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Count-Up, Riekel, HartzIV

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Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Gerüchteköche”
(fr-online.de, Ulrike Simon)
Ulrike Simon fragt Joachim Widmann, Chefredakteur der Nachrichtenagentur ddp, wie es dazu kommen konnte, dass so viele deutschsprachige Medien eine angebliche Trennung des Schauspielerpaars Brad Pitt und Angelina Jolie vermeldeten. “Widmann erzählt, dass die Kollegin aus der Redaktion die Meldung der News of the World zunächst zur Seite gelegt habe. Sie habe sie erst veröffentlicht, nachdem im Internet drei Dutzend Medien darauf eingegangen waren.”

2. “Das Riekelsche Gesetz”
(print-wuergt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris fühlt sich als freier Journalist von den Methoden der “Bunte”-Chefredakteurin Patricia Riekel beleidigt. “Wir sind Journalisten, keine Spanner, die im Gebüsch liegen um herauszufinden, ob und mit wem Parteivorsitzende ein Sexualleben haben.”

3. “Journalismus 2010: Drecksarbeit”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
“Mir sind diese Woche gleich zwei Dinge widerfahren, die aktuelle Probleme der gedruckten Presse dokumentieren, ohne gleich hochtrabende Begriffe wie ‘Qualitätsjournalismus’ oder ‘redaktionelle Autonomie’ zu strapazieren.”

4. “Käßmann, Mixa und die Kunst der Gegendarstellung”
(stern.de/blog, Artur Fischer-Meny)
Artur Fischer-Meny geht auf die schnelle mediale Verbreitung der “Alkoholfahrt” von Margot Käßmann ein und recherchiert Straßenverkehrsdelikte in der katholischen Kirche.

5. “Pingpong mit Westerwelle”
(nn-online.de, Hans-Peter Kastenhuber)
Die “Nürnberger Nachrichten” fassen nochmals zusammen, was “Bild” in den letzten zwei Monaten alles zum Thema HartzIV schrieb.

6. “Das unwürdige Count-Up”
(begleitschreiben.twoday.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig fragt sich, warum zum Erdbeben im Chile “trotz unsicherster Nachrichtenlage immer wieder sinnlose Zahlen von Todesopfern weitergemeldet” werden.

Hartz-IV-Empfänger gibt es bei “Bild” nur in faul

Als vergangene Woche das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass die bisherigen Hartz-IV-Sanktionen teilweise verfassungswidrig sind, und die Kürzungen zum Teil gegen die Menschenwürde verstoßen, legten sie bei “Bild” los. Am Tag nach dem Urteil auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss der Bild-Titelseite - Hartz-IV-Hammer - Höchstes Gericht kippt Sanktionen! Wird Faulheit nicht mehr bestraft? Alles, was Sie über das Urteil wissen müssen

Einen Tag später an gleicher Stelle:

Ausriss der Bild-Titelseite - Gericht kippt Sanktionen! Deutschlands faulster Arbeitsloser jubelt - Jetzt gibt es Hartz IV auf dem Silbertablett!

Und noch mal einen Tag später ein Nachklapp auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Deutschlands faulster Hartz-IV-Empfänger (seit 20 Jahren arbeitslos) über seinen gemütlichen Alltag - Normalerweise stehe ich gegen Mittag auf

Die Nachricht, die die “Bild”-Medien mit Nachdruck verbreiten: Faul, faul, faul sind sie, diese Hartz-IV-Empfänger. Dass es nur wenige Prozent von ihnen sind, die überhaupt sanktioniert werden — zum größten Teil übrigens wegen Terminversäumnissen und nicht, weil sie sich aus Faulheit weigern, eine Arbeit aufzunehmen –, schreibt selbst “Bild”. Und dennoch sind Hartz-IV-Empfänger auf “Bild”-Titelseiten zu 100 Prozent faul.

Als Beleg präsentiert die “Bild”-Redaktion den angeblich “faulsten Hartz-IV-Empfänger” Deutschlands und dessen Tagesablauf. Wobei er so faul gar nicht sein kann, schließlich beziehe der Mann “DEN HARTZ-IV-REGELSATZ IN HÖHE VON 424 EURO” pro Monat. Also ohne Sanktionen. Das spricht dafür, dass er seinen Pflichten durchaus nachkommt. Bei der Schilderung seines Alltags erzählt er auch, dass er mitunter um 6 oder um 7 Uhr aufstehe, wenn er einen Termin beim Jobcenter habe. Außerdem verdiene er mit einem Minijob zusätzliche 100 Euro im Monat. Und nach Stellenangeboten suche er auch, aber natürlich nur “gemütlich”, wie Bild.de betont.

“Angst vor drastischen Sanktionen des Jobcenters muss er nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr haben”, schreibt “Bild” über den Mann. Schließlich hätten die Richter entschieden, dass eine Kürzung von 60 oder gar 100 Prozent nicht zumutbar sei, und im Höchstfall “jetzt 30 Prozent gestrichen werden.” Hartz IV soll das Existenzminimum sichern. Mögliche Sanktionen von 30 Prozent bedeuten: Es droht ein Leben mit 70 Prozent des Existenzminimums. Aber: Hartz IV gäbe es jetzt “‘auf dem Silbertablett'”.

Bevor durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so etwas wie eine Debatte über soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde entstehen kann oder etwas wie Solidarität mit den Personen, die durch Hartz-IV-Sanktionen nicht mal das Existenzminimum zur Verfügung haben, schieben sie bei “Bild” einen Hartz-IV-Empfänger vor: Seht her, dieser Faulpelz steht erst gegen Mittag auf. Welches andere Ziel verfolgt eine solche Kampagne als: spalten?

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

“Bild” spaltet mit Hartz-IV-Vergleich

Wenn die “Bild”-Medien über die vermeintlich hohen Hartz-IV-Bezüge mancher Familien berichten, sammelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den dazugehörigen Facebook-Kommentaren die Wut: “Wenn ich sowas lese! Wozu gehe ich überhaupt noch arbeiten?” oder “Da werd’ ich morgen dran denken, wenn um 5 Uhr der Wecker klingt!” ist dann häufig zu lesen. Manchmal richtet sich der Ärger gegen den Staat, manchmal gegen die Hartz-IV-Empfänger, manchmal beides.

Das liegt auch daran, dass “Bild” und Bild.de solche Rechnungen anstellen:

Ausriss Bild-Zeitung - Wie viel Schikane steckt in Hartz IV?

Für Hartz IV flossen 2017 insgesamt rund 46 Milliarden Euro/Jahr, 416 Euro/Monat für einen Single plus Miete und Heizung. Eine vierköpfige Familie bezieht (je nach Miethöhe) bis zu 2500 Euro. Wer arbeitet und Steuern zahlt, muss deutlich über 3000 Euro brutto verdienen, um dasselbe zu haben.

Dass Hans-Jörg Vehlewald, Larissa Krüger, Peter Tiede und Ralf Schuler in ihrem Beispiel die zwei Worte “bis zu” verwenden, ist ausgesprochen trickreich. Möglicherweise kennt das “Bild”-Autorenteam eine vierköpfige Familie, die 2500 Euro Hartz-IV-Leistungen im Monat bezieht. Die Regel ist das ganz sicher nicht.

Jeder der zwei erwachsenen Partner bekommt aktuell 374 Euro — zusammen also 748 Euro. Dazu kommen im “Bild”-Beispiel zwei Kinder. Nehmen wir einen für “Bild” günstigen Fall: Die Kinder sind 15 und 17 Jahre alt. Dann bekommt die Familie pro Monat pro Kind 316 Euro (wären die Kinder beispielsweise beide jünger als sechs Jahre, gäbe es je Kind nur 240 Euro). Die gesamte Familie bekommt monatlich also 1380 Euro Hartz-IV-Regelleistungen. Allerdings, und das erwähnt das “Bild”-Autorenteam nicht, wird das Kindergeld von insgesamt 388 Euro pro Monat, das der Familie für die zwei Kinder zusteht, als Einnahme komplett angerechnet. Dadurch verringern sich die monatlichen Hartz-IV-Regelleistungen auf 992 Euro.

Hinzu kommen die vom Jobcenter anerkannten Wohnkosten. Für eine vierköpfige Familie betrugen diese deutschlandweit im Juli dieses Jahres im Schnitt 672,30 Euro für 76,46 Quadratmeter (Excel-Tabelle, Tabelle 2b). Natürlich gibt es in den verschiedenen Bundesländern und je nach Stadt- oder Landlage deutliche Unterschiede bei der Höhe der anerkannten Mietkosten.

Durchschnittlich erhält eine vierköpfige Familie also Leistungen in Höhe von 1664,30 Euro pro Monat. Das ist ein gutes Stück entfernt von den 2500 Euro, von denen Vehlewald, Krüger, Tiede und Schuler sprechen. Hinzu kommt bei beiden Beispiel-Familien, ob nun Hartz-IV-empfangend oder arbeitend und steuerzahlend, Kindergeld für zwei Kinder in Höhe von 388 Euro.

Mit diesem Durchschnittswert kann man nur nicht so geschmeidig einen Keil in die Gesellschaft treiben wie mit der “bis zu”-Behauptung der “Bild”-Redaktion.

Mit Dank an Marc W. für den Hinweis!

Bild  

Wie man das meiste aus Hartz IV rausholt

Am Montag stellte “Bild” den Lesern Familie Fesselmann aus Gelsenkirchen vor. Die fünfköpfige Familie lebt von Hartz IV, konnte aber über 100.000 Euro Schulden abbauen und noch was auf die hohe Kante legen. Das schreibt zumindest “Bild”:

"Ich verstehe dieses Gejammer nicht. Hartz IV reicht!" Das sagt nicht etwa ein Politiker, sondern der ALG-II-Empfänger Wilfried Fesselmann (49) aus Gelsenkirchen. Der gelernte Kaufmann ist seit 2001 arbeitslos. Seit 2004 leben er, Ehefrau Marion (44) und ihre drei Kinder von Hartz IV. Insgesamt bekommt die Familie 1335 Euro (Regelleistung) plus 700 Euro für Miete und Nebenkosten.

Dass die Familie seit 2004 von Hartz IV leben soll, das es erst seit 2005 gibt, ist eher zweitrangig — und in der Online-Version des Artikels auch stillschweigend korrigiert worden.

Auch der Umstand, dass die Fesselmanns freimütig erklären, fast die Hälfte des Lebensmittelgeldes sparen zu können, indem sie zu einer “Tafel” gehen, soll uns an dieser Stelle nicht weiter stören.

Viel interessanter ist das, was “Bild” nicht schreibt: Bei den Fesselmanns handelt es sich nämlich nicht um eine gewöhnliche Hartz-IV-Familie — sie sind eine Art Vorzeige-Hartz-IV-Familie auf großer Medientournee.

Beim Videoportal MyVideo standen bis vor kurzem mehr als 50 Videos online, die meisten unter dem Benutzernamen “FamilieFesselmann” hochgeladen. Und da sah man dann: Familie Fesselmann bei “Surprise, Surprise” mit Oliver Geissen auf RTL, Familie Fesselmann bei “We Are Family” auf ProSieben, Vater Fesselmann in der RTL2-Quizshow “Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit” (wo er nichts gewann) oder die eigene Familie-Fesselmann-“Wochenserie” auf Sat.1.

Videos von und mit Familie Fesselmann bei MyVideo.de

Die Videos sind inzwischen fast alle bei MyVideo verschwunden, aber über die Video-Suchmaschine Truveo noch auffindbar. Im Blog “Notatio” hat sich der Autor Kurt die Mühe gemacht, einen Teil der Videos anzusehen und stellte dabei unter anderem fest, dass Vater Fesselmann je nach Fernsehsendung früher ganz unterschiedliche Berufe gehabt haben soll (bei “Bild” ist er einfach ein “gelernter Kaufmann”).

Auf ihrer eigenen Website stellt sich Familie Fesselmann nicht nur selbst vor (und offenbart dabei erstaunliche Inkonsistenzen etwa bei der Anzahl der eigenen Kinder), sie geht auch recht offensiv mit den eigenen Medienauftritten (die bis ins Jahr 1997 zurückreichen) um:

Selbstdarstellung der Familie Fesselmann

Es gibt Ankündigungen für den Auftritt bei “Teenieterror im Kinderzimmer” auf ProSieben, für das eigene Buch “Besser leben mit Hartz IV” (“Es ist ein Buch mit vielen Spar-Tipps für alle. Berichte in den Medien folgen”), Fotos von Dreharbeiten zu “Alarm für Cobra 11” und mit Toto & Harry und eher kryptische Hinweise wie diese:

15.März 08 : Streit mit RTL endlich beigelegt. Hier kam ein tolles Überraschungs-Paket und ein 2-seitiger Entschuldigungsbrief des Senders an. Drehverbot wurde aufgehoben.

(…)

30.April : Anfrage von RTL zur neuen TalkShow Natasha Zuraw haben wir abgelehnt. Zum Glück Talkshow wird mangels schlechter Quoten noch Ende Mai eingestellt.

Auf der Startseite findet sich über dem großen “Bild”-Artikel der folgende aktuelle Hinweis:

Liebe Besucher
selbstverständlich haben wir nicht mit der Regelleistung die Schulden bezahlt. Diese haben wir durch Vergleiche gemindert und zahlen kleine Raten. Besser leben mit Hartz4, bedeutet einfach nur sich das Geld besser einzuteilen. Es wird auch niemandem etwas abgezogen, im Juli gibt es für jeden HartzIV-Empfänger 8 € mehr. Auch die Geschäftsführung der ARGE weiss darüber Bescheid.
Alle Einkommen aus dem Buch werden ordnungsgemäß versteuert und der ARGE gemeldet.

Es wäre natürlich hilfreich und weit weniger irreführend und manipulativ gewesen, wenn “Bild” auf die eine oder andere Besonderheit dieser Familie eingegangen wäre und nicht so getan hätte, als wenn man mit Hartz IV nicht nur ganz okay leben, sondern auch noch innerhalb von 52 Monaten (die im Fall der Fesselmanns 69.420 Euro Arbeitslosengeld II bedeuten) mehr als 100.000 Euro Schulden abbezahlen kann.

Und auch die Überschrift hätte irgendwie anders lauten müssen:

Jammern gilt nicht - Wir leben von Hartz IV und können sogar noch sparen

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

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Obama online, Ole offline
(zeit.de, Janko Röttgers)
Im US-Wahlkampf spielt das Internet eine zentrale, in Hamburg so gut wie keine Rolle. Deutsche Politiker lieben immer noch eher Plakatwände.

Zehn lesenswerte Beiträge zur Zukunft des Journalismus
(axel-springer-akademie.de/blog, Markus Hofmann)
Medienrevolution. Untergang. Auferstehung in der schönen, digitalen Welt. Was passiert da eigentlich? Zehn lesenswerte Essays und (Blog-)Beiträge, die sich mit der Frage beschäftigen, mit welchen Veränderungen der Journalismus durch das Internet konfrontiert wird. Und was zu tun ist, um online zu überleben.

Schweizer Bank bekämpft Enthüllungs-Wiki
(spiegel.de, Konrad Lischka)
Die Bank Julius Bär hat in Kalifornien die prominenteste Webadresse der Enthüllungsseite Wikileaks.org sperren lassen. Grund: Angeblich illegal veröffentlichte Kundendaten vom Offshore-Paradies Cayman-Inseln. Doch die sind weiter online – weltweit verteilt.

“Damit hatten wir nicht gerechnet”
(turi-2.blog.de, Peter Turi)
Peter Neumann, Geschäftsführer von Holtzbrincks Zoomer.de, wehrt sich gegen Kritik am neuen Nachrichten-Portal.

Topmodel Fiona: Germany’s next Udo Lattek
(fudder.de, christoph)
Was kommt dabei heraus, wenn eine Teilnehmerin von Germany’s Next Topmodel über Fußball spricht? Fiona Erdmann, selbsternannte Model-Zicke, hat ihren eigenen Bundesliga-Podcast gestartet. Einmal Fremdschämen mit Christoph, bitte.

Das 3.76 Euro Essen
(watchberlin.de, Video, 2:42 Minuten)
Hendryk M. Broder versucht, sich von den vom Berliner Finanzsenator für HartzIV-Empfänger als ausreichend eingestuften 3.76 Euro pro Tag zu ernähren. Und scheitert.

Verarschen kann “Bild” uns alleine!

Einen der größten Erfolge unter Chefredakteur Kai Diekmann feierte die “Bild”-Zeitung im Jahr 2003 mit ihrer wochenlangen Berichterstattung über einen in den USA lebenden deutschen Sozialhilfeempfänger, den sie “Florida Rolf” nannte. Die Kampagne erreichte nicht nur, dass der Mann nach Deutschland zurückkehrte, sondern auch, dass der Bundestag in kürzester Zeit die Gesetzeslage verschärfte. Dabei betraf die Regelung nicht einmal 1000 vermeintliche “Sozialschnorrer” und bedeutete möglicherweise sogar höhere Ausgaben für die Steuerzahler.

In diesen Tagen arbeitet sich “Bild” wieder an einem vermeintlichen “Abzocker” ab: Henrico Frank, ein Arbeitsloser, der SPD-Chef Kurt Beck dafür verantwortlich machte, Hartz-IV-Empfänger zu sein, und dafür von ihm gesagt bekam, er solle sich erst einmal waschen und rasieren, dann bekomme er auch Arbeit. Frank ließ sich von Journalisten zu einem Friseurbesuch überreden, Beck vermittelte ihm darauf mehrere Stellenangebote, Frank ließ ein Treffen mit Beck jedoch platzen und lehnte auch die angebotenen Jobs ab. Seitdem ist er für “Bild” “Deutschlands frechster Arbeitsloser” und heute zum zweiten Mal großer Seite-1-Aufmacher:

Warum kriegt so einer Stütze?

Die Frage klingt, als wollte “Bild”, ähnlich wie bei “Florida-Rolf”, eine vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeit im Gesetz anprangern. In Wahrheit hat der Bundestag erst vor kurzem die Gesetzeslage für Menschen wie Henrico Frank drastisch verschärft. Wer innerhalb eines Jahres drei Angebote seiner Arbeitsagentur ohne guten Grund ablehnt, bekommt vom kommendem Jahr an für ein Vierteljahr sämtliche Zahlungen gestrichen, ist nicht krankenversichert, bekommt kein Geld für Unterkunft und Heizung. Nach Ansicht von Kritikern dieses Gesetzes kann das für viele hartnäckige Arbeitsverweigerer bedeuten, obdachlos zu werden. Die neue Regelung ist juristisch umstritten, weil eigentlich jeder Mensch einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf das Existenzminimum hat.

“Faulenzern” und “Abzockern” wie Henrico Frank droht also nach dem verabschiedeten Gesetz, nichts zu bekommen. Da es schwer ist, Menschen weniger als nichts zu geben, ist nicht ganz klar, auf welche Art Gesetzesverschärfung die “Bild”-Kampagne zielen könnte: Die Möglichkeit, “Faulenzer” und “Abzocker” aus dem Land zu jagen?

Aber vielleicht geht es der “Bild”-Zeitung hier auch nicht um das Gesetz. Vielleicht hat sie mit Henrico Frank eine persönliche Rechnung offen. Darauf deutet zum Beispiel der gestrige “Bild”-Artikel hin, der so begann:

ER HAT UNS ALLE VERARSCHT!

Die “Bild”-Zeitung lässt offen, ob sie mit “uns” uns meint oder “Bild”-Mitarbeiter. Deren Gefühl, “verarscht” worden zu sein, könnte aber daher rühren, dass die Geschichte so schön auf ein Happy-End hätte hinauslaufen können: Dank tatkräftiger Unterstützung der Medien wird aus nichtsnutzigem Hartz-IV-Suff-und-Schmuddel-Punk ein glückliches Mitglied der arbeitenden Gesellschaft. Henrico Frank wollte dieses Spiel, hinter dem er eine PR-Aktion von Beck vermutet, offenbar nicht mitspielen — ob er dabei klug vorging, ist eine andere Frage.

Die “Bild”-Zeitung jedoch erweckt den Eindruck, Frank habe sie in die Irre geführt. Dabei zeigte Frank von Anfang an wenig Bereitschaft, die ihm von dem Medien zugeteilte Rolle zu spielen — selbst den Frisurwechsel bereute er schnell. Dass Frank “vier Handys” hat (nach eigenen Angaben alle Prepaid, ohne laufende Kosten), war “Bild” ebenso bekannt, wie dass er weiter seinen Anstecker “Arbeit ist Scheiße” trug. Erst im Nachhinein machte sie daraus Belege, um Frank zu “Deutschlands frechstem Arbeitslosen” zu stempeln.

Die “Bild”-Berichte über den Arbeitslosen sind inzwischen voller bösartiger Interpretationen und einseitiger Verdrehungen. Aus dem Angebot, für “5,50 Euro / Stunde” zu arbeiten, macht “Bild” einen von acht “gut bezahlten Jobs”. Dass sich die Sprecherin Franks bei den Arbeitgebern erkundigte, ob sich die Stellen (u.a. Straßenbauarbeiter, Maurer, Maler) überhaupt eignen für jemanden, der “nur noch eine Niere, dazu einen Bandscheibenvorfall und eine Schulterprellung” hat, nennt “Bild” schlicht “dreist”: “Motto: Ich kann nicht, aber was gibt’s denn?” Nebenbei fabriziert “Bild” aus den Zitaten mehrerer Politiker der Linkspartei, die grundsätzlich begrüßen, wenn Arbeitslose in die Politik und die Parlamente gehen, eine mögliche Kandidatur Franks für den Bundestag.

Den CDU-Politiker Michael Fuchs hingegen zitierte “Bild” gestern mit den Worten:

Was wirft das für ein Licht auf all die anderen Arbeitslosen! Henrico Frank bringt sie alle in Verruf.

Tut er das wirklich? Oder tun das nicht “Bild” und die anderen Medien, die das Verhalten Franks in einer Breite diskutieren, die gar keinen Sinn ergäbe, wenn sie davon ausgingen, dass Franks Verhalten ein völliger Einzelfall wäre. Dadurch, dass sie den Fall seit einer Woche ausführlich begleiten, suggerieren sie erst, dass es sich um ein grundsätzliches Phänomen und Problem handelt.

Der Politologe Frank Oschmiansky hat vor einigen Jahren die Konjunktur der immer wiederkehrenden “Faulheitsdebatten” untersucht und befand, sie folgten “zu einem guten Teil politischen Kalkülen”. Sie ließen bei den Bürgern den Eindruck entstehen, der “Missbrauch sozialer Leistungen” sei eines der größten Probleme dieses Landes — dabei sei der Schaden rechnerisch “marginal” gegenüber Delikten wie Schwarzarbeit, Subventionsmissbrauch, Korruption oder Steuerhinterziehung. Oschmianskys Fazit:

Zudem zielen die “Faulheitsvorwürfe” darauf, das sozialpsychologische Klima zu schaffen, um Leistungseinschränkungen oder auch Zumutbarkeits- oder Sanktionsverschärfungen den Boden zu bereiten. (…) Durch die Skandalisierung des Leistungsmissbrauchs wird ein Klima erzeugt, in dem Kürzungen von Sozialleistungen leichter durchsetzbar sind.

Die üblen Tricks der “Bild”

“Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer” haben es “Bild” ja angetan. Zumindest war dort auch am vergangenen Freitag wieder von einem “Trick im Gesetz” die Rede. Genauer gesagt stand das mit dem Trick unter der Überschrift:

"Die Wahrheit über Hartz IV"

Und unter der Frage:

“Können Hartz-IV-Empfänger viel mehr vom Staat kassieren, als bisher gedacht?”

“Bild” bezog sich ausdrücklich auf den Bericht “Grundsicherung für Arbeitsuchende – Entwicklung bis Juli 2005” der Bundesagentur für Arbeit und schrieb u.a.:

“Eine Studie der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigt: Trotz der niedrigen Regelsätze (…) erhalten Tausende richtig dickes Geld!

Rund 2200 Single-Haushalte bekommen mehr als 2000 Euro im Monat. Der Grund: Viele nutzen einen Trick im Gesetz, trennen sich pro forma vom Partner oder ziehen als volljährige Kinder zu Hause aus. Dann erhalten sie nicht nur die Miete, sondern auch die Kosten für den Umzug und die Ersteinrichtung der Wohnung bezahlt. (…)”

Was”Bild” nicht schrieb: Bei den von “Bild” für erwähnenswert befundenen “2200 Single-Haushalten” handelt es sich laut BA-Bericht um 0,1 Prozent der knapp 2,2 Millionen alleinlebenden bzw. 0,04 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger.

Zudem vergaß “Bild” zu erwähnen, dass die Formulierung “mehr als 2000 Euro im Monat” gelinde gesagt missverständlich ist. Denn die Empfänger bekommen das Geld nicht monatlich, sondern einmalig. In dem Bericht heißt es ausdrücklich:

“Die Bedarfsgemeinschaften mit monatlichen Leistungen von 2.000 und mehr Euro erklären sich mit Einmalleistungen u.a. zur Wohnungsbeschaffung.”

Darüber, dass “viele” der 2200 Single-Haushalte in den Genuss dieser Leistungen nur gelangen sollen, weil sie “einen Trick im Gesetz” nutzen, verliert der Bericht der BA indes, anders als “Bild” suggeriert, nirgends ein Wort.

Mit Dank an Eleni S., Carsten B. und Stephan S. für den Hinweis sowie an die BA für den Bericht.