vom “S-Bahn-Helden” nicht zu beschädigen.
Über den “Kachelmann-Prozess” wird in “Bild” übrigens die Journalistin Alice Schwarzer berichten — weil sie eine “voreingenommene Berichterstattung” der “anderen Leitmedien” befürchtet.
Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber in den letzten Monaten.