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Die beispiellose Misserfolgsgeschichte von “Bild”


Max Goldt, 49, ist Schriftsteller und Musiker. Bekannt wurde er in den achtziger Jahren als Sänger und Texter des Duos “Foyer des Arts” (“Wissenswertes über Erlangen”) — das Munzinger-Personenarchiv spricht vom Beginn seiner “Karriere als humoristischer Szeneheld”, was man fast als Beleidigung verstehen kann. Er schrieb Texte für “Titanic”, veranstaltete Lesungen und Musikvorträge und veröffentlichte seine wunderbaren, meist kurzen Beobachtungen in Büchern wie “Schließ die Augen und stell dir vor, ich wär Heinz Kluncker”, “Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau”, “Ä” und zuletzt “QQ”. Als “Katz & Goldt” veröffentlichen der Zeichner Stephan Katz und er seit vielen Jahren Comics, u.a. in “Titanic”. Das achte Buch der beiden ist im Frühjahr erschienen und heißt “Der Globus ist unser Pony, der Kosmos unser richtiges Pferd”. Über “Bild” schrieb Max Goldt 2001: “Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.”

Von Max Goldt

Mein Verleger versucht hin und wieder, mir einzureden, ich sei konservativ. Er tut das gern mit dem Unterton “Willkommen im Club!”. Ich erwidere dann stets, es gebe mehrere Gründe, aus denen ich nicht konservativ sein könne, ein gewichtiger sei mein Mangel an Patriotismus. Im Prinzip hätte ich gar nichts gegen Vaterlandsliebe, sofern sie nicht allzu unterwürfig ausfiele, aber bezüglich eines Staates, dessen höchste Repräsentanten der “Bild”-Zeitung ständig Interviews geben, ihr zu Jubiläen gratulierten und mit Vertretern des Springer-Verlages auf Empfängen herumklüngelten, könne ich partout gar keinen Patriotismus empfinden.

An sich könnte man die “Bild” in ihrer kleinbürgerlichen Häßlichkeit einfach ignorieren, ebenso wie man in der Lage ist, Weihnachtsmärkte, Abba-Musicals und die frühabendlichen Klatschmagazine des Fernsehens zu ignorieren. Schließlich ist sie nüchtern betrachtet keineswegs übermäßig erfolgreich. Ein Blatt, das dermaßen vulgär daherkommt und sich seit Ewigkeiten mit Kleineleuteversteherei drastischster Art anbiedert, müßte angesichts des völligen Fehlens einer Konkurrenz eigentlich mehr als gerade mal 3,5 Millionen Exemplare absetzen. Die Zielgruppe ist doch viel größer. Man könnte von einer beispiellosen Mißerfolgsgeschichte reden. Um so idiotischer ist es, daß überall so getan wird, “Bild” sei ein unverzichtbares Steinchen im großen deutschen Mosaik. An “Bild” käme niemand vorbei, wird gesagt. Ja, warum denn nicht? Vielleicht sollte man erst einmal versuchen, an ihr vorbeizukommen! Meiner Erfahrung nach ist das gar nicht schwer.

Nur in der Bahn ist es zur Zeit schwierig. Im Rahmen einer “Erste-Klasse-Offensive”, mit der die DB AG seit Anfang Dezember das Reisen in der ersten Klasse populärer machen möchte, stehen auf den Kofferablagen Pappkartons mit Gratis-Tageszeitungen, u.a. mit “Bild”. Warum aber reisen Menschen in der ersten Klasse? Um etwas mehr Ruhe zu haben, sollte man meinen. Zur Ruhe gehört jedoch unbedingt auch die Abwesenheit optischen Gedröhnes auf den Nachbarsitzen. Neulich sah ich in einem Bahnhof ein hübsches Graffito: “Politik und Bahn schämt euch!” Ja, Bahn schäm dich! Raus also mit der “Bild”-Zeitung aus der ersten Klasse! Sonst fahr ich wieder zweiter Klasse, und die Offensive ist nach hinten losgegangen.

Als mein Freund Gerhard Henschel im letzten Jahr sein “Bild”-kritisches Buch “Gossenreport” herausbrachte, habe ich ihn dazu sehr beglückwünscht. Allerdings sei es schade, fügte ich hinzu, daß das Buch in einem linken Kleinverlag erschienen sei. Nicht, daß ich irgendetwas gegen linke Kleinverlage einzuwenden hätte. Gott schütze sie allesamt!

Nur: Eine “Bild”-Kritik von links wirkt nicht sonderlich überraschend. Man denkt: “Ach, das wird so ein wehmütiger Nachhall von Leuten wie Wallraff und Staeck sein. Warum sollte ich das hier und heute lesen?” Publizistisch effektiver wäre “Bild”-Kritik, die aus einem nicht dezidiert linken, sondern womöglich traditionell christlich fundierten Verlag kommt. Menschen, deren Konservativismus mehr umfaßt als eine affig-modische Anti-68-Haltung, hätten durchaus nicht weniger Anlaß als Linke, die “Bild”-Zeitung, ihre jahrzehntelange Tradition im Versimpeln, Verbiegen und Verleumden, den Sexualklatsch und die pornografisch gestalteten Zuhälteranzeigen abzulehnen. Solange deutsche Konservative es versäumen, ihre Distanz zu diesem unseligen Milieu öffentlich schärfstens deutlich machen, können sie mir mal im Mondschein begegnen.
 
Damit endet die unsere große Adventsaktion. Wir danken allen BILDbloggern für einen Tag ganz herzlich für Ihre Unterstützung!

“Bild” ist und bleibt kein Lifestyleaccessoire!


Judith Holofernes, 31, ist Leadsängerin der Band Wir sind Helden. Mit 14 machte sie Straßenmusik in Freiburg, 1999 erschien in einer kleinen Auflage ihr Soloalbum “Kamikazefliege”, 2002 veröffentlichte sie mit ihrer Band die EP “Guten Tag”, 2003 dann das Erfolgsalbum “Die Reklamation”. Die aktuelle CD “Soundso” erschien im Mai 2007. Ihr Künstlername ist eine Anspielung auf die alttestamentarische Geschichte von Judith und Holofernes.

Von Judith Holofernes

Lieber ironischer “Bild”-Leser,
liebe ironische “Bild”-Leserin,

pöbeln soll ich hier! Geil. Und: Dich soll, dich darf es treffen. Welch eine Freude. Die “Bild”-Zeitung an sich ist hinlänglich bepöbelt worden, aber du, du kommst immer irgendwie ungeschoren davon. Dabei bist du, viel mehr noch als Fudschi-Ede vom Eckkiosk, mir in deiner knuffigen Postmodernität ein massiver Schmerz in der Hüfte.

Warum? Weil du, werter IBL, mir in meinem sorgsam “Bild”-frei gestalteten Leben die “Bild”-Zeitung hinterher trägst. Mir, die ich vor jedem Kiosk meinen Blick senke, um dem Papst/Henry Maske/Serienkiller im Glaskasten den Augenkontakt zu verwehren. Und dann kommst du, und schleppst sie mir schwanzwedelnd hinterher — in Backstageräume, Tonstudios, auf Festivalgelände, in Hotelzimmer, in den Tourbus und bis auf die Tourbustoilette. Auf der man übrigens aus Hygienegründen nicht mal lange genug sitzen darf, um einen Glückskeks zu lesen, aber trotzdem: die “Bild”-Zeitung muss da liegen und liegen bleiben.

Wie im Übrigen auch in jeder linken Studenten-WG. Der ironische “Bild”-Zeitungsleser, auf Tour wie daheim, plaziert sein liebstes Lifestyleaccessoire mit Umsicht: zum Beispiel nachlässig — dekorativ halb neben, halb unter dem Cordsofa, einen Kaffeefleck genau über Brust und Gesicht der Seite-Eins-Schnallse.

Die Gewieftesten runden den Gesamteindruck ab mit einer humorvoll-relativierenden “taz” direkt daneben. Vielleicht fließt sogar der Kaffeefleck vom Seite-Eins-Schnallsengesicht der “Bild” über in das Seite-Eins-Schnallsengesicht der “taz”, also der Angela ihrs, zum Beispiel. Und verbindet Medien wie Schnallsen so in einer heiter-apokalyptischen Umarmung.

Und wem diese elaborierte Dekorationsvariante verwehrt ist, weil er keine Cordcouch hat, der pinnt die ihm zugelaufene “Bild” mit einem postmodernen Dartpfeil an die Küchenwand, oder verteilt sie, in Ausschnitte besonderer Perfidität zerschnitten, direkt neben Regal Ivar und der witzigen Postkarte aus dem Irland-Urlaub. Und wenn man keine Küche oder keinen Ivar und keine Postkarte hat, dann bleibt eben noch das WG- oder Tourbusklo, wo dann der “Bild”-“taz”-verbindende Kaffeefleck gegen einen ebenso sorgsam gesetzten Pissfleck ausgetauscht wird.

Und der Papst/Henry Maske/Serienkiller daneben sagt augenzwinkernd: Natürlich liest das hier keiner. Weiß auch nicht, wie ich hierher gekommen bin. Bestimmt hat mich einer (vom Bodenreinigungspersonal oder von der GEZ oder den Zeugen Jehovas) hier vergessen, aber guck mal, wie witzig, hier steht was über mich, also den Papst/Henry Maske/den Serienkiller, das glaubste so nicht. Kiek do’ ma rin!

Aber, lieber ironischer “Bild”-Leser, “Bild”-Zerschneider, “Bild”-Bewerfer, “Bild”-Bepinkler: Bevor du die Dartpfeile, den Kaffee oder deinen Piller zu Einsatz bringen konntest, hast du sie gekauft, die “Bild”. Und, ich weiß, ich soll mich nicht so haben, aber damit hast du dem Feind dein Geld gegeben und mit fuffzig Cent die Writer der Apokalypse finanziert. Denn die “Bild” ist und bleibt kein Lifestyleaccessoire, sondern, für alle Zeiten, das perfideste Werkzeug des Blöden. Blöd wie in: dumm, und “dumm” wie in “Doom”, also Verderben.

Ach so, und du bist übrigens auch beinahe alleine daran Schuld, dass gestandene Feministinnen, nur so als Beispiel, denken, sie können Werbung für die Bild machen und damit davonkommen.

Und, ich behaupte: Wenn nur die ironischen “Bild”-Leser keine “Bild” mehr kaufen würden, würde sowohl dem Papst als auch Henry Maske als auch dem Serienkiller als auch der Seite-Eins-Schnallse (“Bild” und “taz”) der Arsch auf Grundeis gehen.

Tschüss, liebe Grüße,

Judith Holofernes
 
Unsere Reihe BILDblogger für einen Tag beschließt am Montag Max Goldt.

Hugo Müller-Scrooge

In Abwandlung der beliebten Volksweisheit “der Ehrliche ist der Dumme”, schrieb “Bild”-Kolumnist und -Kommentator Hugo Müller-Vogg gestern:

"Wer arbeitet, ist oft der Dumme"

Müller-Vogg arbeitet. Er arbeitet sich daran ab, dass die Preise für Öl und Benzin, Strom und Gas “nur noch eine Richtung” kennen würden, worunter besonders die fleißigen Arbeitnehmer litten. Anders als Sozialschmarotzer Hartz-IV-Empfänger:

Wer dagegen von Hartz IV oder Sozialhilfe lebt, der muss sich wegen der höheren Strom- und Gasrechnung keine Sorgen zu machen. Die übernimmt ja der Staat.

Schrieb Hugo Müller-Vogg, und das war quasi der zentrale Satz in seinem Kommentar.

Nun hat man aber bei der “Bild”-Zeitung herausgefunden, dass Stromkosten in der ALG-II-Regelleistung (347 Euro) nach Paragraph 20 Absatz 1 SGB II eigentlich schon enthalten sind und berichtigt das heute sogar:

BERICHTIGUNG: Im Kommentar "Wer arbeitet, ist oft der Dumme" hieß es, der Staat übernehme bei den Beziehern von Hartz IV und Sozialhilfe auch die gestiegenen Stromkosten. Das trifft nicht zu, da die Kosten für den Strom in der Regelleistung enthalten sind.

Im Klartext: Müller-Voggs Kommentar fällt mit dieser unscheinbaren Berichtigung eigentlich in sich zusammen. Eigentlich.

Leider ist die Berichtigung so jedoch nicht ganz richtig. Denn Müller-Vogg hatte, offenbar ohne es zu wissen, gar nicht mal so Unrecht. Immerhin entschied das Sozialgericht Frankfurt/Main im Dezember 2006, dass die Stromkosten nur bis zu einer Höhe von 20,74 Euro im Regelsatz enthalten sind. Angemessene, darüber hinausgehende Kosten hingegen können nach Paragraph 22 Absatz 1 SGB II zusätzlich von den Sozialleistungsempfängern eingefordert werden.*

Allerdings weiß das kaum jemand.

Weshalb wir gestern noch dachten, Müller-Voggs Kommentar sei im Grunde eine von vorweihnachtlicher Nächstenliebe für sozial Schwache geprägte Service-Kolumne für Hartz-IV-Empfänger — und die populistische Stimmungsmache gegen vermeintliche Sozialschmarotzer drumrum nur Tarnung.

Aber da haben wir uns offenbar geirrt.

*) Zur Präzisierung (20.12.2007): Es ist natürlich keineswegs gesagt, dass die Sozialleistungsträger Überprüfungsanträgen von Hartz-IV-Empfängern stattgeben. Tatsächlich sollen sich laut Berichten von Betroffenen viele trotz Hinweis auf das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt weigern, höhere Stromkosten zu gewähren. Wie sich bereits aus dem oben verlinkten Eintrag im hartz.blogg entnehmen lässt, bedeutet das nach Einschätzung des Vorsitzenden der LINKEN Pirmasens, Frank Eschrich, dass “wohl jeder Betroffene letztlich den Gang zum Sozialgericht” wird antreten müssen.

  

Die verlorene Ehre des Andreas Türck

Von Sabine Sasse*

*) Erschienen unter dem Titel “Die Justiz und die Medien — Die Berichterstattung im Prozess gegen den TV-Moderator Andreas Türck” in “Rufmord und Medienopfer” von Christian Schertz und Thomas Schuler (Hg.), Christoph Links Verlag, Berlin, 2007, 272 Seiten, Euro 19,90.
Leicht gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Am Ende gab es nur Verlierer: eine junge Frau, deren Privatleben über Wochen hinweg bis ins letzte Detail ausgeleuchtet und durch die Gazetten geschleift worden war und die nun als neurotisches, essgestörtes, psychisch labiles Mädchen mit einem Hang zu schnellem Sex und Drogen dastand; einen jungen Mann, der eine verheißungsvolle Zukunft als Moderator vor sich hatte, der beliebt und umschwärmt war und dem nun das Etikett “möglicher Vergewaltiger, arroganter Aufreißer und zynischer Frauenverachter” anhaftete und dessen Karriere ruiniert war; eine Presse, die mehr urteilte als berichtete, kübelweise Schmutz über die beiden ausgoss und ihnen den letzten Rest von Würde nahm; sowie eine Justiz, deren Motivation, diesen Fall zur Anklage zu bringen, bis heute im Dunkeln liegt.

“Ich muss ja jetzt mitmachen”

Es geht um den Prozess gegen Andreas Türck, der im Jahr 2005 angeklagt worden war, eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Türck, geboren 1968, hat von 1998 bis 2002 auf ProSieben den täglichen Nachmittagstalk Andreas Türck moderiert und danach auf demselben Sender die Chart-Show. Im Jahr 2000 hatten ihn die Leserinnen des Frauenmagazins Amica zum “Erotischsten TV-Entertainer Deutschlands” gewählt. In der Nacht vom 24. auf den 25. August 2002 soll er Katharina B., eine junge Bankangestellte, die er kurz zuvor in einer Bar kennengelernt hatte, auf der Frankfurter Honsell-Brücke unter Gewaltanwendung zum Oralverkehr gezwungen haben. Der Vorfall passierte in Gegenwart eines damaligen Freundes von Türck und einer Freundin von B., die in Sichtweite standen und zwar den Akt beobachten konnten, aber nichts von einer Gewaltanwendung bemerkten. Auch kurz nach dem Tête-à-Tête deutete nichts im Verhalten von B. auf eine Vergewaltigung hin. B. wirkte laut späteren Aussagen der Beteiligten aufgekratzt, Türck eher peinlich berührt. Danach trennte man sich.

Noch in derselben Nacht erzählte B. telefonisch einem Freund, sie sei von Türck vergewaltigt worden, was der allerdings nicht glaubte, weil Katharina B. — das sagte er später vor Gericht aus — erst zwei Wochen vorher behauptet hatte, von zwei Jugoslawen vergewaltigt worden zu sein, was sich später als Lüge erwies. Was die beiden nicht wussten, war, dass B.s Bekannter wegen des Verdachts des Drogenhandels von der Polizei abgehört wurde, die auf diesem Wege Kenntnis von der Vergewaltigung erhielt. Um den Einsatz gegen den Dealer nicht zu gefährden, unternahmen die Beamten jedoch erst einmal nichts. Erst ein halbes Jahr später, nachdem der Mann dingfest gemacht worden war, tauchten Polizisten am Arbeitsplatz von Katharina B., einer Bank, auf und setzten sie unter Druck, Anzeige gegen Türck zu erstatten. Sie weigerte sich erst, brach dann aber ein und tat, wie ihr geheißen. Der Psychologin, die vor Gericht als Sachverständige auftrat, soll sie gesagt haben: “Ich muss ja jetzt mitmachen, sonst habe ich selbst noch ein Strafverfahren am Hals.”1

Am 3. April 2003 morgens um halb acht stand die Polizei vor Türcks Wohnung. Hausdurchsuchung wegen des Verdachts der Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall. Türck beteuerte, dass er keinerlei Gewalt angewendet habe und die Initiative von Katharina B. ausgegangen sei.

Eine mediale Lawine

Über ein Jahr lang zogen sich die Ermittlungen hin, ohne dass irgendjemand Wind von der Sache bekam. Anfang 2004 zeichnete sich dann ab, dass der Prozess für die Staatsanwaltschaft nicht zu gewinnen war. Ein von ihr in Auftrag gegebenes Sachverständigen-Gutachten hatte auf schwere Auffälligkeiten des angeblichen Vergewaltigungsopfers Katharina B. hingewiesen, die von massiver Einschränkung der Aussagezuverlässigkeit, einer “Neigung, sich sozial erwünscht zu präsentieren”, von Drogenkonsum, Essstörungen und psychischer Labilität bis hin zu schweren Wahrnehmungsstörungen reichten. Trotzdem hielt die Staatsanwaltschaft an der Eröffnung des Prozesses fest. Und dann geschah etwas Seltsames: Plötzlich, geradezu aus heiterem Himmel, erfuhren die Medien von den Ermittlungen. Aber es waren weder Bild noch der Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung, die die Sache aufdeckten, sondern Maintower, ein Regionalmagazin im Dritten Programm des Hessischen Rundfunks, dessen Rubriken wie “Ich und mein Garten” oder “Neues von der IAA” nicht gerade auf ausgeklü­gelte investigative Recherchetätigkeiten schließen lassen.

“Bild”-Schlagzeilen über die Ermittlungen

“Staatsanwalt ermittelt gegen TV-Star Andreas Türck”
“Unfassbarer Verdacht gegen den TV-Star: Hat Andreas Türck eine junge Frau (27) gewürgt und vergewaltigt?”
(23.3.2004)

“TV-Verbot für Andreas Türck: Pro7 feuerte ihn! Er bestreitet die Tat! Anwalt räumt sexuellen Kontakt ein!”
“Vergewaltigungs-Drama: Bringt diese Frau Andreas Türck hinter Gitter?”
(24.3.2004)

“‘Ich gehe durch die Hölle’. Der Fall Andreas Türck. Der unfassbare Vergewaltigungs-Verdacht: in BILD spricht heute das Mädchen, das den TV-Star belastet”
“Vergewaltigungs-Drama Andreas Türck. Jetzt spricht das Mädchen”
(25.3.2004)

“Andreas Türck sucht Zuflucht bei seinen Eltern … wie erklärt er ihnen alles?”
“Juristen erwarten Anklage wegen Vergewaltigung schon im nächsten Monat”
(26.3.2004)

“Wer sind die geheimnisvollen Zeugen? Affäre Andreas Türck”
(27.3.2004)

“Fall Andreas Türck: Staatsanwälte bei ProSieben”
(29.4.2004)

“Was trieb Andreas Türck am Arbeitsplatz? Personalakten bei PRO 7 beschlagnahmt!”
(30.4.2004)


(27.5.2004)

Die Sendung am 22. März 2004, in der die Vorwürfe gegen Türck publik gemacht wurden, trat eine mediale Lawine los. Am nächsten Tag berichteten Zeitungen, Onlineplattformen, Radio- und Fernsehsender flächendeckend vom mutmaßlichen Vergewaltiger Türck, der eine junge Frau, die er gerade kennengelernt hatte, “brutal vor einer Gaststätte vergewaltigt” haben sollte. Bild phantasierte unter “Berufung auf die Polizei”, es bestehe der Verdacht, dass Türck die Frau “in einer Seitenstraße” zu Boden geworfen und vergewaltigt habe, und startete einen regelrechten Diffamierungsfeldzug gegen Türck, in dem auch gleich die unfreiwillige Nebenklägerin Katharina B. schwer beschädigt wurde. ProSieben ließ zwar verkünden, dass man an die Unschuld des Moderators glaube, beurlaubte ihn aber noch am selben Tag.

Wer die Redaktion informiert hat, ist bis heute ungeklärt. Die beiden damals mit dem Fall beauftragten HR-Reporter geben unter Hinweis auf Informantenschutz ihre Quelle erwartungsgemäß nicht preis. Auch die Staatsanwaltschaft bestritt auf telefonische Anfrage vehement, irgendwelche Hinweise an die Medien gegeben zu haben. Erstens, so die Begründung, wäre das ein schwerer Fall von Amtspflichtverletzung, und zweitens: Was hätte sie davon gehabt?

Nach Faktenlage eine ganze Menge. Denn ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung war ein möglicher Schaden für den Angeklagten Türck nicht durch den Prozess verursacht, sondern durch die Berichterstattung in den Medien. Ein schöner Nebeneffekt, der durchaus geeignet ist, das Land Hessen vor einem Schadensersatzanspruch des Angeklagten zu bewahren.

Auf ewig stigmatisiert

Bereits vor Beginn des Prozesses und auch während dessen konnte man immer wieder lesen, dass, egal wie das Urteil ausgeht, die Fernsehkarriere von Andreas Türck vorbei sei. So orakelte die Bunte: “Unabhängig davon, wie das Urteil (voraussichtlich am 8. September) ausfallen wird — seinen TV-Job hat er bereits 2003 verloren. Und selbst bei einem Freispruch wird ein Makel vermutlich ewig haften bleiben.” “Das Kopfkino der meisten Menschen ist darauf programmiert, sich negative Dinge zu merken, auch wenn sie unwahr sind”, weiß Psychologin Christine Baumanns. Und: “Andreas Türck ist selbst nach einem Freispruch auf ewig stigmatisiert. Man wird in Zukunft ganz genau beobachten, wie er sich zu Frauen verhält.”2 Und die Zeit schrieb: “Andreas Türck hat von jetzt an ein düsteres Kapitel in seiner öffentlichen Biografie. Was einmal in den Medien und den Archiven ist, das lässt sich nicht ungeschehen machen in einer Gesellschaft, in der das Private auf so viel Interesse unter Zuschauern und Lesern stößt.”3 Das ist wohl war. Googelt man Andreas Türck, findet man auf den ersten Seiten der 47 600 Einträge fast ausschließlich Meldungen und Berichte über die Anklage und den Prozess.

Obwohl Andreas Türck nur einer von vielen Daily-Talk-Moderatoren war, in deren Sendungen die Leute aufeinander losgingen und peinliche Dinge aus ihrem Privatleben enthüllten, und obwohl er diese Sendung schon längst nicht mehr moderierte, wurde er nicht nur der Vergewaltigung angeklagt, sondern stand auch gleich als Vertreter des gesamten sogenannten Unterschichtenfernsehens vor Gericht.

“Es ist nicht die Prominenz des Angeklagten allein, die den Fall zum Medienereignis gemacht hat, zum öffentlichen Porno, den die Boulevardpresse genüsslich vorführt”, schrieb Jörg Burger am 1. September 2005 in der Zeit. “Allen voran Bild weidet sich an kleinsten Details, mit Tatortskizzen und einer Sex-Akte Türck”. Darin schmähen ihn ehemalige Kollegen als gewaltbereiten Schnö­sel. Es ist seine Vergangenheit als einer, der in den Niederungen des “Affektfernsehens” wühlte, der dafür sorgte, dass Menschen sich anbrüllten, aufeinander losgingen. Der Saubermann als Sexverbrecher, der Richter über andere Menschen nun selbst als Angeklagter — aus diesem Rollentausch bezieht das Drama Attraktion.

Für Bild war er schuldig

Über mehr als vier Wochen hinweg konnten Türck und mit ihm elf Millionen Bild-Konsumenten täglich lesen, was für ein mieser, verachtenswerter Charakter er doch sei. Beobachteten Bild-Reporter, wie Türck beim Betreten des Gerichtssaals einen Blick auf den Block der Gerichtszeichnerin warf, wurde er sogleich der Eitelkeit bezichtigt, als einer, den selbst angesichts dieser ernsten Situation nichts brennender interessierte als die Frage, ob er gut getroffen sei. Egal, was Türck auch tat, wie er sich anzog, wie er schaute, ob er lächelte oder nicht: Für Bild war er schuldig, und wenn er auch kein Vergewaltiger war, so war er doch zumindest “ein Verachter”: ein Verachter von Frauen, einer, der es zugelassen hat, dass ihn nachts auf einer Frankfurter Brücke eine Zufallsbekanntschaft oral befriedigt. Wenn dafür schon keine jahrelange Gefängnisstrafe möglich ist, dann doch wenigstens gesellschaftliche Ächtung. Um das zu erreichen, haben Bild und Bild am Sonntag (BamS) ordentlich am Rad gedreht.

Bild sollte nie irgendein Boulevard-Blatt, sondern eine Volkszeitung sein”, erklärte Bild-Chefredakteur Kai Diekmann am 15. September 2005 in der FAZ “Also Anwalt der Leser, Zuhörer, Ratgeber, Verteidiger, Helfer. Übersetzt heißt das: Bild sagt nicht nur, was passiert. Bild sagt auch, was die Republik fühlt. Die Schlagzeile ›Wir sind Papst‹ ist dafür ein Beispiel: Hier wurde die nationale Euphorie unbefangen auf den Punkt gebracht. Das ist unser Anliegen: zu dokumentieren, was die Menschen beschäftigt, was sie emotional umtreibt. Bild ist, um es mit einer Metapher aus der eher linken Ecke zu formulieren, die gedruckte Barrikade der Straße. Das ist ihre Macht.” Auf die Frage zur Berichterstattung über den Prozess gegen Andreas Türck antwortete Diekmann: “Dass wir nach der Eröffnung den Prozessverlauf mit allen be- und entlastenden Entwicklungen dokumentierten, ist bei einem Fernsehstar wie Türck so selbstverständlich wie bei O. J. Simpson oder Michael Jackson. Dafür sind Medien schließlich da.”

Die Berichterstattung von Bild und BamS ging über die reine Dokumentation jedoch weit hinaus. Es wurde Stimmung gemacht, besonders gegen Türck. Bild berichtete über den Prozess (Aktenzeichen AZ 6350JS207691/ 2003), vorwiegend groß bebildert auf der ersten Seite, unter anderem so: “Protokoll der Sex-Nacht” (4. 8.), “Sex im Drogenrausch? Sensationeller erster Tag im Prozess” (10.8.), “Die Sex-Akte Türck. Er braucht 6 Minuten, um eine Frau aufzureißen” (11. 8.), “Heute wird sie gefragt, ob sie Unterwäsche trug” (16. 8.), “Katharina (29) weinte gestern vor Gericht. So hat Türck mich vergewaltigt” (17. 8.), “Sie hat mir die Hose aufgeknöpft” (19. 8.), “Neuer Zeuge belastet das angebliche Opfer. Wollte SIE Türck aufreißen?” (24. 8.), “Neue Sex-Enthüllung. Wenige Tage nach Türck hatte sie schon wieder Sex” (26. 8.), “Hat sie sich alles nur eingebildet?” (31. 8.), “Gutachter glauben angeblichem Opfer nicht” (2. 9.), “Sieger Türck. Aber wird er jemals wieder glücklich?” (7. 9.).

“Mit offener Hose”

Damit bei Türck ein Gefühl von Glück gar nicht erst aufkommen konnte, veröffentlichte die BamS am 14. August 2005, als bereits erhebliche Zweifel an seiner Schuld bestanden und ein Freispruch mehr als möglich war, ein abstoßendes Pamphlet mit der Überschrift: “Hier steht Andreas Türck ein letztes Mal im Licht”. In dem arbeitet sich der Autor mit besorgniserregender Wut an dem TV-Moderator ab, “der vor Gericht plötzlich von seinem erbärmlichen Leben eingeholt wird”. In dem Text wird über Türcks “Krawallsendungen” hergezogen, in der Themen behandelt wurden wie “Andreas, meine Brüste machen dich verrückt!”, aber dasselbe Blatt lebt u. a. davon, dass nackte Mädchen lasziv ihre “Hupen” und “Möpse” darbieten und Semiprominente sich über ihr Sexleben und ihre Beziehungsprobleme auslassen.

Türck wird vorgehalten, dass er ein Mensch sei, der nur wenige Begabungen vorzuweisen habe, dessen Aktivitäten niemanden interessieren und dessen “Rückweg in die vorhersehbare Bedeutungslosigkeit” nur dadurch kurz gestoppt worden sei, dass er “etwas Unvorhersehbares tat”. Nur deshalb sitze er nicht im “Dschungelcamp”, “sondern als Angeklagter auf einem blauen Polsterstuhl im Saal 165 C des Frankfurter Landgerichts”, und niemand müsse also Mitleid mit ihm empfinden. Obwohl dem Berichterstatter zu diesem Zeitpunkt eigentlich hätte klar sein müssen, dass “am Ende dieses schäbigen kleinen Prozesses, der in einem schäbigen kleinen Saal stattfindet” (in Wirklichkeit war es der größte Gerichtssaal, den der Frankfurter Justizkomplex zu bieten hat), Türck mit höchster Wahrscheinlichkeit aufgrund widersprüchlicher Aussagen und mangelnder Beweise freigesprochen wird, ist der Mann für die BamS schuldig und verdient es nicht, jemals wieder auf die Beine oder eben “ins Licht” zu kommen. Und obwohl das alles “so schäbig, so klein” war, berichteten Bild und BamS an jedem Verhandlungstag und darüber hinaus in groß aufgemachten Artikeln über den Prozess und seine Beteiligten. Andreas Türck stand “gleichsam mit offener Hose vor der ganzen Nation”4, wie Gisela Friedrichsen im Spiegel treffend schrieb.

Die tragische Hauptperson

“Wir haben mit einer durchaus starken Berichterstattung gerechnet”, sagt Friederike Vilmar, Fachanwältin für Strafrecht und Nebenklagevertreterin,5 “aber das hat das, was wir erwartet haben, noch übertroffen. Auch in der Dauerhaftigkeit.” Frau B. sei durchaus auf den Medienansturm vorbereitet gewesen, sie sei “eine intelligente, arbeitende Mandantin. Natürlich kann man niemanden bewusst auf jede einzelne Situation vorbereiten, aber Frau B. war sich durchaus bewusst, was dort passieren kann.”

War sie das wirklich? Obwohl Andreas Türck im Mittelpunkt des Verfahrens stand und Anlass für das große Interesse war, war es im Endeffekt Katharina B., die zur tragischen Hauptperson mutierte. Jeden Tag war sie im Gerichtssaal und setzte sich den Blicken, den Fragen und den Kameras aus, was selbst die Vorsitzende Richterin Bärbel Stock verwunderte. Während Türck auf Anraten seiner Verteidiger Dr. Susanne Wagner und Rüdiger Weidhaas konsequent schwieg, wurde vor allem ihr Leben ausgebreitet, von der Presse penibel dokumentiert und unters Volk gebracht: ihre sexuellen Ausschweifungen, ihr Hang zu Alkohol und Drogen, ihre Essstörungen, ihre Stimmungsschwankungen, ihre aufreizende Art Männern gegenüber, ihr Hang, Geschichten zu erfinden. Katharina B. wohnte nicht nur jeden Tag dem Prozess bei, sie lehnte sogar den Ausschluss der Öffentlichkeit ab, als es ihr die Vorsitzende Richterin anbot.

Detailliert bis zum Samenerguss

Bild gab die Vernehmung der Nebenklägerin im Wortlaut wieder, ihr Schluchzen und Weinen, den angeblichen Tathergang bis hin zu Fragen, ob sein Glied erigiert war und es zum Samenerguss kam. Für die Nebenklagevertreterin Friederike Vilmar war das “der Moment der Richtigstellung. Sie hatte überhaupt keine Chance mehr, weil die Presse vorher so viel Mist und Dreck geschrieben hat, dass sie dachte, dadurch vielleicht einiges korrigieren zu können. Schreiben tun sie sowieso. Dann sollen sie es auch hören”. Bild, die die Aussage als Wortlautprotokoll wiedergab, habe das dann auch “einigermaßen vernünftig dargestellt”. Ein Wortlautprotokoll sei ihr “allemal lieber, als wenn irgendeiner hingeht und etwas schreibt, was nicht so gesagt worden ist”. Sie glaubt aber auch, “dass die Medien ihren Teil dazu beigetragen haben, dass von Anfang an eine ganz klare Parteinahme in der Berichterstattung war, die uns sehr, sehr geschadet hat”.

Vor allem von der Berichterstattung der Spiegel-Reporterin Gisela Friedrichsen war sie enttäuscht. “Da haben wir gedacht, das kann ja wohl nicht wahr sein.” Nach dem Prozess hat sie Chefredakteur Stefan Aust einen langen Brief geschrieben, in dem sie sich über die Art der Darstellung ihrer Mandantin, u. a. als “armes Hascherl”, verwahrte. Es habe sie verwundert, schrieb sie, dass bereits Frau Friedrichsens Artikel zum Prozessauftakt “eine klare Stellung gegen meine Mandantin und für Herrn Türck erkennen ließen. Diese Art der Verletzung des Neutralitätsgebots der Presse hatte ich von einer Spiegel-Mitarbeiterin, die sich selbst als Deutschlands bekannteste Gerichtsreporterin bezeichnet, nicht erwartet”.

In diesem Prozess nicht Partei zu ergreifen und sachlich zu bleiben, fiel jedoch auch anderen Medienvertretern schwer. Und so teilte sich die Berichterstattung frühzeitig in zwei Lager, in denen die Emotionen zeitweise so hochkochten, als gelte es, einen aus ihren Reihen zu verteidigen und den anderen möglichst bloßzustellen. Auffallend dabei ist, dass oft die weiblichen Reporter für Türck waren und Frau B. niedermachten, während sich einige männliche Kollegen -– wie Andreas Hauck in der BamS -– schützend vor Frau B. stellten und auf Türck eindroschen, als hätten sie noch eine persönliche Rechnung mit ihm offen.

Schämen für das eigene Geschlecht

Dieses interessante Verhalten erinnert an den Fall von Lisa Gier King, die 1999 angab, in einem Studentenwohnheim in Florida während einer Party, für die sie als Stripperin angeheuert worden war, vergewaltigt worden zu sein. Obwohl der gesamte, vier Stunden dauernde Abend mit zwei Kameras aufgezeichnet worden war (das Material wurde schließlich von dem US-Filmemacher Billy Corben zu dem Dokumentarfilm “Raw Deal – A Question of Consent” verarbeitet) und man alles sehen konnte, schieden sich am Ende die Geister darüber, ob das Gesehene eine Vergewaltigung war oder ob die Frau den Sex provoziert und freiwillig mitgemacht hatte. “Bei Vorführungen von ›Raw Deal‹ auf dem Sundance-Festival oder in Edinburgh war das Publikum jeweils tief gespalten: Die meisten Männer sagten hinterher, was sie gesehen hatten, sei eine Vergewaltigung gewesen. Die weiblichen Zuschauer fanden, Lisa Gier King habe sich alles selbst zuzuschreiben. Es ist, als würde jeder sich für die Rolle schämen, die sein Geschlecht in dem Stück spielt.”6

Nach zehn Verhandlungstagen sah sich die Staatsanwaltschaft — wie von Türcks Anwälten prophezeit — gezwungen, mangels Beweisen den Antrag auf Freispruch des Angeklagten Türck zu stellen. “Wir mussten ermitteln”, rechtfertigte sich Oberstaatsanwalt Hubert Harth daraufhin in Bild, “sonst hätten wir uns strafbar gemacht.” Und er wehrte sich mit einer entblößenden Erklärung gegen den Vorwurf, Türcks Prominenz könne ein Grund für die Anklage gewesen sein: “Ich kannte ihn überhaupt nicht. Und die anderen Kollegen sehen auch kein Unterschichts-TV.”

Von Anfang an keinerlei Beweise

Doch auch nach dem am 7. September angekündigten und am 9. September erfolgten Freispruch hatte Andreas Türck keinen Grund zum Jubeln. Während sich der Großteil der Medien zu diesem Zeitpunkt mit der Fragwürdigkeit des Prozesses beschäftigte und Kritik an Staatsanwaltschaft und Richterin übte, verging sich Bild unter einem durchsichtigen Deckmäntelchen der Empörung weiter an ihm. Das Blatt wies darauf hin, dass dieser Freispruch ja eigentlich nur ein Freispruch zweiter Klasse sei, weil man Türck die Vergewaltigung nicht beweisen könne — was beim Leser die Schlussfolgerung ermöglichte, er könne die Tat doch begangen haben. Marion Horn, damals Stellvertretende Chefredakteurin von Bild, schrieb einen seltsamen Kommentar, in dem sie Andreas Türck und Katharina B. als Opfer einer Justiz beklagte, “die diesen Prozess zuließ und vier Wochen lang ein schmutziges Gerichtsspektakel inszenierte”. Dann kommt ein interessantes Eingeständnis: “Von Anfang an war klar, dass die Staatsanwältin keinerlei Beweise hat. Von Anfang an war durch Gutachten bekannt, dass die Aussagen von Katharina B. nicht belastend sind. War die Staatsanwältin so naiv zu glauben, dass Türck im Prozess unter Tränen gestehen würde? Oder wollte sie berühmt werden? Der Türck-Prozess wirft ein miserables Licht auf unsere Justiz.”

Das Licht, das dieser Prozess auf Bild und BamS wirft, ist allerdings nicht besser, denn aus dem Kommentar wird deutlich, dass auch Bild offenbar frühzeitig klar war, dass gegen Türck wenig Glaubhaftes vorlag. Trotzdem brachte sie eine Titelgeschichte nach der anderen, in der er als möglicher Vergewaltiger angeprangert wurde. Marion Horn, die Türck als “abgehalfterten Ex-Moderator” bezeichnet, versteigt sich dann noch zu dem Satz: “Was aber das schlimmste ist: Frauen, denen sexuell Gewalt angetan wird (und das sind täglich 400!) werden sich in Zukunft fünfmal überlegen, ob sie dies zur Anzeige bringen.” Im Umkehrschluss könnte das heißen, dass ein Mann auch dann verurteilt werden sollte, wenn alles für seine Unschuld spricht, damit sich Frauen auch in Zukunft trauen, Vergewaltigungen anzuzeigen. Eine gefährliche Argumentation.

Auch in dem Bericht über das Prozessende im Innenteil des Blatts wird Türck weiter runtergemacht. Er habe “– soviel Schmutz bleibt hängen — eine Frau, die er gerade kennengelernt hat, irgendwie auf die Knie sinken und sich von ihr oral befriedigen lassen. Danach hat er sie an einer Tankstelle einfach abgesetzt. Kein Anstand, keine Achtung, die Frau als billiger Wegwerfartikel”.

Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner beschreibt die beiden abschließend als “Romeo und Julia durchgedreht”, “die sich wie Hunde nachts auf einer Brücke oral befriedigen”. Er findet, “dass die Liebe in dieser Nacht vergewaltigt wurde und die Liebe nicht zwischen den Beinen sitzt. Wie wollt ihr jemals lieben?”7 Eine Seite zuvor räkelt “Top-Modell Maria” ihren nackten Luxuskörper und bringt “Männer zum Weinen”. Ist das die Liebe, von der Wagner spricht? Lernt man hier den Anstand, den die Bild-Redaktion so vehement von Türck fordert?

Opfer von Medien und Justiz

Heribert Prantl, innenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung und ehemaliger Richter und Staatsanwalt, sagte in einem Interview mit SWF 3,8 dass Türck nicht hätte angeklagt werden dürfen und wenn doch, dass dieser Prozess in dem Fall nie hätte öffentlich verhandelt werden dürfen: “Diese Art des Voyeurismus, die Türcks Sendungen eigen war, jetzt in einem Strafprozess, einem öffentlichen Verfahren zu inszenieren, das geht zu weit. (…) Wenn das Strafverfahren diese Absicht ins Gegenteil verdreht, dass die Menschenwürde des echten oder angeblichen Opfers mit Füßen getreten wird und dann noch die Menschenwürde des Beschuldigten, in dem Fall des Moderators Andreas Türck, dann hat der Strafprozess nicht nur seinen Sinn nicht erreicht, sondern dann war er höchst schädlich.”

Andreas Türck und Katharina B. sind — und das macht den Fall so besonders — keine reinen Medienopfer. Sie sind ebenso Opfer einer Justiz, die mit allen Mitteln einen Prozess eröffnen wollte, der für sie von Anfang an nicht zu gewinnen war und den selbst die Nebenklägerin nicht wollte. Ohne die tendenziöse und vernichtende Berichterstattung der Boulevardpresse, allen voran Bild und Bild am Sonntag, wäre der Schaden für die beiden möglicherweise nicht ganz so groß geworden. So ist beides, die Art der Berichterstattung und die Pflichtwidrigkeit der Staatsanwaltschaft, kausal für die Katastrophe verantwortlich, die mit dem Prozess eingetreten ist.

“Mit den Folgen des Prozesses werden Katharina B. und Andreas Türck noch lange zu kämpfen haben”, vermutete auch Detlef Esslinger in der Südeutschen Zeitung.9 “Der Kammer wird auch klar gewesen sein, dass sie mit der Zulassung der Anklage die Karriere des Fernsehmoderators Türck zerstören würde. ProSieben nahm ihn sofort aus dem Programm, und vom Freispruch wird der Mann wenig haben, im Urteil der Öffentlichkeit wird er der Typ bleiben, der wegen Vergewaltigung vor Gericht stand. Warum ist nur dieses Verfahren jemals eröffnet worden?” Diese Frage wurde nie geklärt.

Katharina B. soll nach Aussagen ihrer Anwältin heute wieder ein normales Leben führen und auch noch immer bei der Bank beschäftigt sein. Andreas Türck zog sich nach dem Prozess aus der Öffentlichkeit zurück und lehnte Interviews zu seinem Fall und seiner beruflichen Zukunft konsequent ab. Im September 2007, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Urteil, tauchte er wieder auf und verkündete, gemeinsam mit der Mediaagentur “Pilot” den Ableger “Pilot Entertainment” gegründet zu haben, mit dem er in Zukunft “zielgruppengenaue Web-TV-Formate einschließlich der dazugehörigen Plattform” entwickeln und vermarkten wolle. Das Unternehmen erprobe seit einem Jahr Entertainment und Serviceformate, die den Anforderungen des Webs und Nutzerdialogs gerecht werden. “Meine Moderatorentätigkeit”, so Türck bei medienhandbuch.de am 29. September 2007, “steht dabei nicht an erster Stelle. Dennoch: Sag niemals nie.”

1) Bunte vom 1.9.2005
2) Bunte vom 25.8.2005
3) Zeit vom 8.9.2005
4) Spiegel vom 22.8.2005
5) Telefoninterview, geführt am 18.6.2007
6) Ansbert Kneip in: Der Spiegel, 13.9.2005
7) Alle Zitate aus Bild vom 8.9.2005
8) Südwestfunk, 3. Programm, 15.9.2005
9) Süddeutsche Zeitung vom 6.9.2005

Mindestlohnlügen


Jürgen Trittin, 53, ist seit 1980 Mitglied der Grünen, seit 1998 Bundestagsabgeordneter. Von 1998 bis 2005 war er Umweltminister und ist derzeit Vize-Chef der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Am 29.1.2001 (kurz nach dem Amtsantritt von Kai Diekmann als “Bild”-Chef) druckte “Bild” das inzwischen legendäre “Bolzenschneider”-Foto mit Jürgen Trittin, das Diekmann auch im Nachhinein nur als “schwerwiegenden handwerklichen Fehler” verstanden wissen will. In den vergangenen Jahren musste “Bild” mehrere Gegendarstellungen Trittins abdrucken, darunter — mitten im Bundestagswahlkampf 2005 — eine, die (angesichts des vorgeblichen Sinneswandels der “Bild”-Zeitung in Ökofragen) heute für “Bild” um so peinlicher erscheint.

Von Jürgen Trittin

Am 13. Dezember 2007 geht Liselotte Pulver [1, siehe Abb. u.] mit “dem schönsten Lächeln ins Altersheim”, obwohl sie “mit 76 immer noch jugendlich” wirkt. “Bild” enthüllt [2], dass die Zuschauer die “Tageschau” nicht verstehen — anders als das “Ehe-Aus” bei Oettingers [3]. Deren neuer “Geliebter” hat nämlich bei “Bunte” “ausgepackt” und “Bild” druckt es nach. Vielleicht liegt das Ehe-Aus ja daran, dass — so Roland Koch auf der gleichen Seite — “Politiker zu wenig verdienen”. Weniger als Porsche-Manager auf jeden Fall.

Obwohl eine “Cara” [4] nicht bowlen kann, ist Philipp Mißfelder von der Jungen Union der “Gewinner” des Tages [5], weil er einer Jugendorganisation* der Linkspartei die Förderung durch den Ring Politischer Jugend verweigert hat. “Linksextremisten dürfen keine Staatsknete bekommen”, so Mißfelder. Die sollten der Jungen Union und ihrem Vorsitzenden vorbehalten bleiben, der die Staatsknete schon mal genutzt hat, um zu fordern, alten Menschen keine Hüftoperationen mehr zu bezahlen — wohl im Namen der Generationengerechtigkeit. So sehen bei “Bild” Sieger aus.

Verlierer, wie der bei den Bayern suspendierte “Titan” Olli Kahn [6], müssen sich dagegen auf der ersten “Bild”-Seite nachfragen lassen, ob sie gelogen haben. Da ist “Bild” Expertin. Ich empfehle Olli ein Weißbier samt Waldi Hartmanns Erkenntnis, auf der Bank ist es am schönsten. Und ein kleiner Trost für ihn findet sich auf der letzten Seite: Manchen geht es noch schlechter — Prinz Charles wurden 350 Gänse geklaut. Im Bild über den Gänsen: Paris Hilton [hier ohne Abb., d.Red.]. Die durfte zwar keine Werbung für ihren Dosen-Prosecco im Reichstag machen, aber doch dessen Kuppel besichtigen.

Unten auf Seite 1 kommt “Bild” auch zu einem Herzensanliegen seines Verlages, der Beibehaltung eines — staatlich subventionierten — Niedriglohnsektors [7]. Direkt unter der Nachricht [8] “Normal-Benzin immer öfter so teuer wie Super” (“Bild” konnte das schon mal kürzer) warnt “IFO-Chef Sinn”:

Mindestlohn kostet bis zu 1,9 Mio. Jobs.

Ein gesetzlicher Mindestlohn, so die sinnige Erkenntnis des Wirtschaftsprofessors im Boulevardblatt, würde 470.000 Stellen in Ostdeutschland und 1,42 Mio. Stellen in Westdeutschland kosten.

Das erscheint in jenem Springer-Verlag, der es als Miteigentümer der PIN AG gerade geschafft hat, einen privaten Zustelldienst trotz Hungerlöhnen an den Rand der Insolvenz zu führen und nun vor Massenentlassungen steht. Wie schön, dass man das eigene unternehmerische Versagen mit professoraler Hilfe einem noch nicht eingeführten Mindestlohn in die Schuhe schieben kann.

Aber Sinns Ideen zum Mindestlohn geben auch so keinen Sinn. Warum haben fast alle anderen Mitgliedstaaten der EU einen gesetzlichen Mindestlohn und viele trotzdem eine niedrigere Arbeitslosigkeit als Deutschland? Weil sich Niedriglohnjobs eben nicht einfach nach China verlagern lassen. Haare müssen geschnitten, Gebäude gereinigt und bewacht, und Briefe müssen zugestellt werden. Deutschland hingegen subventioniert ausbeuterische Arbeitgeber, in dem Wenigverdienern aus Steuermitteln das Gehalt aufgestockt wird.

Deutschland muss aufpassen, dass es ihnen nicht geht wie Werder Bremen. Die “Werder-Versager” nämlich “vergraulen Diego”. Da war ich mit “Bild” wieder im Reinen. Wenn die Hauspostille des FC Bayern uns grüne Fischköppe als Versager tituliert und Diego neidet, dann kann Thomas Schaaf diese Saison nicht alles falsch gemacht haben.

Jetzt aber möchte ich die “FAZ” und die “Berliner Zeitung” lesen.
 
BILDblogger für einen Tag ist morgen Hans Leyendecker.

*) Hier stand zunächst “Jugendmagazin“. Tatsächlich geht es in der “Gewinner”-Meldung von “Bild” aber um Solid, die Jugendorganisation der Linkspartei. Wir bitten um Entschuldigung, d.Red.

Selber Würstchen!


Klaus Vater, 61, ist seit über fünf Jahren Sprecher der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Er leitet die Pressestelle des BMG und war zuvor schon Sprecher des Bundesarbeitsministeriums. Seine berufliche Karriere begann der gelernte Politikwissenschaftler als Journalist; er war u.a. Redakteur bei der SPD-Zeitung “Vorwärts”. 2004 berichtete der “Tagesspiegel”, Vater schreibe nebenbei an einem Roman (“Mittvierzigerin im großen Ministerium, die einer Verschwörung auf die Spur kommt”). Auf die Frage, was daraus geworden ist, antwortet er heute, er sei “derzeit nicht so in der Laune”. Von Vater verfasste Pressemitteilungen beginnen auch schon mal mit den Worten: “‘Bild’ lügt.”

Von Klaus Vater

Liebe Bildblog-Gucker(innen)! Ganz aufgeregt — seit Tagen aufgeregt — wartete ich heute auf “Bild” von heute. Wenn ich schon der Blogger des Tages sein soll, dann soll’s auch eine irgendwie besondere Ausgabe sein.

Ergebnis: Nix da. Was die Deutschen verdienen, verspricht “Bild” heute. Nicht ‘n paar Deutsche, sondern die. Also alle, ausnahmslos. Jeder und Jede. Sofort im Alphabet rum gerutscht. “A”, dann “B”, dann “C” – wie Chefredakteur “Bild”. Keine Angabe. Nix über K.D. Also verdient der auch nichts. Oder? Anschließend unter Vorstandsvorsitzende nachgeschaut. “V” wie Döpfner zum Beispiel. Schon wieder nichts. Hmmmm. Möglich wäre ja, dass man ihm Verluste im Geschäft vom Gehalt abgezogen hat. Dann würde er schon aus der Tabelle raus fallen. Also ein Klassiker wird die Gehälter-Tabelle in “Bild” nicht.

Dafür bietet “Bild” unten auf der Seite freilich einen echten Klassiker. Nämlich, dass die Deutschen zu einem Drittel an Heiligabend Würstchen mit Kartoffelsalat essen. Gänse fliegen mit 19 Prozent abgeschlagen hinterher. Eine Zeitschrift namens “Bella” will das herausgefunden haben. Um das zu wissen, hätte keine Zeile von “Bella” zu “Bild” springen müssen. Weiß doch jeder, dass es Heiligabend Würstchen gibt! Selber Würstchen! Dazu passt allerdings nicht, links neben dem Kartoffelsalat gedruckt, dass die Deutschen zu wenig sparen. Vielleicht findet “Bild” ja heraus, dass die Deutschen weniger sparen, weil sie mehr und größere Würste sowie noch mehr Kartoffelsalat essen. Paris Hilton soll übrigens wieder in Berlin sein. Was ich persönlich nicht glaube. Denn sie kennt laut “Bild” Knut nicht.

Aus meinem “Zuständigkeitsbereich” Gesundheit und damit Verbundenes habe ich fast nichts gefunden. Außer dass Chef-Kommentator Hoeren auf Seite zwei irgendwie schlecht aussieht. Hängt vielleicht mit dem Thema zusammen. Erbschaftssteuer. Wenn ich ihn richtig verstanden habe (3 x gelesen), will er die Erbschaftssteuer weg haben. Er meint, die Politik solle nichts tun, dann würde sie keine große Chance vertun. Das soll einer verstehen. Halt. Stopp. Nur nichts übersehen? Auf Seite eins steht, es gebe in Deutschland wieder mehr Geburten. Und dann steht da der Satz — Zitat: “Eigentlich gingen die Forscher auch für dieses Jahr von einem Rückgang aus.” Die Forscher! Da ich fünf Kinder habe, könnte mich die ganze Sache ja eiskalt lassen. Aber was zum Teufel haben die Forscher mit der Geburtenrate zu tun? Männer, deutsche Männer, traut den Forschern nicht. Wehrt Euch!

Letzter Blick auf die Zeitung: 50 Cent. Na ja. Dafür gibt’s andere Verwendungen. Beim nächsten Besuch im Einstein leg ich drei Euro für den Cappu zu 2,50 Euro auf den Tresen. “Stimmt so”. Dafür krieg’ ich ein nettes Lächeln der hübschen Frau hinter dem Tresen. Das ist gut angelegte Kohle.
 
BILDblogger für einen Tag ist morgen Jürgen Trittin.

Das Recht am fremden Bild


Miriam Meckel, 40, ist Professorin für Corporate Communication und
Direktorin des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen. Nach ihrer Promotion 1994 wurde sie an der Uni Münster 1999 Deutschlands jüngste Professorin. Sie arbeitete vor und hinter der Kamera u.a. für den WDR, Vox, RTL und n-tv und war in NRW Staatssekretärin für Medien und Regierungssprecherin von Wolfgang Clement sowie Staatssekretärin für Europa, Internationales und Medien. Meckels jüngstes Buch “Das Glück der Unerreichbarkeit” ist im September erschienen. Ihre Lebensgefährtin ist Anne Will, wie beide vor drei Wochen der “Bild am Sonntag” und der “Welt” bestätigten (wir berichteten). Meckel bloggt selbst unter miriam-meckel.de

Von Miriam Meckel

Als wir aus dem Restaurant treten, geht das Blitzlicht los, erhellt die Straße und das Umfeld des Restaurants im Sekundentakt. Das aktuelle zeitgeschichtliche Ereignis lautet: Eine Fernsehmoderatorin und ihre Freundin essen in einem Berliner Restaurant zu Abend. Wahnsinn, unfassbar, einfach unglaublich! Davon muss es Bilder geben!

Wir gehen los, gemäßigten Schrittes, versuchen die dauernde unfreiwillige Erleuchtung zu ignorieren. Nach einigen Minuten stelle ich fest: Es ist nicht nur eine ungewöhnliche Erfahrung, dass ein Mensch über fast einen Kilometer im Rückwärtskriechgang vor uns her hampelt und hunderte von Fotos schießt. Es ist auch einigermaßen entwürdigend. Ich fühle mich peinlich berührt, auch durch die Reaktion der anderen Passanten (“Guck mal, was ist denn da los?”), irgendwann werde ich einfach sauer.

Anlässlich des Todes von Lady Diana habe ich mich ausführlich damit beschäftigt, was es heißt, eine absolute oder relative Person der Zeitgeschichte zu sein. Letzteres ist man dann, wenn man im Zusammenhang mit einem zeitgeschichtlichen Ereignis in den Blick der Öffentlichkeit gerät. Es kommt also auf den zeitlichen Kontext an und die dadurch begründete öffentliche Aufmerksamkeit. Das ist nachvollziehbar, aber es ist nicht alles. Inzwischen lerne ich: Die relative Person der Zeitgeschichte beinhaltet auch, dass sich alles relativiert, was man bislang für absolut selbstverständlich gehalten hatte: das Recht auf Privatsphäre und das Recht am eigenen Bild. Es wird zum Recht der anderen auf das fremde Bild.

Die Protagonisten jener Beschaffungswelt machen Fotos von Menschen, die essen gehen, einkaufen, über die Strasse laufen oder anderen zeitgeschichtlich bedeutsamen Tätigkeiten öffentlichen Interesses nachgehen. Sie treten häufig zu mehreren auf: Einer verfolgt das Fotoobjekt und informiert die anderen, wann es wo eintrifft, damit die dann blitzlichtartig zuschlagen können. Als Reaktion auf diese Rudelbelagerung entwickeln die Betroffenen irgendwann absonderliche Schutzreaktionen: Kein Schritt aus dem Haus ohne nach rechts und links zu schauen, ob da wieder jemand wartet. Kein Licht im Hausflur, damit sich der eigene Ausgang nicht ankündigt. Fahrten um die Ecke mit dem Taxi, um wenigstens von dort unverfolgt zu Fuß weitergehen zu können.

Auf die Frage “Wer sind Sie und für wen arbeiten Sie?” bekommt man von den Fotoparasiten keine andere Antwort als einen gebetsmühlenartig repetierten Satz: “Sie kennen doch die Branche!”

Nein, diese “Branche” kenne ich nicht. Ich kenne den Journalismus, ziemlich gut sogar. Diese Profession, die dafür sorgt, dass eine Gesellschaft sich über die für sie meinungs- und entscheidungsrelevanten Tatsachen und Entwicklungen informieren kann, sich orientieren und sozial abgleichen kann. Das ist eine wichtige und nicht immer leichte Aufgabe, die zu Recht Verfassungsrang hat. Mit den beschriebenen Fotojägern, dieser Bastardgattung aus Voyeur, Privatdetektiv und Söldner, hat sie rein gar nichts zu tun.

[flashvideo filename=wp-content/video/meckel.flv /]

Ich habe jetzt beschlossen: Wenn andere das Recht auf das fremde Bild haben, dann gilt das auch für mich. Doch der Versuch, die Fotospanner selbst zu fotografieren, zeitigt interessante Reaktionen zwischen Panik, Aggression und Flucht (siehe Video rechts). Der Fotojäger wird zum Gejagten. Das, was die Bildbelagerer von anderen Menschen wollen, möchten sie umgekehrt für sich selbst nämlich keinesfalls zulassen. Warum aber soll beim Kampf ums Bild nicht zumindest Waffengleichheit herrschen? Ab sofort wird zurück fotografiert!
 
BILDblogger für einen Tag ist morgen Christian Schertz.

medienlese – der Wochenrückblick

Kleber klebt, keine Kommentare, keine Mafia.

Videoblogger und Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek wurde gemäss Tagesspiegelstrafversetzt“. Ein ZDF-Fernsehmoderator (Claus Kleber) soll sich überraschend nächstens im Chefredaktionssessel des Spiegels wieder finden – sein Arbeitgeber kämpft derweil noch um ihn. Die Clap-Redaktion legte Zeitschriften auf die Küchenwaage. Eine eigene Facebook-Gruppe für Schweizer Blogs wurde gegründet. Binningen musste für eine Nacht ohne TV und Internet auskommen. Ein Schweizer Politiker schrieb Leserbriefe mit Inhalten aus der Weltwoche. Die Schweizer Gratiszeitung News erschien erstmals und .ch-Verleger Sacha Wigdorovits wurde von der Sonntagszeitung gesehen, wie er eigenhändig sein Produkt auf die Ständer hievte (weil es nicht korrekt platziert war).

Sueddeutsche.de zog ihre Schlüsse aus dem Niggemeier-Urteil des Hamburger Landgerichts und bietet “ab sofort” nur noch Leserbeteiligung von 8 bis 19 Uhr. Ausserhalb dieser “Arbeitszeiten” können “keine Kommentare publiziert werden“. Gez. “Die Chefredaktion”.

Read On…

6 vor 9

SCOOP! And the winner is?
(axel-springer-akademie.de/blog)
? Dennis Buchmann und sein Magazin ?Humanglobaler Zufall?!

Der Rollercoaster
(bilanz.ch, Stefan Barmettler)
Roger Schawinski hat sich mit manchen verkracht – und wieder versöhnt. Rechtzeitig zum Start seiner neuen Radioprojekte ist er sogar mit dem Medienminister wieder in Minne.

Generationenkonflikt oder Ehegeplänkel?
(nzz.ch, Hanspeter Kellermüller)
Die Verleger von Pressetiteln streiten mit Google. Stein des Anstosses ist Google News, wo die Inhalte diverser Online-Nachrichtendienste verlinkt werden. Die Verleger befürchten, dass Websites wie Google News die Verfügungsgewalt über ihre Inhalte bedrohen.

Mit einer Zeitung kann ich nicht reden
(berlinonline.de, Felix Kubach)
Seine Seite hat täglich 10 000 Nutzer: Robert Basic über die Lust am Bloggen.

“Selten sinnlose Profilierungsmeetings mit Excel Dateien an der Wand”
(don.antville.org, Don Dahlmann)
Wenn man auf Partys erwähnt, dass man Freiberufler ist, dann wird man entweder mit dem Satz “Könnt ich, hätt ich keine Disziplin für” beworfen, oder jemand sagt “Toll, da kann man ja machen was man will.” Sicher – Freiberufler zu sein hat sehr viele Vorteile. Aber ganz so gülden glänzt hier auch nicht alles.

Journalisten am Scheideweg zwischen Stumm- und Tonfilm
(watchberlin.de, Video, Harald Martenstein, 7:33 Minuten)
“(…) Die Ware, mit der der Journalist sich jetzt auf den Marktplatz begeben muss, ist seine Subjektivität. Er verkauft nicht mehr etwas anderes, er verkauft sich selber. Das ist nicht unbedingt ein Kulturverfallsprodukt, das ist eben einfach ein weiterer Schritt auf diesem 1789 begonnen Weg der Emanzipation des Individuums (…)”

Den Boulevard hab’ ich zum Fressen gern…


Knut, 1, ist Eisbär im Berliner Zoo. “Bild” berichtete über ihn erstmals mit sechs Wochen Verspätung am 22. Januar (“Eisbären-Baby im Zoo geboren!”), musste sich damals aber noch mit einem “Symbolfoto” zufriedengeben. Tags drauf (“Das Berliner Bären-Wunder”) gab es aber bereits “DAS ERSTE FOTO VON KNUT”. Seitdem berichtete “Bild” weit über 100-mal.

In Knuts Blog schreibt Knut seit genau neun Monaten für “alle da draußen, die gerne mitbekommen möchten, wie es mir geht” — mit freundlicher Unterstützung von Torsten Rupprich (dem Leiter der Onlineredaktion rbb Fernsehen). Sein multilinguales Blog hat, so Knut, “eine stabile weltweite Fangemeinde”.

Von Knut

Gestatten Knut, Eisbär Knut, seit gestern ein Jahr alt: Eine 115 kg schwere Attraktion des Berliner Zoos mit einer Besonderheit: Ich schreibe Tagebuch, und zwar online.

Warum ich hier schreibe? Was ich mit “Bild” zu tun habe?

Nun denn, mein Leben ist mit dem Boulevard verknüpft, seit ich denken kann. Gerade mal drei Monate alt — ich kann zwar laufen, aber noch nicht einmal schwimmen — tritt “Bild” den ganz großen Hype los. Mit Bezug auf einen Tierrechtler fragt die Zeitung:

"Wird süßer Knut totgespritzt?"
“FAZ” und BILDblog recherchieren gegen und stellen richtig [auch wenn’s “Bild” wohl bis heute nicht begriffen hat, d. Red.]. Danke dafür!

Aber trotzdem oder gerade deshalb… Von da an geht’s bergauf. Ich bin ein Star, ob ich will oder nicht. Und “Bild” und die anderen Boulevardblätter bestimmen mein Schicksal: Ich bin zu dick, ich schnappe nach meinen Doc und werde gefährlich für Papi, wird kolportiert. Erst vorgestern noch deckte “Bild” mit einer ganzen Seite 3 einen ungeheueren “TV-Schwindel” auf:


Der Kern der Geschichte: Fernsehfilme werden vorproduziert und die Torte, die mir im rbb-Geburtstagsfilm überreicht wird, ist nicht die echte. Nun, geschmeckt hat sie trotzdem!

Wirklich beunruhigt hat mich dabei aber etwas anderes. “Knut”, habe ich mir gesagt, “Knut, die interessieren sich gar nicht wirklich für dich. Die wollen nur ‘ne tolle Geschichte”. Diese Einsicht stürzte mich in eine Depression! Und das am Vorabend meines 1. Geburtstags. Warum? Na, das ist doch klar. Seit einem dreiviertel Jahr bin ich der Star: im Zoo, in Berlin, weltweit. Und was ist, wenn nun demnächst meine Mama Tosca und die beiden anderen Eisbärenfrauen im Berliner Zoo einen großen Wurf landen? Dann stürzt sich “Bild” auf die süßen, kleinen, putzigen Bärenbabys.

Und ich? Hat darüber mal jemand nachgedacht!!!???

Die Lösung durchzuckte meinen Hirnstamm gestern Nacht im Traum:

… schwierig war es, Kai Diekmann überhaupt zu erreichen. Aber dann beim frühmorgendlichen Plausch am Gehegezaun kapiert er meine Idee sofort und stolpert vor Begeisterung fast ins Eisbärenbecken.

Lautlos und unbemerkt gründen er und Thilo Bode drei Tage später die “Free Knut GreenBILD-Foundation”. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse: Eine Woche Titelseiten-Kampagne und 2,4 Millionen Unterschriften später knicken auf Druck meines Patenonkels Sigmar Gabriel endlich der Zoo Berlin und das Alfred Wegener Institut ein.

Noch drei Tage und die Polarstern steht bereit. Wir stechen in See. Mit an Bord: Zoodirektor Blaszkiewitz, Papi Thomas Dörflein, mein Leibarzt Doc Schüle, etliche Tonnen TV-Übertragungstechnik und natürlich ich (leider im Käfig). Die Tage vergehen im Sturm. Endlich: Die Schelfeiskante vor Spitzbergen! Viel Zeit für den Abschied bleibt nicht: Der Himmel ist wolkenfrei, der Satelliten-Uplink steht, 20.15 Uhr, beste Sendezeit.

Ich sitze bibbernd mit kaltem Hintern auf der geschlossenen Eisdecke des Nordpolarmeeres, Free Willys bislang unbekannter Bruder schlägt mit der Schwanzflosse zum Gruß und der rbb überträgt live und weltweit!

Ganz langsam schiebt sich die Polarstern rückwärts zwischen knarrende Eisschollen in die Polarnacht. Thomas steht an der Reling und unterdrückt eine Träne, ich hebe traurig die Tatze zum Abschied… Da schießt mir ein Gedanke in den Eisbärenschädel: “CROISSANTS!” Wer zur Hölle bringt mir morgen meine Croissants????…

Plopp!

Mit schweißverklebtem Fell wache ich auf. In meiner Schlafhöhle: Zoo Berlin, Hardenbergplatz 8, 10787 Berlin. Brrrrr, nach diesem Alptraum ist mir einiges klar.

Liebe Freunde vom BILDblog, bitte seid mir nicht böse, aber ich glaube, ich muss mich in mein Schicksal fügen. Ich bin ein Zoobär mit Symbolwert. Und den Boulevard hab’ ich zum Fressen gern. Sie werden mich im Blick behalten, Ihr werdet es hoffentlich richtig stellen.

Und sonst… ja, sonst werde ich den Verantwortlichen weiter einheizen und sehen, dass ich etwas dafür tun kann, dass meinen Brüdern und Schwestern und Onkeln und Tanten in freier Wildbahn, nicht die Eisscholle unterm Hintern wegschmilzt… und natürlich dafür, dass die Berliner rbb-Abendschau am Freitag etwas zu berichten hat…

Machts gut, und danke für den Fisch… Euer Knut.
 
BILDblogger für einen Tag ist morgen Sascha Lobo.

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