Suchergebnisse für ‘foto opfer’

Bild  

Quelle: Andere Zeitung

Wenn “Bild” Fotos von Opfern oder Tätern druckt, kommt oft die Frage auf, woher sie das jetzt wieder haben. Manchmal lautet die Antwort schlicht “aus dem Internet”, manchmal lässt sie sich einigermaßen klar mit “aus Polizeikreisen” umreißen und manchmal — ja, manchmal bedient sich “Bild” auch einfach bei anderen Medien.

Ein sogenanntes Trennungsdrama bebilderte die Zeitung gestern mit dem großformatigen, unverfremdeten Foto eines Polizisten, der erst seine Tochter und anschließend sich selbst erschossen hatte:

Polizist erschießt Tochter (8) mit Dienstpistole

Es ist nicht so, dass “Bild” verschwiegen hätte, woher dieses Foto kam:

Foto: Trierischer Volksfreund

Nur der Weg, wie es zu “Bild” kam, ist ein steiler: “Bild” hatte das Foto, das vor einiger Zeit bei einer anderen Gelegenheit entstanden war, auf der Internetseite des “Trierischen Volksfreund” entdeckt und beim Fotografen nachgefragt, ob sie es verwenden dürfte. Die Redaktion des “Volksfreund” erklärte uns gegenüber, sie habe dies abgelehnt, was “Bild” am Telefon zunächst auch akzeptiert habe. Das Foto erschien am Montag trotzdem in “Bild”.

Der “Volksfreund” wies heute am Rande eines Artikels über den Fall auf das Vergehen von “Bild” hin:

Die Bildzeitung hatte den Fall des Trierer Kommissars groß aufgemacht und dabei ein bei anderer Gelegenheit entstandenes Bild des Täters aus volksfreund.de verwendet – widerrechtlich und ohne Genehmigung des TV.

Die Chefredaktion des “Volksfreund” erklärte uns auf Anfrage, dies sei nicht das erste Mal, dass sich “Bild” oder andere Boulevardmedien auf diese Weise Fotos beschafft hätten. Die Zeitung werde daher juristisch gegen “Bild” vorgehen.

Sie wird sich dabei auf das sogenannte Urheberrecht berufen, auf das die Axel Springer AG, die “Bild” herausgibt, sonst so viel Wert legt.

Mit Dank an Lars W.

Jonathan H. und die Geier

Im November fand man in Leipzig in einem Fluss die zerstückelte Leiche eines jungen Mannes. Am vergangenen Freitag konnte er als Jonathan H. identifiziert werden.

Und weil Jonathan H. in seinem Leben Spuren im Internet hinterlassen hat, ist der Fall für die Presse klar: Die “Dresdner Morgenpost” glaubt an einen “Manga-Mord”, und anders noch als am Samstag auf der Titelseite (Ausriss oben rechts) benutzt sie das Wort inzwischen auch ohne Fragezeichen. Und die “Bild”-Zeitung braucht nur zwei Sätze, um Leben und Sterben von Jonathan H. zu charakterisieren:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Sie haben sich großzügig bedient, bei den Fotos, die sie von Jonathan H. gefunden haben. Sie haben sie ebenso großzügig und ohne Rücksicht auf Verluste interpretiert und Jonathan gleich noch einmal auf eine andere Art zu einem Opfer gemacht.

Nicole B. hat Jonathan gekannt. Sie hat gezögert, den Lügen und Zumutungen von “Bild” und “Morgenpost” öffentlich zu widersprechen, weil sie Angst hat, dass deren Leute sich daraus wieder Dinge herauspicken und nach Belieben verdrehen werden. Sie will dem Ruf ihres ermordeten Freundes nicht noch weiter durch Abfalljournalismus schaden.

Aber sie möchte auch nicht schweigen. Mit ihrer Genehmigung veröffentlichen wir ihren Offenen Brief:

Ich weiß, dass die Ursache dieses Briefs für journalistische Verhältnisse weit zurück liegt. Es fiel mir jedoch ungeheuer schwer, die passenden Worte zu finden. Ich sehe aber — außer rechtlichen Schritten — keine andere Möglichkeit, den geschmacklosen Äußerungen und Berichten zu widersprechen.

Es geht um den Mord an Jonathan H., einen Freund. Jemand, der da war, wenn man ihn brauchte. Jemand, der stets sagte: “Das kriegen wir schon wieder hin!”, wenn man selbst nicht mehr daran glaubte. Jemand, der sich kümmerte und sorgte und immer aushalf, wenn es nötig war. Jemand, mit dem man über Gott und die Welt reden konnte und dessen Lächeln seit dem 6. November auf ewig fehlen wird.

Ein Mensch, in dessen Gesicht die Emotion “Wut” nicht passt und der sich wohl eher zurückzog, wenn man ihn kränkte.

Es ist schon schmerzlich genug, dass man uns einen derartigen Freund auf grausame Art und Weise nahm. Doch die “Bild”, “Morgenpost” und andere sind wie Geier, die auch noch das letzte, was von ihm blieb, vor unseren Augen zerstückeln!

Er war — wie viele andere – Anime- und Mangafan. Er war kein Cosplayer. Er bewunderte zwar die Ergebnisse der Cosplayer, jedoch wie viele traute er sich selbst die komplizierte, teure und aufwändige Fertigung eines Kostüms wahrscheinlich nicht zu. Seine Interessen lagen ohnehin wesentlich stärker in Informatik, darüber konnte er stundenlang reden und es auch noch sehr anschaulich erklären.

Entgegen der Berichterstattung war Jonathan auch kein Zeichner. Er hat hin und wieder — aus Interesse — den Stift in die Hand genommen und es sich von denen, die ihre Freizeit mit Zeichnen verbringen, erklären lassen.

Jonathan war auch kein Eigenbrötler — im Gegenteil! Er war stets der erste, der vorschlug, sich mal wieder zu treffen, wenn man sich nach langer Zeit wiedersah. Er war auch immer derjenige, der sich die Zeit für die Treffen nahm und auch immer erschien, wenn man sich traf. Er war ein bekanntes Gesicht, auch bei denen, die nicht viel mit ihm zu tun hatten.

Und ich möchte eines auf jeden Fall und mit Nachdruck klarstellen: Er war auch kein homosexueller Transvestit, der sich prostituierte, wie die “Bild” und ihre Ableger glauben machen möchten!

Dieses eine Foto, auf dem er als Cosplayer dargestellt wird, hat die “Bild” nicht nur unrechtmäßig von der Community genommen und verwendet. Es war auch noch als Scherz gedacht. Es war ein Spaß für alle Außenstehenden und wie man an den Kommentaren der Fotos von Jonathan erkennen kann, fand er es auch witzig.

Cosplay ist eine Abkürzung von “Costume Play”, jedoch wurde — auch wenn das Wort aus dem Englischen stammt — dieser Begriff von den Japanern geprägt, wo Cosplay eine lange Tradition hat. Beim Cosplayen geht es nicht um irgendwelche abstrusen Rollenspiele, auch wenn der Begriff “In Character” (sich wie der Charakter, den man darstellt, verhalten) von vielen betont wird. Dies gilt nur für die Auftritte vor Publikum und Jury.

Beim Cosplay geht es um den Spaß, den man während des Fertigens hat. Der Weg ist das Ziel, dementsprechend stark richtet sich Cosplay auf kreative Problembewältigung, Planung und handwerkliches Geschick aus. Das Ziel ist, mit einem begrenzten Budget dem Original so nah wie möglich zu kommen. Das Tragen des Endprodukts ist nur die “Creme auf der Torte”.

Jonathan war verträumt, aber begeisterungsfähig, kontaktfreudig, rücksichtsvoll, hochintelligent und einfach ein Visionär. Er war stets optimistisch und ihm war zuzutrauen, dass er die Welt verändern konnte, mit all den genialen Ideen, die ihm scheinbar aus dem Nichts zuflogen. Oftmals während des Sprechens über ein Problem, mitten im Satz, weswegen er das Weiterreden als überflüssig ansah, den begonnenen Satz zu beenden, um sich anderen, neuen Problemen zuzuwenden.

Er war auf jedem Treffen dabei und entgegen der angeblichen Aussage seiner Nachbarn sehr gern und oft unter Menschen, bei denen er sich wohlfühlte: uns. Ist es nicht normal, wenn man unter Freunden offener und zugänglicher ist als unter Fremden? Ist man deswegen ein Sonderling und Eigenbrötler??

Er war ein normaler Mensch mit einem normalen Hobby.

Ich kann einfach nicht verstehen, wieso man einen liebenswerten Menschen derartig diffamieren kann, nur, weil sein Hobby außergewöhnlich erscheint. Jonathan oder Angehörige der Anime- und Mangaszene werden nicht nur als “bizarr” bezeichnet und abgewertet. Es werden auch haarsträubende Vermutungen angestellt, wie zum Beispiel, dass Cosplay erotische Rollenspiele wären, wie die “Bild” und “Morgenpost” fälschlicherweise angeben.

Wäre es denn normaler, wenn er sich Nacht für Nacht in irgendwelchen Clubs zugesoffen hätte? Wäre das gesellschaftlich akzeptabler als eine kreative Freizeitbeschäftigung wie Zeichnen, Schneidern und Basteln? Wird Zeichnen, Schneidern und Basteln eine andere Tätigkeit, nur weil man nebenbei beispielsweise “Lady Oscar” im Fernseher schaut oder “Wish” liest?

Sind Anime- und Mangafans weniger zuverlässige, verantwortungsbewusste und engagierte Schüler, Studenten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Menschen mit “normalen” Hobbies?

Die Antwort ist klar und deutlich “Nein”, und wenn irgendwer oder irgendeine Institution darüber urteilt, so urteilt sie in einer Art und Weise, die nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen wie Jonathan missachtet und in den Schmutz zieht, sondern einem Mordopfer auch noch die Schuld an seinem brutalen und grausamen Mord gibt.

Jonathans Mörder hat ihm nicht nur das Leben genommen, sondern auch seine Identität gestohlen, indem er ihn zerstückelte und wie Müll entsorgte. Ich verwende bewusst diese emotionale Metapher, da der (oder die) Täter in meinen Augen nichts anderes als eben das getan hat (haben). Auch fällt es mir, als eine von Jonathans Freunden schwer, mich gefühlsmäßig von seinem schrecklichen Tod zu distanzieren.

Umso mehr schockt es mich, dass Medien wie “Bild” und “Morgenpost” derartig diffamierende Berichterstattung über Jonathan betreiben.

Warum wird ein aufrichtiger und lieber Mensch wie er wegen eines “Partygags” verurteilt und in den Schmutz gezogen? Reicht es nicht, dass er ermordet und zerstückelt wurde? Reicht es nicht, dass im Kreis seiner Freunde eine große Lücke klafft, die niemals wieder gefüllt werden kann? Genügt es nicht, dass wir nur noch trauern können? Dass wir nichts haben, außer der Hoffnung, der oder die Mörder möge/n gefunden werden?

Wie krank ist die Redaktion der “Bild” und ihrer Ableger, ein Mordopfer derartig zu diffamieren und den Lesern zu vermitteln, es wäre an seinem eigenen Tod Schuld?! Es starb ein Freund, ein Sohn, ein Mensch! Und für Verkaufszahlen, Geld und Auflagengeilheit wird sein Name besudelt?

Nicole B.

Bild  

Angels deserve to die

Wenn “Bild” in großer Aufmachung die “kranke”, “irre” oder “bizarre” Welt irgendeiner Person darstellt, so handelt es sich meist um mühsam zusammengetragene Null-Informationen aus dem Leben eines Verbrechers — etwa die “kranke Welt des Killers” oder die “irre Welt des Taxi-Entführers”.

In einem aktuellen Mordfall in Leipzig hat die Polizei noch keinen Täter ermitteln können, den “Bild” großflächig porträtieren konnte. Aber in Zeiten des Internets ist das kein Problem, so dass “Bild” am Montag einfach die “bizarre Welt” des Opfers zeigen konnte:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog. Die bizarre Welt des Jonathan H. (†23)
Schon die Dachzeile, die auch aus einem 35 bis 60 Jahre alten “Bild”-Artikel stammen könnte, ist geeignet, dem geneigten Leser den Ausruf “Selbst schuld!” auf die Zunge zu legen, ohne diesen Gedanken explizit formulieren zu müssen:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Die drei Fotos des Opfers, die “Bild” unverfremdet zeigt, sind natürlich “privat” — sie stammen alle aus dem Online-Forum einer Anime- und Manga-Community und wir wären ehrlich gesagt überrascht, wenn “Bild” die Fotografen vorher um Erlaubnis gebeten oder ihnen ein Honorar gezahlt hätte. Aber es sind ja auch ganz wunderbar … äh: “bizarre” Motive, die dem Leser nicht vorenthalten werden sollen und die zu Einleitungen wie dieser einladen:

Der Junge mit den Engelsflügeln – er wurde das Opfer eines bestialischen Killers.

Nun hat der “Junge mit den Engelsflügeln” überhaupt keine Engelsflügel: Wenn man das Originalfoto aus dem Manga-Forum nicht (wie “Bild”) an den Rändern beschneidet, sieht man nämlich ganz gut, dass der “Junge” vor einem Plakat mit Engelsflügeln steht:

“Bild” fragt:

Wer war der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte?

Natürlich kennt die Zeitung die Antwort selbst nicht, aber die “Bild”-Reporter Bernhard Nathke, sonst Fotograf für Klickstrecken wie “Zwei Männer in Auto verbrannt” oder “Nissan Fahrer rast in Stauende und stirbt”, und Johannes Proft, der auch gerne mal mit Menschenknochen im Internet posiert, haben sich offensichtlich viel Mühe gegeben, ein “bizarres” Gesamtbild zusammen zu puzzeln. Sie zitieren “eine ehemalige Bekannte” und “Nachbarn” und malen so das Bild eines “ängstlichen Eigenbrötlers”, der von Hartz IV lebt und “in eine Phantasiewelt” abgetaucht sei (“Gefesselt von japanischen Manga-Comics und Rollenspielen”).

Diese “Phantasiewelt” ist natürlich ein Boulevard-Thema, das die “Bild”-Reporter wunderbar ausschlachten können. Zwar hält die schon genannte Online-Community nicht viele Informationen bereit, dafür aber einige Fotos des Ermordeten. Und weil er so unvorsichtig war, sich zumindest bei einer Gelegenheit mal in Frauenkleidern fotografieren zu lassen, und er wenigstens auf einem anderen, fünf Jahre alten Foto mit schwarz lackierten Fingernägeln zu sehen ist, ist er für “Bild” jetzt “der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte”.

In einer Art Serviceteil beantwortet “Bild” die Frage “Manga & Cosplay — Was ist das eigentlich?”. Nach ein paar sachlichen Informationsbrockenen schwenkt “Bild” zum Ende wieder auf die bekannte Linie:

Auch sexuelle Rollenspiel-Varianten sind bekannt, aber eher selten.

Offenbar nicht zu selten, um auf die vermeintlich anrüchige Information zu verzichten.

Dazu passt auch diese Information, die “Bild” von “Nachbarn” erfahren haben will:

Homosexuell, mit ständig wechselnden Männerbekanntschaften.

Wie sehr sich “Bild” in die Theorie irgendeines perversen Milieu-Mordes verbissen hat, zeigt sich in einem Artikel vom Samstag, bei dem die Geilheit des Autors geradezu aus den Zeilen trieft:

Nach BILD-Informationen wird derzeit jedoch besonders intensiv geprüft, ob das Opfer im homosexuellen Milieu aktiv war, möglicherweise sogar seinen Körper an Freier verkaufte. Der Staatsanwalt, der alle anderen Thesen klar abwies, bleibt bei dieser vorsichtig: “Das möchte ich weder bestätigen noch dementieren.”

Sollte sich dieser Verdacht erhärten und der Täter bald gefasst werden, kann “Bild” in Kürze schon wieder mit dem Porträt irgendeiner “kranken” oder “irren” Welt aufwarten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Lynchvorlage (2)

Im Juli hatte “Bild” groß über einen Mann berichtet, der ein siebenjähriges Mädchen in Thüringen sexuell missbraucht und getötet hatte. Im Rahmen ihrer Berichterstattung bezeichnete die Zeitung den geständigen mutmaßlichen Täter als “Schwein” und zitierte einen BKA-Beamten mit den Worten “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”

Wie um es den genügend Anderen im Knast einfacher zu machen, hatte “Bild” den Fall mit einem großen, unverfremdeten Foto des Mannes illustriert (BILDblog berichtete):

Das ist Mary-Janes Mörder: Er hat sie missbraucht, gewürgt und warf sie lebend in den Bach

Wir haben uns beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung von “Bild” und Bild.de beschwert. Wie in solchen Fällen üblich nahm die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG dazu Stellung und erklärte unter anderem, es entspräche der ständigen Spruchpraxis des Deutschen Presserats, dass bei vorliegendem Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. (Der Presserat merkt dazu an, dass sich das Justiziariat dabei “auf den einzigen Fall mit diesem Tenor” berufe.)

Die Bezeichnung “Schwein” drücke nach Ansicht der Axel Springer AG aus, was der “weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung” über den Mann und die ihm zur Last gelegten Taten denke. Wer das Vertrauen und die Unterlegenheit eines Kindes ausnutze, um es sexuell zu misshandeln und es dann qualvoll umzubringen, sei nach herrschender Ansicht als “Schwein” zu bezeichnen. Auch die Einordnung als “beruflich und privat ein ewiger Verlierer” sei zulässig, da der mutmaßliche Täter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sein Leben nicht “auf die Reihe” bekommen habe, wie der Verlag weiter ausführte.

Den Abdruck des Fotos rechtfertigten die Springer-Juristen so:

Schon die Tatsache, dass jemand ein siebenjähriges Mädchen sexuell misshandele und sie danach ermorde, sei so außergewöhnlich, dass damit eine Fotoveröffentlichung gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei. Ein Großteil der deutschen Tagespresse haben über den Fall Mary-Jane berichtet.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte

Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ließ sich von dieser Begründung nicht beeindrucken und kam zu der Überzeugung, dass die Beiträge von “Bild” und Bild.de die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzten und damit gegen Ziffer 8 in Verbindung mit Richtlinie 8.1 (s. Kasten) des Pressekodex verstoße.

Die identifizierbare Abbildung des Täters ist aus Sicht des Beschwerdeausschusses “ethisch nicht vertretbar”. Ein Tatverdächtiger könne ausnahmsweise abgebildet werden, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liege oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen werde. Eine solche Ausnahme sei im konkreten Fall aber nicht gegeben, “Bild” hätte auch ohne Abbildung der Person oder mit ausreichend unkenntlich gemachten Bildern umfassend über den Fall berichten können.

Einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex, die zur Achtung der Menschenwürde mahnt, konnte der Beschwerdeausschuss jedoch nicht feststellen. Durch die Verwendung der Bezeichnung “Schwein” werde deutlich, “dass die Tat von der Redaktion als Schweinerei verstanden werde”. Sie bringe mit “bildhafter Sprache” eine zulässige Bewertung zum Ausdruck.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die letzten Ausführungen sind bemerkenswert, hatte der Presserat den Begriff “Schwein” (anders als etwa den Begriff “Bestie”) oder “Dreckschwein” doch bisher meist als Verletzung der Menschenwürde angesehen.

Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den Verstoß gegen Ziffer 8 aber als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.

Sterben live

Vor zwei Jahren wurde “Bild” vom Presserat wegen “unangemessen sensationeller” Berichterstattung zum Tod von Michael Jackson gerügt. Zu der Überschrift “Hier verliert er den Kampf um sein Leben” zeigte die Zeitung damals ein riesiges Foto, auf dem Jackson auf einer Trage liegend und an Beatmungsgeräte angeschlossen zu sehen war. Da dadurch bei Lesern der Eindruck entstehe, einem Menschen unmittelbar beim Sterben zuzusehen, sah der Beschwerdeausschuss darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde (BILDblog berichtete).

Hat die Rüge gefruchtet? Nun, das mit dem “beim Sterben zusehen” scheint immer noch spannend genug zu sein, um es auf der Startseite von Bild.de so anzuteasern:

FEUER IM FLUCHTMOBIL Hier verbrennen zwei Bankräuber

Im gut bebilderten Artikel heißt es:

Das Feuer lodert aus dem Dach des Wohnmobils, im Innenraum liegen zwei Bankräuber. Unklar, ob die beiden Männer schon tot sind, als das Feuer ausbricht, oder ob sie Opfer der Flammen werden.

Fehlen nur noch Chips und Bier …

Mit Dank an Christian S.

Hypo Real Estate, Mely Kiyak, Schäferhund

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wen kümmern 50 Milliarden Euro?”
(stern.de/blogs, Hans-Martin Tillack)
Hans-Martin Tillack liefert Hintergründe, wie über Geldbeträge der verstaatlichten Bank Hypo Real Estate informiert wird und wie Journalisten diese Informationen aufnehmen und verarbeiten. Siehe dazu auch “Verrechnet – Milliarden und die HRE” (ndr.de, Video, 5:30 Minuten).

2. “Ui, Mely Kiyak!”
(titanic-magazin.de)
“Titanic” antwortet auf eine Kolumne von Mely Kiyak in der “Frankfurter Rundschau”, in der sie Mitglieder der Piratenpartei als “eine Ansammlung von zotteligen Typen” beschreibt. Sie schrieb damals: “Schwammige Figuren, ungesunder Teint, hässlich, mein Gott, da ist ja nix dabei! Man roch die vermieften T-Shirts regelrecht. Kein Wunder, dass keine Mädchen bei denen mitmachen. Ich verstehe jetzt auch, warum die Piraten keinen Wahlkampf mit Fotos veranstalteten – das Auge wählt schließlich mit.”

3. “Polizistenmord: Wie der Bayerische Rundfunk auf den Hund kam”
(augsburger-allgemeine.de, sbo)
Br.de illustriert eine Nachricht mit einem bearbeiteten dpa-Bild. Nebel wurde “durch ein diffuses Sonnenlicht ersetzt”, ein Schäferhund mitten in eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten montiert. “Der Bayerische Rundfunk erklärt den Vorfall mir gegenüber mit einer internen Panne. Bei der Bildmontage handle es sich um eine Titelgrafik aus der Rundschau-Sendung im BR-Fernsehen.”

4. “Niveaulosigkeit”
(nullsummenspiel.tumblr.com, Pascal Paukner)
Pascal Paukner ärgert sich, wie Chris Köver in der Zeitschrift “Zeit Campus” über Jürgen Habermas beschreibt.

5. “Wir waren beim Fußball – und haben es überlebt”
(schwatzgelb.de, Sascha und Arne)
“Wer den Fußball komplett befrieden will, muss ihn seine Brisanz berauben – und damit auch all dem, was seine Faszination begründet”, schreiben Sascha und Arne in einem langen Artikel über Fußball und Gewalt. “Wenn sich Fangruppierungen auch abseits der Spiele bekriegen und jungen Fans auf dem Schulweg oder am Bahnhof aufgelauert wird, und wenn Täter in der Gruppe den unterlegenen Opfern die Fanutensilien rauben, dann ist das zweifelsohne bedenklich – seltsamerweise interessieren sich aber weder Polizei, noch Vereine, noch Medienvertreter für diese Ereignisse. Vielleicht sind sie einfach nicht spektakulär und medienwirksam genug?”

6. “Eine Frage des Geschmacks”
(karolinakuszyk.blogspot.com)
Karolina Kuszyk fragt ihre Freundinnen: “Was für Weisheiten haben euch eure Mütter mit auf den Weg gegeben?”

Schöner Einbrechen bei Facebook

Es ist eine beunruhigende Meldung, die Bild.de da verbreitet:

Facebook-Zahlen: Hacker knacken 600.000 Konten pro Tag

Die Meldung, die auch auf anderen Nachrichtenwebsites zu finden ist, stammt von der Nachrichtenagentur Global Press, die schreibt:

“Problemfälle” heißen sie offiziell bei Facebook – jeden Tag werden 600 000 Nutzer Opfer eines Identitätsdiebstahls, weil Hacker ihre Konten bei Facebook übernehmen.

Diese Zahl hat das größte soziale Netzwerk nun in einem Blog-Eintrag öffentlich gemacht und zugleich relativiert. Nur 0,06 Prozent aller täglichen Anmeldungen bei Facebook seien illegale Logins, da man jeden Tag rund eine Milliarde Zugänge zu registrierten Konten verzeichne. Das Netzwerk hat weltweit 800 Millionen Mitglieder.

Gehen wir mal der Reihe nach vor: Das Wort “Problemfälle” taucht in der Mitteilung von Facebook, die sich im wesentlichen um neue Sicherheits-Funktionen dreht, gar nicht auf. Auch die Zahl von 600.000 stammt nicht von Facebook selbst, sondern von verschiedenen Medien, die sie auf Grundlage einer Infografik von Facebook ausgerechnet hatten. Das war übrigens schon vergangenen Freitag, also in Internet-Zeit vor ein paar Monaten.

Das Wichtigste aber: Die Zahl von 600.000 steht nicht für geknackte Konten, sondern für die Versuche, Facebook-Konten zu knacken. Vereitelte Versuche, wohlbemerkt.

msnbc.com führt dazu aus:

Der Facebook-Blogeintrag enthält eine Infografik, die die erfolgreichen Bemühungen des Netzwerks darlegt, Spam, Konto-Entführungen und andere Übel zu bekämpfen. Darin sagt Facebook, dass nur “nur 0,06% der mehr als 1 Milliarde Logins pro Tag kompromittiert” seien. Die Seite sei in der Lage, die Anzahl der gestohlenen oder anderweitig gefährdeten Logins genau zu bestimmen, denn sie fordere die Möchtegern-Hacker mit zusätzlichen Authentifizierungsfragen heraus, indem sie Benutzer etwa bitte, Freunde auf Fotos zu identifizieren, sagte Sprecher Barry Schnitt.

“Das bedeutet, dass wir 600.000 mal am Tag einen Bösewicht davon abhalten, Zugriff auf ein Konto zu erhalten, obwohl er die Login-Daten und das Passwort eines Kontos erraten, ergaunert oder gestohlen hat”, sagt Schnitt. “Darauf sind wir sehr stolz.”

Eine unbekannte weitere Anzahl von Hack-Versuchen sei erfolgreich, sagte Schnitt, um hinzufügen, dass es sich dabei um “einen extrem geringen Prozentsatz” von Konten handle.

(Übersetzung von uns.)

Korrekterweise müsste die Überschrift also nicht “Täglich werden 600 000 Facebook-Konten geknackt” lauten, sondern “Täglich werden 600 000 Facebook-Konten nicht geknackt”. Denn die Anzahl der tatsächlich geknackten Konten kennt nicht mal Facebook. Sagen sie dort.

Mit Dank an Andreas N. und Josef Sch.

Bild  

Bubi ist bloß Bengel

Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.

Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:

Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.

Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.

Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!

Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichen Hochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.

Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:

Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.

Dabei erfuhren die Reporter so einiges:

Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”

Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:

“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”

Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 8.4 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.

Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).

Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:

Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!

[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.

Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).

Aber nicht nur das:

Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”

Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.

Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.

Mit Dank an Ares, Frank und Björn.

Kochrezepte für den Suizid

Journalisten scheinen ziemlich morbide Menschen zu sein. Jedenfalls gibt es kaum ein Thema, an dem sie sich so sehr weiden können, wie an Selbsttötungen anderer Menschen. Da wird gezeigt, wie es aussieht, wenn eine Frau an den Ort kommt, an dem sich ihr Mann gerade das Leben genommen hat; da wird den jugendlichen Lesern erzählt, wie es (mutmaßlich) war, als sich eine 15-Jährige erhängte, “weil sie zu hübsch war”, und da wird generell alles getan, um Nachahmungstaten anzustacheln, die eine öffentliche Zurschaustellung von Selbstmorden erwiesenermaßen nach sich zieht.

Doch die echte Gefahr lauert nicht bei verantwortungslosen Journalisten in Fernseh- und Zeitungsredaktionen, die echte Gefahr lauert – natürlich – im Internet. Dort gibt es “ein Problem, bei dem staatliche Kontrolle an ihre Grenzen stößt”, wie die “Spiegel TV”-Moderatorin Maria Gresz im ihr eigenen staatstragenden Domina-Tonfall erklärt. In zahlreichen Selbstmordforen würden Ratschläge angeboten, “die in ihrer Ausführlichkeit an Bedienungsanleitungen erinnern”.

Vorwand für den nun folgenden Beitrag ist die Geschichte dreier junger Frauen, die sich über das Internet kennengelernt und zum gemeinsamen Suizid verabredet hatten. Der Fall in Niedersachsen hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt — auch, weil die Polizei “ungewöhnlich ausführlich” über die Selbsttötungen informiert hatte, wie das NDR-Medienmagazin “Zapp” im August berichtet hatte.

Nun also “Spiegel TV”. Das RTL-Boulevardmagazin, produziert von der TV-Tochter des Nachrichtenmagazins “Der Spiegel”, hat die Mutter von Stefanie besucht, einem der drei Mädchen. “Spiegel TV” zeigt Bilder von der Trauerfeier, Bilder von der Stelle im Wald, an der sich die Drei töteten, und Bilder von der Mutter, die bei der Polizei abholen “darf”, “was ihre Tochter am Todestag bei sich trug”. Die Frau schüttelt den Kopf und murmelt, es seien so viele Fragen offen. “Welche”, fragt die Reporterin von außerhalb des Bildes und dann formuliert diese um Fassung ringende Frau ihre offenen Fragen für die Reporter und Zuschauer von “Spiegel TV” noch einmal aus: “Warum? Einfach nur warum?”

Eine ehemalige Mitschülerin zeigt den Reportern ein Kinderfoto von Stefanie — dabei haben die bei der Mutter doch längst eine viel ergiebigere Quelle aufgetan: Vor laufender Kamera blättert die Mutter in Stefanies Tagebuch, aus dem die Off-Sprecherin dann die vermeintlich todessehnsüchtigsten Sätze der damals 14-Jährigen zitiert, begleitet von dramatischer Musik.

Und dann zeigt “Spiegel TV”, wo man sich diese “Ratschläge, die in ihrer Ausführlichkeit an Bedienungsanleitungen erinnern”, holen kann:

Nur noch mal zum Mitdenken: Da gibt es also ein Forum, in dem ungehindert über die besten Methoden diskutiert wird, um aus dem Leben zu scheiden, und “Spiegel TV” hält es für eine Spitzenidee, dieses Forum mit bildschirmfüllender Internetadresse vor 2,3 Millionen Fernsehzuschauern nachgerade zu bewerben.

Man muss wohl Mitarbeiter von “Spiegel TV” sein, um dann folgende Überleitung zu ersinnen oder zu verstehen: “Ein ähnliches Internetforum betreibt auch Rebekka von Fintel. Diskussionen über Suizidmethoden sind hier jedoch verboten — wer konkrete Pläne äußert, wird sofort kontaktiert.”

Doch zurück zum Internetforum, in dem “Selbstmordmethoden aller Art” diskutiert werden, “wie andernorts Kochrezepte”:

Die Off-Sprecherin erklärt: “Ein perfider Plan, den Stefanie tatsächlich umsetzt: Sie kauft sich ein Zelt, baut es probehalber in ihrem Zimmer auf und macht ein Foto davon.” Und weil es dieses Foto gibt, muss “Spiegel TV” es natürlich zeigen.

Die Familie des zweiten Opfers war offensichtlich nicht so kooperationsbereit wie die von Stefanie. Macht nichts, dann zeigt “Spiegel TV” halt ein anonymisiertes Foto und filmt ein bisschen auf Facebook herum.

Der Taxifahrer, der die drei Mädchen in dem Glauben gefahren hatte, dass sie Zelten wollten, erzählt, den Dreien seien ihre Pläne nicht anzumerken gewesen. “Spiegel TV” zeigt ein paar Bäume und nennt den Namen der Ortschaft, zu dem der Wald gehört, in dem die Mädchen “die Anleitungen aus dem Internet” “minutiös ausgeführt” haben. Wie minutiös, das erklärt ein Polizist noch einmal minutiös. Wie andernorts Kochrezepte halt.

Mit melodramatischer Musik und den Worten, den Angehörigen bleibe nur die Trauer und absolute Ratlosigkeit, endet der Beitrag. Maria Gresz kommt wieder ins Bild und sagt:

Gegen den Betreiber der Seite […] können deutsche Behörden übrigens nur schwer vorgehen, eben weil er seinen Sitz auf den Bahamas, sprich: im Ausland, hat.

Ihr nächster Satz, im gleichen Atemzug, lautet dann:

Von einem vollkommenen Kontrollverlust könnte man mittlerweile auch bei den russischen Autofahrern sprechen.

Es steht zu befürchten, dass das “auch”, auch wenn es sonst überhaupt keinen Sinn ergibt, nicht selbstkritisch gemeint ist.
 

Wie Medien über Suizide berichten sollten, um Nachahmungstaten zu vermeiden:

  • Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
  • Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
  • Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
  • Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.

(Quelle: psychosoziale-gesundheit.net)

Mit Dank an Kai H.

Supertalent, David Simon, Interessenskonflikte

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Eine verheerende Entwicklung”
(faz-community.faz.net, Peer Schader)
Die RTL-Sendung “Das Supertalent” werde prägend sein für unsere Fernsehkultur, ob wir das wollen oder nicht, schreibt Peer Schader. “Es geht darum, immer wieder neu, künstliche Paul-Potts-Momente zu schaffen, mit dem Spielsüchtigen, der sich hässlich findet, mit Ausgegrenzten, manchmal auch mit Gewaltopfern, die vor der Kamera erzählen, wie sie als Kind geschlagen wurden, als ob der Applaus des Publikums nachher alles ungeschehen machen könnte.”

2. “Mopo druckt unverpixelt gestohlene Nacktfotos und verhöhnt das Opfer im Text”
(journalist-und-optimist.de, Joachim Dethlefs)
Die “Hamburger Morgenpost” druckt Scarlett Johansson gestohlene Handyfotos.

3. “Burnout im Netz?”
(wolfgangmichal.de)
Keineswegs, findet Wolfgang Michal: “Die Zeit, in der Blogs, Social Media und Netzpolitik eine wirkliche Rolle spielen, fängt gerade erst an.”

4. “Die mutigsten Hurensöhne der ganzen TV-Branche”
(profil.at, Sebastian Hofer)
Sebastian Hofer spricht mit David Simon, unter anderem Drehbuchautor und Produzent von “The Wire”, über HBO und klassisches Fernsehen: “Fernsehen kam mir immer so vor, als würde es nur existieren, um mir etwas zu verkaufen. Alle zwölf Minuten bleibt die Geschichte stehen, um mir Bluejeans anzudrehen.”

5. “Interessenkonflikte: Wie sollten Journalisten darüber berichten?”
(medien-doktor.de)
Klaus Koch über den Umgang mit Interessenskonflikten: “Immer, wenn Menschen zueinander eine Beziehung haben, verändert das ihr Urteil übereinander. Wissenschaftler und Ärzte (und natürlich auch Journalisten) sind hier keine Ausnahme. Wenn eine Person, die in einem Beitrag als Experte zitiert wird, eigene (sekundäre) Interessen hat, kann es sein, dass sie wichtige Aspekte entweder über- oder unterbewertet.”

6. “‘Germans’ from Public Parts by Jeff Jarvis”
(scribd.com, Jeff Jarvis, englisch)
“Private Germans” und “The German Paradox” aus dem Buch “Public Parts” von Jeff Jarvis: “So, on the one hand, German politicians said Google was violating citizens’ privacy by gathering data. On the other hand, they were demanding that Google hold on to citizens’ private communication should government wish to use that information against them.”

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