Die Transparenz-Offensive des “Bild”-Chefredakteurs auf kaidiekmann.de hat einen entscheidenden Vorteil: Sie deckt die Schwächen der Arbeitsweise der eigenen Zeitung ungewollt selbst auf.
Kai Diekmann zeigt in seinem Blog ein Video, wie er in “Bild”-Manier unangekündigt an der Haustüre des Kolumnisten Franz Josef Wagner auftaucht und sich, obwohl dieser allen Anschein macht, ihn gar nicht empfangen zu wollen (“Kai, Du bist ein Schwein” … “Kai, Du bist so ein Schwein”), Zutritt zum Haus verschafft.
Er streift mit eingeschalteter Kamera durch die Wohnung und schlägt dann vor, Wagner soll ihm den Entwurf der aktuellen Kolumne am “Laptop” vorlesen. Diekmann: “Du schreibst aufm Laptop?” – Wagner: “Ja.”
Naja, fast:
Dann guckt Diekmanns Kamera genauer hin, was denn Wagner da schreibt. Wir auch:
Undeutlich zu erkennen ist das Wort “Strassenschlachten”. Was sich bestätigt, als Wagner den Text vorliest.
Aus einem nicht sehr sinnvollen Satz ist ein sehr sinnloser geworden.
Könnte es sein, dass der Übertragungsfehler geschehen ist, als Franz Josef Wagner seinen Text der Redaktion telefonisch übermittelte, wie er das zu tunpflegt?
Gut möglich, dass Fehler wie dieser der Grund sind, warum Wagner seine Zeilen in der “Bild” nicht mehr liest, wie er gegen Ende des Videos zugibt. Vielleicht entsteht aber auch erst durch diese Hörfehler bei der telefonischen Durchsage die unverkennbare Kryptik der Wagnerschen Poesie.
Diekmann fragt:
“Wenn ich das morgen ändere – das kriegst Du dann gar nicht mit?”
“Ein schlechter Schüler”, sei er gewesen, und “nie bei der Sache”, schreibt “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner heute anlässlich der PISA-Ergebnisse an die “lieben klugen Sachsenschüler”, und wer möchte das bezweifeln?
Herr Wagner, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die schlechte: Auch mit der gestrigen Kolumne wäre Ihre Versetzung wieder gefährdet. Bei aller Euphorie, in die Sie sich angesichts der vielen sächsischen Erfindungen schreiben — die erste Lokomotive der Welt wurde nicht 1839 in Sachsen gebaut, wie Sie behaupten, sondern schon 35 Jahre zuvor in Großbritannien. Und den ersten modernen Büstenhalter ließ 1889 Herminie Cadolle patentieren — nicht in Sachsen, sondern in Frankreich.
Die gute: Sie sind aus der Schule raus, Sie dürfen spicken! Lassen Sie sich erklären, was ein Nachschlagewerk ist, oder suchen Sie sich eine Zeitung, die noch einmal über die Texte drüberguckt, die Sie schreiben. Doch, das ist erlaubt, und es tut gar nicht weh.
PS: Ist nicht schlimm, dass Sie “Klugscheißer” hassen. Wir mögen Sie auch nicht.
Mit Dank an Peter K. und — für den Nachtrag mit dem BH — Daniel, JMM, Yannick S. und Pawel S.!
Jedes Jahr um diese Zeit feiert Franz Josef Wagner zwei Geburtstage. Seinen eigenen und den von Mick Jagger. Eine ganz besondere Beziehung verbindet den “Bild”-Autor mit dem Sänger. Kein Wunder: Ihre Biographien weisen verblüffende Parallelen auf.
Beide sind im Sommer 1943 geboren. Beide sind Männer. Jaggers Mutter war Avon-Beraterin, Wagners Mutter Handarbeitslehrerin. Jagger macht Musik, Wagner hört sie.
Wenn man an 60 denkt, dann denkt man, dass die betreffende Person Schwierigkeiten beim Einparken hat und gelegentliche Unsicherheit im Personengedächtnis. Ich glaube, dass man mit 60 triumphierend jung sein kann — wenn man ein Rock ‘n’ Roller ist. Jeder Orthopäde sagt, dass das Geheimnis die Bewegung sei. Tanzen wir den Tod zum Teufel. Der 60-jährige Mick Jagger tanzt das Leben vor. In einer Woche werde ich 60.
Rock ‘n’ Roll ist ein Lebensentwurf – es ist auch mein Lebensentwurf. Wir rocken uns den Tod weg, die Bandscheibe, die Prostata, die Röchel-Lunge. Ich liebe Mick Jagger nicht nur, weil er “Satisfaction” singt, sondern weil seine Mutter Avon-Beraterin war. Der Sohn einer Avon-Beraterin wird Mick Jagger — was für ein Traum, was für ein Märchen!
Und ein paar Tage später in der “taz”, nach einem Konzert der Stones:
Mick Jagger ist eine Woche älter als ich, er wird am 26. Juli 63, ich am 7. August. Aber es waren viele tausend noch Ältere im Berliner Olympiastadion als wir beide. Vielleicht war es das, was wir feierten: dass die Katastrophen wie Weltuntergang, Raucherkrebs, Prostata, Herz, Venen nicht eingetreten waren und auch in dieser Nacht nicht eintreten würden. (…)
“What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band”, fragte Mick Jagger vor 40 Jahren in seinem Ur-Song “Street Fighting Man”. Vor 40 Jahren — wo war ich?
Vor 40 Jahren hing ich auch an den Fersen des Glücks. What can a poor boy do … Micks Mutter war Avon-Beraterin, meine Handarbeitslehrerin, sie unterrichtete Mädchen im Stricken und Tischdecken. Da war nicht viel Kohle zu holen. Also, what can a poor boy do?
Er kann Zahnarzt werden, Astronaut werden, er kann sein Leben verschlafen, er kann Mick Jagger werden, oder er kann im Drogenrausch wie der beste Rolling Stone, Brian Jones, im Swimmingpool ertrinken. Er kann ein Gesicht wie Keith Richards kriegen, er kann Bianca Jagger heiraten, Jerry Hall. Er kann sieben Kinder mit vier Frauen zeugen, er kann aber auch als PR-Gag auf eine Palme klettern und herunterfallen. Er kann Boulevard-Reporter werden, Gossen-Goethe. Er kann eigentlich alles werden, wenn er ein Street Fighting Man ist.
Und heute nun wird Mick Jagger 65. Und Franz Josef Wagner, der “Gossen-Goethe”, schreibt in “Bild”:
Sie sind eine Woche älter als ich, heute werden Sie 65, ich am 7. August. Was gibt’s für uns 65-Jährige zu feiern? Zuallererst, dass wir überlebten und Leber, Lunge, Arterien sich bisher nicht bemerkbar machen. Den Genen sei Dank!
Es war im Sommer 62, vor 46 Jahren, als ich Ihren Ursong “Street Fighting Man” zum ersten Mal hörte. Ich war damals ein Junge wie Sie. Ihre Mutter war Avon-Beraterin, meine Mutter war Handarbeitslehrerin. (…) Man konnte damals schnell abgleiten in die Hippie- und Kifferkultur.
Von einem Tag auf den anderen riss mich Ihr “Street Fighting Man” aus dem Kiffen heraus. “What can a poor boy do except to sing for a rock ‘n’ roll band”. (…)
Ihr Song hat mich gerettet. Ihr Song war eine Aufforderung, seine eigene Kraft zu entdecken.
Ja, so war es. Es war dieser Song. Alle, die dabei gewesen waren und heute Zahnärzte sind, Therapeuten, Rechtsanwälte, werden es bestätigen. Es war dieser Song. (…)
Rock ‘n’ Roll hat die Welt immer verbessert. Vor 46 Jahren wurde ich durch Mick Jagger Rock ‘n’ Roller – ich liebe die Freiheit.
Aber was immer Franz Josef Wagner vor 46 Jahren vom rechten Weg abbrachte und ihn veranlasste, einen Karrierepfad einzuschlagen, an dessen Ende er heute täglich einen Brief in der “Bild”-Zeitung schreibt — die Rolling Stones und “Street Fighting Man” waren es nicht. Ihr erstes Album brachten die Stones 1964 heraus. “Street Fighting Man” wurde, inspiriert von den Studentenunruhen in Paris, 1968 aufgenommen und veröffentlicht.
Wann hörte Franz Josef Wagner also mit dem Kiffen auf? Man weiß es nicht. Aber nach dem Konzert der Stones fuhr er mit dem Taxi nach Hause: “Richtung Paris Bar, um mich mit Alkohol noch ein bisschen mehr in Stimmung zu bringen.”
Mit Dank an Steffen B., Manfred L., Maren, Andreas und Map!
Die Xenophobie (griechisch ξενοφοβία — Fremdenangst, Fremdenfeindlichkeit, Kompositum aus ξένος, xénos — der “Fremd”, der “Gast” und φόβος, phóbos – “Furcht”) bezeichnet die Scheu oder Furcht vor dem Fremden. Xenophobie ist eine ablehnende Einstellung und Verhaltensweise gegenüber anderen Menschen und Gruppen, die vermeintlich oder real fremd sind (z. B. durch fremde Herkunft, Kultur, Sprache). Sie kann sich durch Furcht, Meidung, Geringschätzung, Spott oder Feindseligkeit ausdrücken, die bis zur Gewalt reicht. Teilweise wird der “Fremde” als Quelle unvorhersehbarer Gefahren gescheut.
Franz Josef Wagner schreibt heute in “Bild” bezüglich der versuchten Bombenanschläge in Deutschland u.a.:
*) Im Brockhaus heißt es zu Xenophobie auch:
“(…) Ursachen von Fremdenfeindlichkeit sieht die Individual- und Sozialpsychologie in Ichschwäche, repressiven Sozialisationsmodellen und mangelnder Gruppenidentität beziehungsweise fehlenden sozialen Stabilisierungen.
Die Soziologie nennt als Bedingungen, die Fremdenfeindlichkeit auslösen (die sich zur Gewalttätigkeit gegen die Fremden beziehungsweise das Fremde steigern kann), mangelnde familiäre Bindungen, berufliche Chancenlosigkeit, die Auflösung von traditionellen Milieus im Zuge beschleunigten sozialen Wandels und die Pluralisierung beziehungsweise den Verlust von gesellschaftlichen Normen und Werten.
Die Politikwissenschaft interpretiert Fremdenfeindlichkeit als Mangel an politischer Bildung, die die Unabdingbarkeit von Toleranz und universellen Menschenrechten gegenüber dem oder den Fremden in einer offenen, zunehmend mobilen pluralistischen Gesellschaft nicht genügend vermittelt. (…)”
Franz Josef Wagner fragt sich heute in seiner “Bild”-Kolumne, ob “wir in Deutschland unter Gedächtsnisschwund” leiden. Er schreibt den “Eltern der Geiseln”:
Ihre im Irak entführten Söhne waren auch in den Medien verschwunden. Keine Meldung auf Seite 1, nichts in der Tagesschau. Ein Grund kann die Osthoff-Ermüdung sein, die menschliche Mitleidseele hat sich ausgeweint. Wiederholungen im Fernsehen sind außerdem langweilig. (…)
Ich frage mich, warum die Eltern dieser Söhne alleine weinen müssen.
Und der Rest Deutschlands Angst vor der sich anbahnenden Grippe hat.
Auf manche Fragen Wagners gibt es Antworten. Einige stehen heute in der “Süddeutschen Zeitung”:
“Je höher die Medienpräsenz einer Geisel, desto höher wird der Preis für sie.” (…)
Der Auftritt bekannter Politiker und der Familie im Fernsehen habe die Summe für Osthoffs Freilassung klar nach oben getrieben, heißt es (…). Deshalb agiert der Krisenstab im neuen Geiseldrama völlig anders. Diesmal gibt es keine Videoaufnahmen von den Familien der Entführten. (…) Diesmal treten keine bekannten Politiker auf, diesmal schwört der Krisenstab auf Ruhe; insbesondere gegenüber den Medien.
Über Details der Entführung sollten Zeitungen, Fernseh- und Radiosender nicht berichten, appellierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. “Nehmen Sie bitte Rücksicht.”
Man könnte jetzt natürlich lange über Franz Josef Wagners Frauenbild diskutieren, wenn er heute in seiner “Bild”-Kolumne in der Krise der SPD vor allem ein Problem zu starker Frauen sieht:
In Wahrheit ist ein Freundinnen-Netzwerk, arglos geboren als Entmüdungsbecken weiblicher Emotion, die Folterwerkstatt für den Mann. Zuerst trugen die Quasselstrippen kleine Siege davon. Kindersorgerecht, Vaterrecht, Frauenquote. Jetzt stürzten sie Deutschland in die größte Krise.
Man könnte auch darüber rätseln, was ihn dazu bringt, über Andrea Nahles, die “Münte-Mörderin”, wie er sie nennt, zu schreiben:
Frau Nahles ist 35, unverheiratet, Literaturwissenschaftlerin. Stellen wir uns einen ahnungslosen Mann vor, der sich in Frau Nahles verliebt. Entweder wird er von ihren Schraubstockhänden erdrückt, totgequasselt von ihren Freundinnen – oder aber er macht ein Kätzchen aus ihr.
Und man könnte staunen über seine väterliche Diagnose:
Frau Nahles braucht einen Mann.
Man könnte aber auch einfach feststellen: Frau Nahles hat einen Mann. Sie ist seit Jahren liiert mit Horst Neumann, einem Vorstandsmitglied bei Audi, und gestern wusste “Bild” das auch noch.
Franz Josef Wagner macht es in “Bild” heute besonders schlimm. Sein Brief richtet sich an ein 11-jähriges Mädchen, das sich das Leben genommen hat. Es wurde in der Schule offenbar heftig gemobbt. Während die Überschrift erstmal nur pietätlos ist, und Wagner aus dem tragischen Fall das boulevardesk gekoppelte “Mobbing-Mädchen” kreiert …
… ist sein Brief gefährlich. Direkt zu Beginn schreibt er:
Du bist nun dort, wo es keine Schule gibt, keine Klassenkameraden/innen, die gemein sind, Dich ärgern. Du bist dort, wie ich hoffe, wo nur Engel sind.
Und am Ende:
Die Einsamkeit des 11-jährigen Mädchens rührt uns nach ihrem Tod. Sie hat die Welt des Bösen nicht ertragen. Lebe bei den Engeln glücklich!
Solltest Du Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.
Der Suizid als scheinbarer Weg zum Glück und zu den Engeln; als vermeintliche Erlösung von der Qual, von der “Welt des Bösen”. Das ist exakt die Art der Berichterstattung, vor der die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” und die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” warnen. Beide haben Leitfäden für Medien herausgegeben, in denen sie zeigen, wie Redaktionen über Suizide berichten sollten. Darin heißt es unter anderem:
In der Berichterstattung sollte alles vermieden werden, was zur Identifikation mit den Suizidenten führen kann, z.B. (…)
• den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion oder gar positiv oder billigend darzustellen bzw. den Eindruck zu erwecken, etwas oder jemand habe “in den Suizid getrieben”. (“Für ihn gab es keinen Ausweg”).
• den Suizid romantisierend oder idealisierend darzustellen (“Im Tod mit seiner Liebsten vereint”).
… so die “Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention” (PDF). Die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” schreibt (PDF):
Nachahmung setzt Identifikation voraus. Diese Gefahr steigt, wenn: (…)
• der Suizid positiv bewertet, glorifiziert oder romantisiert wird
• der Suizid als nachvollziehbare Reaktion oder als einziger Ausweg bezeichnet wird
Die Nachahmungsgefahr sinke hingegen, wenn “der Suizid als Folge einer Erkrankung (z.B. Depression) dargestellt wird, die erfolgreich hätte behandelt werden können” und wenn “alternative Problemlösungen und Fälle von Krisenbewältigung aufgezeigt werden”.
Der gegenteilige Effekt entstehe, wenn eine Redaktion “einen Suizid auf der Titelseite oder als ‘TOP-News’ erscheinen” lasse und “die Begriffe Selbstmord, Suizid und Freitod in der Überschrift vorkommen”.