Deutschland befindet sich im Krieg. Laut Bild.de. Im “Herings-Krieg”:
Nach dem EU-Austritt wolle Großbritannien “selbst bestimmen, wer in seinen Hoheitsgewässern fischt — und kündigt damit ein Fischereiabkommen von 1964”, berichtete Bild.de am Montag hinter der Bezahlschranke und konstruierte daraus eben den “Herings-Krieg”.
Als SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor eineinhalb Wochen in einer Rede die Wahlkampftaktik von CDU-Spitzenkandidatin Angela Merkel und deren Partei als “Anschlag auf die Demokratie” bezeichnete, hatte “Bild”-Chefchef Julian Reichelt bei Twitter etwas dazu zu sagen:
Nun kann man es sicher so sehen, dass Martin Schulz bei seiner Wortwahl danebengegriffen hat. Und Reichelt liegt bestimmt richtig, wenn er meint, dass “wahre Anschläge auf die Demokratie” bitterere und blutigere Folgen haben als Angela Merkels Vorgehen im Wahlkampf. Aber dass ausgerechnet derjenige ein sprachliches Großgeschütz anprangert, der für Bild.de verantwortlich ist, ein Portal, das bei jeder noch so kleinen Gelegenheit “Krieg” schreit, ist dann doch ein bisschen putzig.
Hier mal die Geschehnisse der vergangenen zwei Monate, in denen es laut Bild.de angemessen war, von “Krieg” zu sprechen …
Eine Countrysängerin will größere Brüste für mehr Erfolg. Ihr Mann findet das gar nicht gut. “Busen-Krieg”!
Die eine Fast-Food-Kette meint, dass die andere Fast-Food-Kette einiges abgekupfert hat. “BURGER-KRIEG”!
Während in der einen Ecke der Stadt die Parkplatzpreise ganz schön anziehen, wird’s in einer andere Ecke der Stadt günstiger. “Krieg der Pendler”!
Zwei Formel-1-Fahrer können gar nicht miteinander, bremsen sich gegenseitig aus, rempeln den anderen an. “KRIEG IN DER FORMEL 1”! “Formel-1-Krieg”! “KRIEG ZWISCHEN HAMILTON UND VETTEL”! “FORMEL-1-KRIEG”!
Bei Facebook postet eine mehr oder weniger bekannte Frau etwas zur laufenden Scheidung mit ihrem mehr oder weniger bekannten Ehemann. “Facebook-Krieg”!
Ikea, Höffner und Roller wollen alle gerne Marktführer sein. “Möbel-Krieg”!
Fünf VW-Manager wurden von der US-Anklagebehörde international zur Fahndung ausgeschrieben. “Wirtschafts-Krieg”!
In einem neu entstandenen Viertel machen neue Restaurants und Bars auf, die nun versuchen, das Personal anderer Restaurants und Bars aus einem alten Viertel abzuwerben. “Gastro-Krieg”!
Ein Nachbar raucht, den anderen Nachbarn stört es so sehr, dass er Wasser und Pfefferspray einsetzt. “Raucher-Krieg”!
Xavier Naidoo singt blödes Zeug. Manche Prominente finden das in Ordnung, manche nicht. “Promi-Krieg”!
Zwei Bäume stehen einem Bauprojekt im Wege. “Baum-Krieg”!
Frei nach Julian Reichelt: Wer einen Ehe-Zwist wegen ein paar vergrößerter Brüste einen “Krieg” nennt wie Bild.de, hat schlicht keine Ahnung, wie bitter und blutig wahre Kriege sind. Das ist ein trauriger und verantwortungsloser Umgang mit unserem Land und der Bild.de-Leserschaft.
“Diese BILD Sonderausgabe für alle deutschen Haushalte ist unser Bekenntnis, dass wir an eine noch bessere Zukunft für Deutschland und den Journalismus glauben. Denn BILD ist Teil dieses modernen und weltoffenen Landes, das BILD seit 65 Jahren begleitet.”
“Bild” als “Teil dieses modernen und weltoffenen Landes”, und das seit 65 Jahren.
Wie “modern und weltoffen” die “Bild”-Medien heute sind, kann jeder selbst nachschauen — am Kiosk, bei Bild.de oder auch hier im BILDblog. Aber wie sah das zum Beispiel in den 70ern oder 80ern aus?
Ein Blick in “Günter Wallraffs BILDerbuch” lohnt sich immer und erst recht nach solchen Aussagen wie der von Julian Reichelt. 1985 hat Wallraff diese selbst zusammengestellte Auswahl von “Bild”-Schlagzeilen der vorangegangenen 15 Jahre veröffentlicht. Das Buch zeigt in konzentrierter Form, was für ein chauvinistischer Haufen die “Bild”-Redaktion damals gewesen sein muss, ein Paradegegenbeispiel für “modern und weltoffen”.
Zum Beispiel, wenn es um Frauen ging. Da wurden reichlich Klischees bedient …
(Dezember 1983)
(Juli 1975)
… Professoren durften wilde Thesen aufstellen …
(März 1980)
… und es wurde offen die Frage gestellt, ob Opfer von Grabschattacken nicht vielleicht doch “selber schuld” seien:
(April 1984)
Apropos sexualisierte Gewalt: Anstatt Vergewaltigungen in der Ehe aufs Schärfste zu kritisieren, stieß “Bild” damals lieber eine Debatte an, ob so eine Vergewaltigung durch den eigenen Ehemann nicht doch ganz in Ordnung ist und zur “Ehepflicht” einer Frau gehört:
(Juni 1979)
Oder anders gefragt:
(Dezember 1978)
Um auf eine solche Frage überhaupt zu kommen, muss in einer Redaktion schon einiges schieflaufen. In “Bild” durften sich die vergewaltigenden Männer dann auch noch rechtfertigen:
(März 1980)
In den Schlagzeilen über Gastarbeiter aus der Türkei zeigte “Bild” ebenfalls, dass das Blatt alles andere als “modern und weltoffen” ist. Die “Bild”-Mitarbeiter warnten ihre Leserinnen und Leser vor den Türken …
(Juli 1978)
(August 1976)
… machten aus ihnen katzenfressende Sonderlinge …
(August 1978)
… und das Allgemeinwohl bedrohende Amokfahrer:
(Juli 1973)
Julian Reichelt sagt gerne mal, dass Leute, die “Bild” heute kritisieren, ihr Weltbild seit 30, 40 Jahren nicht mehr aktualisiert hätten. Er selbst scheint bei seiner Weltbildaktualisierung die vergangenen 30, 40 “Bild”-Jahre einfach vergessen zu haben.
Achtung, Achtung! Wichtige Durchsage: Übermorgen, am Donnerstag, 22. Juni, wird der Axel-Springer-Verlag wieder jeden Haushalt in Deutschland ungefragt mit einer “Bild”-Zeitung behelligen. Vermutlich will die Redaktion so sich und den 65. “Bild”-Geburtstag feiern. Und ordentlich Kohle machen: Der Preis für eine ganzseitige Anzeige dürfte, wie schon bei vergangenen “Bild für alle”-Aktionen, bei rund vier Millionen Euro liegen.
Wir haben blöderweise auch erst Ende vergangener Woche von der neuerlichen Belästigung im Briefkasten erfahren. Andernfalls hätten wir früher hier davon berichtet — dann hätten Sie noch rechtzeitig Einspruch gegen die unliebsame “Bild”-Zustellung einlegen können. Dafür ist es jetzt leider zu spät.
Lassen Sie uns also das Beste draus machen und gemeinsam “Bild” ganz herzlich zum 65. gratulieren: Wie schon vor zwei Jahren soll #BILDindieTonne!
Und das geht so: Zerknüllen Sie am Donnerstag Ihre ungelesene Gratis-“Bild” und werfen Sie sie direkt in den nächsten Mülleimer. Machen Sie ein Foto davon und posten Sie es bei Facebook (entweder hier oder bei dieser Facebook-Veranstaltung), bei Twitter (mit dem Hashtag #BILDindieTonne) oder bei Instagram (ebenfalls mit dem Hashtag #BILDindieTonne).
Hier noch einmal das Wichtigste zusammengefasst:
Ach, und noch ein Vorschlag von uns: Beschränken Sie sich wirklich nur aufs Zerknüllen der “Bild”-Zeitung. Das kollektive Verbrennen des Blatts kann schnell etwas von der Bücherverbrennung haben. Und außerdem wollen wir nicht, dass sich “Bild”-Oberchef Julian Reichelt deswegen wieder so aufregen muss.
Sollten Sie bei dem Gedanken, eine “Bild”-Zeitung in Ihrem Briefkasten liegen zu haben, schon jetzt spontan Herpes bekommen, gibt es noch eine Möglichkeit, schlimmere körperliche Schäden am Donnerstag zu vermeiden (allerdings können Sie dann nicht bei unserer #BILDindieTonne-Aktion mitmachen): Die Post, die die Zustellung der vielen Millionen “Bild”-Exemplare in ganz Deutschland übernimmt, hat ihre Mitarbeiter angewiesen, nach Aufklebern auf den Briefkästen zu schauen. Ein Sticker mit “Bitte keine Werbung einwerfen” hilft gegen die Gratis-“Bild” nicht; Sticker mit dem Hinweis, dass man keine kostenlosen Zeitungen oder Anzeigenblätter erhalten will — oder noch besser: dass man keine “Bild”-Zeitung erhalten will –, sollen hingegen vor unerwünschten “Bild”-Einwürfen schützen.
Gerne können Sie dafür diese …
(Draufklicken für größere Version.)
… oder diese Vorlage …
(Draufklicken für größere Version.)
… benutzen. Oder Sie kleben einfach einen kleinen Zettel mit “Hier keine ‘Bild’ einwerfen” auf ihren Briefkasten.
Nachtrag, 21. Juni: Sollten Sie morgen zwischen 13 und 18 Uhr in Hannover sein, hätten wir noch ein tolles Tauschangebot für Sie: Gratis-“Bild” gegen Gratis-“Titanic”.
Es verdichten sich die Hinweise, dass “Bild” auf eine Betrügerin reingefallen ist.
Am 28. März 2015, vier Tage nach dem Absturz des “Germanwings”-Flugs 4U9525 in den französischen Alpen, veröffentlichte die “Bild”-Zeitung diese Titelgeschichte, die auch Bild.de aufgriff:
Die angebliche “Ex-Freundin” von “Germanwings”-Co-Pilot Andreas Lubitz lieferte “Bild”-Reporter John Puthenpurackal genau die Bausteine, die wenige Tage nach dem Unglück für das Psychogramm eines Wahnsinnigen noch fehlten: Ausraster, Drohungen, die Ankündigung einer aufsehenerregenden Tat. Es passte alles wunderbar in das Bild, das Puthenpurackals Redaktion die Tage zuvor gezeichnet hatte.
In dem Artikel vom 28. März 2015 schrieb “Bild”:
Die Stewardess Maria W. (26) war eine zeitlang die Freundin von Todes-Pilot Andreas Lubitz (27).
Fünf Monate lang flogen sie im vergangenen Jahr zusammen durch Europa und übernachteten heimlich gemeinsam in Hotels.
BILD-Reporter John Puthenpurackal hat ihre Identität überprüft. Er ließ sich u.a. ein Foto zeigen, das die Stewardess und den Amok-Piloten bei einem Flug in derselben Crew zeigt.
Bereits im März dieses Jahres schrieb die Journalistin Petra Sorge in der “Zeit”, dass es trotz der Identitätsprüfung durch “Bild” erhebliche Zweifel an der Geschichte von Maria W. gebe. Der für den “Germanwings”-Absturz zuständige Düsseldorfer Staatsanwalt Christoph Kumpa sagte damals: “Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist.” “Bild”-Oberchef Julian Reichelt startete daraufhin eine ganz beachtliche Twitter-Kampagne gegen Sorge.
Heute liefert Petra Sorge in einem Artikel für “Buzzfeed” neue Indizien dafür, dass Maria W. eine Hochstaplerin ist, und dass die “Bild”-Medien auf sie reingefallen sind.
Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass die Einsatzpläne bei “Germanwings” aus Kostengründen so konzipiert waren, dass die Piloten am Ende eines Diensttages so gut wie immer in ihren Heimatflughafen zurückkehrten. Das Personal schlief dann meist in der eigenen Wohnung. Das passt kaum mit der Aussage von Maria W. zusammen, dass sie mit Andreas Lubitz durch Europa geflogen sei und heimlich mit ihm in Hotels übernachtet habe.
Außerdem ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Andreas Lubitz und Maria W. “fünf Monate lang” zusammen flogen. Bei “Buzzfeed” sagt ein Sprecher von Lubitz’ früherer Fluggesellschaft, dass die Crew täglich wechsle und man nur in Ausnahmefällen und durch Zufall mehrere Tage hintereinander gemeinsam fliege.
Schwerwiegender als diese Indizien ist eine Stellungnahme von RTL zu dem Fall. Maria W. hat sich nach der Veröffentlichung bei “Bild” mit ihrem Anliegen nämlich auch bei dem TV-Sender gemeldet. Nach fünf Monaten Recherche stand für die Redaktion fest: Maria W. ist eine Betrügerin. Petra Sorge zitiert in ihrem “Buzzfeed”-Text einen RTL-Pressesprecher: “‘Wir können vollumfänglich bestätigen, dass Maria W. ihre Geschichte frei erfunden hat. Dies hat sie bei einem 4. Treffen im Dezember 2015 explizit zugegeben'”.
Bei diesem vierten Treffen soll Maria W. laut eines RTL-Abteilungsleiters auch gesagt haben, dass sie überrascht gewesen sei, wie viel Arbeit sich der Sender mit der Recherche gemacht hat. Das kannte sie von ihrem Kontakt mit der “Bild”-Redaktion und John Puthenpurackal offenbar nicht.
Am 22. Februar machten “Bild”-Chefredakteurin Tanit Koch und “Bild”-Chefchef Julian Reichelt den früheren Intendanten des “Deutschlandradios” Ernst Elitz zum “Bild”-Ombudsmann.
Und seitdem?
Die Festschrift, die heute in der “Bild”-Zeitung und gestern Abend bereits bei Bild.de erschienen ist, bietet leider kein brauchbares 100-Tage-Resümee. Stattdessen hat der Jubilar selbst ein tolles Geschenk mitgebracht:
Viele Leser wünschen sich mehr Möglichkeiten, ihre Meinung zu äußern. Da in der Zeitung der Platz für Leserbriefe begrenzt ist, habe ich die Chefredaktion gebeten, zusätzlich Leserbriefe bei BILD.de zu veröffentlichen. Das klappt: Sie finden mehr Leserbriefe ab heute unter http://www.bild.de/ombudsmann
Mit dem Elitz als Ombudsmann — da bewegt sich richtig was bei “Bild”. Und so werden jetzt endlich auch solche Leserbriefe veröffentlicht:
Zu: Kann die weg? Oder brauchen wir die Ein-Cent-Münze noch?
Im Portemonnaie nerven sie. Aber abschaffen würde ich diese nicht. Ich lege die Ein-Cent-Stücke immer beiseite und bringe sie zweimal im Jahr zur Bank.
[anonym]
Oder diese zwei fundierten Debattenbeiträge:
Zum Kommentar: Letzte Chance für die SPD
Die SPD kommt noch aus den Puschen!
Wolfgang J[.]
Die SPD ist wie 1860 München. Schnell geht es abwärts.
Klaus Guido S[.]
Doch zurück zur 100-Tage-Bilanz von Ernst Elitz. Tanit Koch und Julian Reichelt schrieben im Februar an ihre Leserinnen und Leser: “Wir wollen, dass Sie bei uns Gehör finden, wenn Sie sich über uns ärgern oder etwas falsch dargestellt sehen. Wir wollen, dass Sie unseren Fakten nicht nur vertrauen, sondern sie transparent nachvollziehen können. Wir wollen von Ihnen hören, wenn Sie meinen, einen Fehler entdeckt zu haben.”
Hat das geklappt? Hat die Leserschaft Gehör gefunden? Hat der Ombudsmann die kritischen Fragen, die ihn erreicht haben, ernstgenommen?
Hier eine Auswahl von Ernst Elitz’ Urteilen zur “Bild”-Berichterstattung:
Der “Bild”-Ombudsmann ist ein schlechter Witz.
Elitz schreibt, ihn erreichen 150 Briefe von Leserinnen und Lesern pro Woche. 100 Tage ist er im Amt, also etwas mehr als 14 Wochen. Bei über 2000 Leserhinweisen hat er es nicht hinbekommen, irgendetwas rauszufischen, das wenigstens den Anschein eines Fehlers oder Verstoßes durch die “Bild”-Redaktion besitzt. Die heftigste Kritik äußerte der Ombudsmann, als “Bild” nach dem Champions-League-Viertelfinale aus Fußballer Cristiano Ronaldo “der verfluchte Cristiano Ronaldo” machte:
Das “verflucht”, als Ronaldo die Bayern aus dem Halbfinale schoss, war in der Redaktion selbst umstritten. Ich bin bei denen, die diese Wortwahl nicht für angemessen halten. Bitte fair nicht nur auf dem Rasen, sondern auch beim Spiel mit Worten!
Es gibt neue Dokumente zu Edward Snowden, die eine Frage beantworten, die seine Kritiker seit einigen Jahren gerne stellen: Wo wohnte Snowden die ersten Tage nach seiner Ankunft in Hongkong? Ihre Überlegung: Keine Belege, wo der Whistleblower vom 21. bis 31. Mai 2013 unterkam — kein Beweis, dass er in dieser Zeit nicht einen Deal mit den Geheimdiensten von Russland und/oder China aushandelte. Vergangene Woche präsentierte der Journalist Glenn Greenwald auf seiner Seite “The Intercept” Rechnungen, die zeigen: Edward Snowden war genau dort, wo er auf Nachfrage immer behauptet hatte — im Hotel “Mira”.
Einer der Snowden-Kritiker, die der festen Überzeugung sind, dass es sich bei Snowden um einen Überläufer handelt, ist John R. Schindler. Der ehemalige NSA-Mitarbeiter darf im Auftrag seines Fanboys Julian Reichelt bei Bild.de seine Gedanken zu verschiedenen Themen aufschreiben. Vor einem Dreivierteljahr erklärte Schindler der Weltöffentlichkeitder “Bild”-Leserschaftden “Bild plus”-Abonnenten:
Schindler schrieb:
Drei Jahre, nachdem Edward Snowden — der amerikanische IT-Dienstleister, aus dem ein weltbekannter Prominenter wurde — in Hongkong zum ersten Mal vor die Medien trat, ist immer noch unklar, was sich wirklich in dieser aufsehenerregenden Affäre abgespielt hat.
Der ungefähre Ablauf ist bekannt. Im Mai 2013 verließ Snowden seinen Job bei der National Security Agency auf Hawaii und tauchte am 1. Juni im Hotel Mira in Hongkong auf. (…)
Doch einige wichtige Fragen sind noch offen.
Wo war Snowden vom 21. bis 31. Mai 2013?
Schindlers Aussage bei Bild.de, Snowden sei erst am 1. Juni im Hotel “Mira” aufgetaucht, stimmt nicht. Die neuen Unterlagen, die Snowdens Anwälte in Hongkong besorgt haben und die Glenn Greenwald nun veröffentlicht hat, zeigen, dass der Whistleblower bereits am 21. Mai im “Mira” eingecheckt hat — unter seinem eigenen Namen, bezahlt mit seiner eigenen Kreditkarte. Diese erste Buchung geht bis zum 30. Mai. Bereits am 29. Mai bucht Snowden zwei weitere Nächte, bis zum 1. Juni, und direkt hinterher noch mal neun weitere Nächte bis zum 10. Juni. Am 2. Juni kommen dann Greenwald und Laura Poitras, die einen ersten Teil von Snowdens Enthüllungen veröffentlichen. Der Journalist Charlie Savage hat alle Hotelabrechnungen auf seiner Seite veröffentlicht (auch eine weitere Buchung durch Snowden im “Mira” bis zum 18. Juni sowie eine frühere Buchung im Hotel “Icon”, in dem Snowden für seine erste Nacht in Hongkong am 20. Mai eingecheckt hatte).
Wie zentral die Frage nach Snowdens ersten Tagen in Hongkong für Schindler und seine Ausführungen ist, zeigt, dass dieser sie immer wieder stellt. Bereits im Sommer 2015 fragte er bei Bild.de:
Wo war Snowden während der zehn Tage im Mai 2013, nachdem er Hawaii verlassen und bevor er am 1. Juni im Hongkonger Hotel “Mira” eincheckte?
Und auch bei Twitter lässt ihn das Thema nicht los:
Jetzt hat er eine Antwort bekommen (die er natürlich nicht glaubt). Da diese Dokumente noch nicht öffentlich zugänglich waren, als John R. Schindler seinen Bild.de-Artikel geschrieben hat, kann man ihm nicht vorwerfen, davon nichts gewusst zu haben. Er konnte aber wissen, dass Edward Snowden stets beteuert hat, sich auch schon vor dem 1. Juni im “Mira” aufgehalten zu haben. Schindler hat diese Aussage einfach nicht glauben wollen oder ignoriert und das Gegenteil behauptet, was auch viel besser in seine Überläufer-Theorie passt. Julian Reichelt und Bild.de boten ihm dafür eine Plattform.
Ob Edward Snowden ein russischer Spion ist? Keine Ahnung.
Ob Edward Snowden in Hongkong Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes besucht oder sie im Hotel empfangen hat? Keine Ahnung.
Ob John R. Schindler und Bild.de eine falsche Behauptung aufgestellt haben? Scheint ganz so.
Morgen jährt sich zum zweiten Mal der Absturz des “Germanwings”-Flugs 4U9525. 150 Menschen sind damals in den französischen Alpen ums Leben gekommen, darunter auch Co-Pilot Andreas Lubitz, der die Maschine bewusst zum Absturz gebracht haben soll. Während viele der Hinterbliebenen sich treffen und gemeinsam trauern werden, werden Lubitz’ Eltern in Berlin bei einer eigens organisierten Pressekonferenz sitzen. Sie wollen ein Gutachten präsentieren, in dem es um Zweifel an den offiziellen Ermittlungen zur Absturzursache gehen soll.
In der “Zeit” von heute ist ein lesenswertes Stück von Petra Sorge zum Thema erschienen (hier eine Zusammenfassung von “Zeit Online”). Sie hat sich mit Günter Lubitz, dem Vater von Andreas, getroffen und mit ihm über verschiedene Gutachten, Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft, seine Motivation gesprochen:
Der Text handelt auch von der Berichterstattung rund um den “Germanwings”-Absturz. Es geht um ein brennendes Grab, um herumschleichende Reporter, um möglicherweise erfundene Interviewaussagen. Es geht vor allem um die “Springer”-Blätter “Bild” und “Welt am Sonntag”.
***
Da ist zum Beispiel der “Bild”-Bericht über das Grab von Andreas Lubitz. In der Print-Ausgabe und online hatten die “Bild”-Redaktionen Ende Juni 2015 groß auf der Titel- beziehungsweise Startseite über die Beerdigung des “Germanwings”-Co-Piloten berichtet …
… und dabei auch dessen Grab, niedergelegte Kränze, letzte Grüße von Freunden gezeigt.
Petra Sorge schreibt in ihrem “Zeit”-Artikel:
Kurz nach der Beerdigung von Andreas Lubitz gelangte ein Reporter auf den Friedhof. Er fotografierte das Grab: Kränze, die letzte Widmung der Familie. Bild veröffentlichte das Foto. Kurze zeit später setzte jemand das Grab in Brand. Der Brandstifter wurde nie gefunden.
Zur Berichterstattung über den Germanwings-Absturz:
Wegen der Veröffentlichung des Fotos folgte ein Gerichtsverfahren, das noch immer nicht endgültig entschieden ist. Inzwischen liegt der Fall beim Bundesgerichtshof:
Das Kammergericht Berlin untersagte den Abdruck des Fotos schließlich, mit der Begründung, die Berichterstattung stelle “einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte” der Kläger dar. Der Springer-Verlag hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Über die Frage von Pietät, Persönlichkeitsrecht und Grenzen der Pressefreiheit muss nun der Bundesgerichtshof entscheiden.
Nun kann man über einen direkten Zusammenhang von Bericht und Feuer nur mutmaßen. Die Tatsache aber, dass “Bild” und Bild.de trotz des Brandes und der möglichen Gefahr einer weiteren Brandstiftung im vergangenen August wieder mit großen Fotos über das Grab von Andreas Lubitz und den neuen Grabstein dort berichtet haben, wird vor diesem Hintergrund noch ekliger als es eh schon ist.
***
Direkt im Anschluss schreibt Petra Sorge:
Günter Lubitz hat lange überlegt, ob er mit der ZEIT sprechen soll. Mehrmals stand das Treffen auf der Kippe, besonders nachdem im Februar zwei Journalisten nahe dem Haus waren und danach behauptet hatten, die Familie habe sich erstmals öffentlich geäußert. Diese aus dem Zusammenhang gerissene “Äußerung” stammte aus einem Antwortschreiben, mit dem Günter Lubitz schon im November 2016 auf die Bitte um ein Interview reagiert hatte.
Bei den “zwei Journalisten” dürfte es sich um Mitarbeiter der “Welt am Sonntag” handeln. Die Wochenzeitung hatte vor gut einem Monat, am 26. Februar, vier Seiten über den “Germanwings”-Absturz veröffentlicht. In dem langen Text findet sich auch diese Passage:
Erstmals überhaupt haben sich die Eltern nun zu Wort gemeldet. Auf Anfrage der “Welt am Sonntag” schrieben sie: “Zum Absturz des Germanwings-Fluges 9525 ergeben sich auch für uns noch viele unbeantwortete Fragen, merkwürdige Sachverhalte und Zweifel am bisher kommunizierten Unfallhergang. Wir sind momentan selber noch am Recherchieren.” Zu dem “völlig falsch gezeichneten Bild” ihres Sohnes wollen sie sich momentan aber noch nicht äußern.
Ein “Unfallhergang”? Ein “völlig falsch gezeichnetes Bild” ihres Sohnes?
Aus einer E-Mail-Absage auf eine Interview-Anfrage vom November 2016 macht die “Welt am Sonntag” im Februar 2017 also die exklusive Nachricht, dass Lubitz’ Eltern sich “erstmals überhaupt” geäußert hätten.
Die Aussagen der angeblichen “Ex-Freundin” über Lubitz’ angebliche Ausraster und seine angeblichen Ankündigungen waren nur wenige Tage nach dem Unglück entscheidende Bausteine bei der medialen Konstruktion eines Psychogramms.
“Bild” schreibt in dem Artikel:
Die Stewardess Maria W. (26) war eine zeitlang die Freundin von Todes-Pilot Andreas Lubitz (27).
Fünf Monate lang flogen sie im vergangenen Jahr zusammen durch Europa und übernachteten heimlich gemeinsam in Hotels.
BILD-Reporter John Puthenpurackal hat ihre Identität überprüft. Er ließ sich u.a. ein Foto zeigen, das die Stewardess und den Amok-Piloten bei einem Flug in derselben Crew zeigt.
Wir haben den Namen auf ihren Wunsch geändert, sie so fotografiert, dass sie nicht erkannt werden kann. In BILD spricht jetzt die Frau, die diesem Mann sehr, sehr nah war.
Trotz Identitätsprüfung durch Reporter Puthenpurackal und Foto-zeigen-lassen glaubt Staatsanwalt Christoph Kumpa laut “Zeit” inzwischen, dass die Aussagen in dem “Bild”-Artikel erfunden seien. Petra Sorge schreibt:
Und dann ist da die Sache mit der angeblichen Ex-Freundin seines Sohnes, der Stewardess Maria W. Bild druckte im März 2015 ein Interview mit ihr, wonach Andreas Lubitz angekündigt haben soll: “Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.” Maria W. habe sich wegen seiner Probleme von ihm getrennt: “Er ist in Gesprächen plötzlich ausgerastet und schrie mich an. Ich hatte Angst. Er hat sich einmal sogar für längere Zeit im Badezimmer eingesperrt.” Das Interview schien genau jenes Puzzleteilchen zu liefern, das noch fehlte zum Bild eines Wahnsinnigen. Als die Staatsanwaltschaft einen Zeugenaufruf startete, meldete sich aber keine Maria W. Staatsanwalt Kumpa erklärt jetzt auf ZEIT-Anfrage: “Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist.”
“Bild” wehrt sich im “Zeit”-Artikel gegen diesen Vorwurf.
Ernst Elitz ist Ombudsmann der “Bild”-Zeitung. Er schaltet sich ein, wenn Leser ihre politischen Ansichten falsch oder verzerrt dargestellt finden. Aber auch, wenn sie Zweifel an Fakten haben.
Seine erste Kolumne erschien am Donnerstag. Am Wochenende schrieb er gleich die nächste. Diesmal fand er sogar einen berechtigten Kritikpunkt. Nur leider schickte er die fertige Kolumne an die falsche E-Mail-Adresse. Sie landete bei uns. Wir veröffentlichen sie hier. Exklusiv bei BILDblog.
Liebe BILD-Leser,
zunächst muss ich Ihnen sagen: Julian Reichelt hat mich für meine erste Kolumne sehr gelobt. Darüber freue ich mich ganz besonders. Denn das zeigt: Er nimmt die kritische Auseinandersetzung mit BILD ernst. Aber kommen wir gleich zu den Zuschriften.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Ich bin den folgenden Fällen nachgegangen.
► BILD-Leser Maik Warschnitz schreibt: “Ich habe von verschiedenen Seiten gehört: Zu Karneval sind mehrere Pärchen in der Öffentlichkeit beim Liebesspiel gefilmt worden. Warum finde ich die Videos nicht bei Bild.de?”
Meine Antwort: Dafür habe ich leider keine Erklärung. Wir haben alle Aufnahmen veröffentlicht. Prominent auf unserer Startseite. Ich habe in der Chefredaktion recherchiert. Der Browser-Verlauf zeigt: Auch dort wurden sie gefunden.
Mein Urteil: BILD ist hier nichts vorzuwerfen.
► BILD-Leser Ferdinand Huhn fragt: “Früher habe ich immer gern die BILD-Korrekturspalte gelesen. Leider finde ich sie nicht mehr. Warum hat die Redaktion sie abgeschafft?”
Die Redaktion sagt: “Diese Frage hören wir oft. Die Antwort überrascht viele Leser: Wir haben die Korrekturspalte nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Oft würden wir Fehler gern berichtigen. Aber leider ist unser Platz begrenzt. Unsere Aufgabe ist es, die wichtigsten Themen des Tages auszuwählen. Wenn dazu unserer Meinung nach ein Fehler zählt, werden wir die Korrekturspalte auch weiterhin nutzen. Sie bleibt also ein ebenso fester Bestandteil der BILD wie das kritische Urteil von Ernst Elitz.”
Mein Urteil: Stark!
► Bei der Berichterstattung über Verbrechen wirft BILD-Leser Gisbert Holunder uns vor, oft einen Teil der Wahrheit zu verschweigen. So würden in vielen Fällen lediglich Fotos veröffentlicht, die das Opfer vor der Tat zeigen.
Meine Antwort: BILD-Reporter sind auch nur Menschen. Sie können nicht gleichzeitig überall sein. Vor allem bei Verbrechen sind wir auf Augenzeugen angewiesen. Und dabei dürfen wir nicht vergessen: Das sind keine Profis. Diese Menschen sind meistens von der Situation überfordert. In ihrer Panik vergessen sie, vom Tatort ein Foto zu machen. Und oft holen sie zunächst Hilfe, statt unsere Reporter zu kontaktieren.
Mein Urteil: BILD trifft keine Schuld!
► BILD-Leser und Türkei-Kenner Hans-Eberhard Müller aus Torgau (Sachsen) fordert “deutliche Worte” zu den “Mätzchen” des türkischen Präsidenten Erdogan.
Meine Antwort: BILD hat dazu deutliche Worte gefunden. Wir werden auch weiter über die Türkei und Präsident Erdogan berichten.
Mein Urteil: BILD hat alles richtig gemacht.
► BILD-Leser Kevin Knoblikowsky möchte wissen: “Warum hat das BILD-Girl eine Hose an?”
Meine Antwort: Sie haben vollkommen Recht. Das muss nicht sein! BILD steht für transparenten Journalismus. Diese Frage müssen wir uns gefallen lassen.
Die Redaktion sagt: “Die Fotos werden uns zugeliefert. Mit Photoshop ist da nichts zu machen. Aber wir bleiben an der Sache dran.”
Mein Urteil: Hier muss sich dringend etwas ändern.
► Stichwort Kommentar!
Manche Leser sind unzufrieden mit Berichten und Formulierungen, die ihrer eigenen Vorstellung von Anstand und Redlichkeit zuwiderlaufen.
Streit und Blut, eine hübsche Frau, Narren und ein lokaler Schlagerstar — klar, dass die Stuttgart-Redaktion der “Bild”-Zeitung diese Geschichte gestern mitnehmen musste:
Der schwäbische Schlagerstar Frank Cordes (46) ist von einem wütenden Faschingsnarren (20) in die Klinik geprügelt worden. Blutiger Streit um eine hübsche Närrin.
Bild.de berichtete ebenfalls, um den Text lesen zu können, braucht man allerdings das kostenpflichtige “Bild plus”-Abo.
Bei der Beschreibung, was am vergangenen Samstagabend bei einer Faschingsfeier im baden-württembergischen Geislingen geschehen war, bezieht sich “Bild” vor allem auf “Schlagerstar Frank Cordes”:
Schlagersänger Frank zu BILD: “Ich war dort zu Besuch, trank mit meiner Cousine ein Bier. Da wurde ich angerempelt und trat einer jungen Dame versehentlich auf den Fuß.”
Zwei Sekunden später gingen ihm die Lichter aus!
Der Sänger: “Eine Faust traf mich voll am Auge. Ich ging bewusstlos zu Boden, wachte eine halbe Stunde später blutüberströmt auf.”
Es handele sich um einen “Gewalt-Ausbruch beim Fasching”, schreibt “Bild”. Und Grund dafür sei eben ein “Streit um eine hübsche Närrin” gewesen.
Von allen möglichen Seiten gibt es Widerspruch zu dieser “Bild”-Geschichte. Augenzeugen sagen, die Darstellung des Boulevardblatts sei hanebüchener Unsinn. Mitarbeiter des “Rote Kreuzes” sagen, sie hätten an dem Abend niemanden behandelt, der “blutüberströmt” war. Und selbst Frank Cordes sagt, dass einiges, was in “Bild” steht, nicht stimmt. Doch der Reihe nach.
Michael Würz hat den Fall für den “Zollern-Alb-Kurier” nachrecherchiert. Inzwischen scheint klar zu sein, dass Frank Cordes bei der Fete in Geislingen tatsächlich einen Schlag abbekommen hat. Das zuständige Polizeipräsidium Tuttlingen hat Würz bestätigt, dass sich ein 27-Jähriger (und nicht 20-Jähriger, wie “Bild” schreibt) gestellt habe. Aktuell steht Aussage gegen Aussage, wie es genau zu dem Streit gekommen ist. Frank Cordes behauptet, er sei einer Frau auf den Fuß getreten und habe dann den Schlag abbekommen. Zeugen behaupten laut “Zollern-Alb-Kurier”, dass die Aggressionen von Cordes ausgegangen seien:
Tatsächlich habe Frank Cordes beim Tanzen eine Frau angerempelt. “Sie hat ihn nur gebeten, mehr Abstand zu halten”, versichert der Zeuge.
Daraufhin habe sich eine Diskussion entwickelt, der Schlagersänger sei aggressiv und bedrohlich geworden. “Er wollte dann sogar auf die Frau und einen weiteren Mann losgehen”, behauptet der Zeuge. Dazu kam es nicht. Mit einem Faustschlag sei Cordes gestoppt worden.
Wer nun wirklich die Situation herbeigeführt und angeheizt hat, können wir auch nicht sagen. Dass es überhaupt dazu gekommen ist, scheint aber nicht an einem “Streit um eine hübsche Närrin” gelegen zu haben, wie “Bild” schreibt, sondern an einer simplen Rempelei.
Merkwürdig an der “Bild”-Geschichte ist auch Cordes’ Aussage, dass er nach einer halben Stunde “blutüberströmt” aufgewacht sei. Das Zelt, in dem die Faschingsfeier stattfand, war nicht sonderlich groß. Einen Mann, der bewusstlos am Boden liegt, dürfte man dort nicht übersehen können. “Zollern-Alb-Kurier”-Redakteur Michael Würz hat deswegen beim “Roten Kreuz” nachgefragt:
Kann einer im Festzelt eine halbe Stunde bewusstlos auf dem Boden liegen, ohne dass es jemand mitbekommt? Helfer des Roten Kreuzes sind am Samstagabend im Auftrag der Stadt im Einsatz; einer, der das wissen müsste, ist Christian Schluck, Bereitschaftsleiter des DRK-Ortsvereins Geislingen. “Ich hatte an diesem Abend selber Dienst”, sagt er. Dass Frank Cordes bewusstlos geprügelt worden sein soll — davon müsste er wissen. Doch Schluck kennt den Fall nicht.
Frank Cordes meint, nie gesagt zu haben, dass er eine halbe Stunde bewusstlos auf dem Zeltboden gelegen habe. Die “Bild”-Redaktion habe ihm diese Aussage in den Mund gelegt:
Am Mittwochabend ruft Frank Cordes in der Redaktion des ZOLLERN-ALB-KURIER an. Und räumt ein: Nicht alles, was am Mittwoch in der Bild-Zeitung geschrieben steht und was die Menschen in Geislingen so sehr auf die Palme bringt, entspreche der Wahrheit. Und nein, sagt er, eine halbe Stunde habe er nicht auf dem Boden in dem Zelt gelegen. Die Bild-Zeitung habe ihm das in den Mund gelegt.
In einem Facebook-Video hat “Bild”-Oberchef Julian Reichelt vorgestern 30 Minuten lang erklärt, “mit welchen Maßnahmen BILD gegen Fake News und Fehler” vorgehen will. Es sei ein Team gegründet worden, das “Geschichten auf ihre Stimmigkeit überprüfen soll.” Das ist wohl der zentrale Part von Reichelts angekündigten Konsequenzen auf den falschen “Sex-Mob”, den sein Blatt durch die Frankfurter “Freßgass'” hat toben lassen. Immer dann, wenn sensible Stichwörter in einem “Bild”-Artikel vorkommen, werde dieses Team benachrichtigt.
Ginge es aber womöglich nicht viel einfacher? Sowohl beim falschen “Sex-Mob” in Frankfurt als auch bei den schlagenden Narren in Geislingen war eine zentrale Fehlerquelle die Gier einer Redaktion nach einer Geschichte, zu der in der Konferenz später alle nickend sagen können: “Knaller!” Anstatt einfach aufzuschreiben “A sagt das, B sagt das. Jetzt warten wir mal die Ermittlungen der Polizei ab”, dichten “Bild”-Mitarbeiter Dinge dazu, die ihre Story stärker machen. Beim “Sex-Mob” waren es “900 größtenteils betrunkene Flüchtlinge”, die “nach BILD-Informationen” zur “Freßgass'” gezogen seien, und der Begriff “Sex-Mob” selbst, den die Redaktion als Teil der Überschrift gewählt hatte. Bei der Faschingsparty in Geislingen sind es das falsche Gerücht, dass es bei der Auseinandersetzung um eine Frau ging, und wahrscheinlich auch eine Aussage, die laut dem Aussagenden nicht von ihm stammt.
Seinem Team sagte Julian Reichelt im Facebook-Video noch: “Check your facts!” Gut wäre auch: “Don’t be so sensationsgeil!”
Für “Bild” ist Umweltministerin Barbara Hendricks heute “VERLIERER” des Tages, aber nicht wegen irgendeines gescheiterten Klimagesetzes oder eines feinstaubschleudernden Dienstwagens, sondern wegen Fisch (beziehungsweise keinem Fisch):
Nun könnte man erstmal einwenden, dass Katholiken am Freitag nicht Fischkonsum, sondern Fleischverzicht vorgeschrieben ist. Fisch dient vielen “gläubigen Christen” dann einfach als Fleischersatz. (Wo wir gerade bei den Gewinnern und Verlierern und kleinen Ungenauigkeiten sind, liebe “Bild”-Mitarbeiter: Eure Gewinnerin des Tages, Cressida Dick, habt ihr zehn Jahrezu jung gemacht.)
Die “Bild”-Kritik an Hendricks ist darüber hinaus aber auch noch ganz grundsätzlich falsch: Die Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums, ob nun Katholiken oder nicht, können heute durchaus Fisch essen. Sowohl in der Kantine des Ministeriums in Bonn …
Den Schweinebraten und die Jägerpfanne, die “Bild” erwähnt, gibt es im “Betriebsrestaurant Krausenstraße” (gerade mal acht Gehminuten vom Axel-Springer-Hochchaus entfernt — dürfte also eine recht kurze Recherche gewesen sein). Dort gibt es tatsächlich auch keinen Fisch. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die offizielle Kantine des Umweltministeriums in Berlin. Die liegt in der Stresemannstraße. Mit Fisch auf dem Speiseplan.
Das Thema “Essen im Umweltministerium” treibt “Bild” schon seit einigen Tagen um. Es fing alles am vergangenen Samstag an. Da titelte das Blatt auf Seite 1:
Das dürfte vielen Gästen im Umweltministerium (BMUB) gar nicht schmecken: Ministerin Barbara Hendricks (64, SPD) verbannt Fisch und Fleisch vom Speiseplan!
In einer E-Mail an die Abteilungsleiter (liegt BILD vor), verschickt durch ihren Staatssekretär Jochen Flasbarth (54), heißt es: “Dienstleister/Caterer, die Veranstaltungen des BMUB beliefern, (…) verwenden weder Fisch oder Fischprodukte noch Fleisch oder aus Fleisch hergestellte Produkte.”
Das Thema eignete sich natürlich bestens für einen Kommentar. Und in dem legte Solms-Laubach (unter anderem bekannt durch die falschen 30 Prozent Polygamisten unter arabischstämmigen Männern in Berlin) so richtig los:
Die Umweltministerin hat für Gäste ihres Ministeriums ein Fleisch- und Fischverbot verhängt. Im Sinne einer Vorbildfunktion, wie sie mitteilen lässt.
Doch das Verbot ist in Wirklichkeit reine Bevormundung. Barbara Hendricks sagt, was gegessen wird — und was nicht. Als ob andere zu blöd dafür sind, das selbst zu entscheiden…
Was für eine Anmaßung!
Mit ihren neuen Speiseplan-Regeln liefert Hendricks ein weiteres Beispiel für die unnötige Gängelungswut von Politikern. Mit der Ernährung sollte es jeder halten wie mit der Religion: Sie ist Privatsache.
Schließlich käme auch niemand auf die Idee, der Umweltministerin vorzuschreiben, den ganzen Tag nur Fleisch zu essen.
Der Vergleich am Ende hinkt allein schon deswegen wie ein angeschossenes Suppenhuhn, weil die neue Regelung im Umweltministerium nur für offizielle Veranstaltungen gilt, nicht aber für das wochentägliche Essen in den Kantinen, wie “Bild” ja auch inzwischen rausgefunden hat. Solms-Laubach schreibt zwar nur von den “Gästen ihres Ministeriums”, so richtig klar arbeitet er diese Einschränkung allerdings nicht raus: Es gibt und gab im Umweltministerium für Mitarbeiter und Gäste von Montag bis Freitag Fisch und Fleisch. Lediglich bei Fachtagungen oder Pressekonferenzen soll nur vegetarisches Essen serviert werden — was man dann auch nicht mehr als große “Anmaßung” oder “Bevormundung” oder “Gängelungswut” bezeichnen kann, sonst wäre ja jeder Gastgeber bei jeder Veranstaltung mit festem Speiseplan ein anmaßender Bevormunder mit Gängelungswut.
Am vergangenen Montag gab es dann doch noch eine kleine Einordnung durch “Bild”:
Bei Bild.de ist der Text etwas länger. Diesen Platz nutzt Franz Solms-Laubach aber nicht etwa, um seine Aussagen vom Samstag zu revidieren, sondern um seine leicht missverständliche Einschätzung auf angebliche Kuriositäten im Ministerium zu schieben:
Der Veggie-Zwang für Gäste des Bundesumweltministeriums (BMUB) treibt immer kuriosere Stilblüten! Während Besucher nach dem Fisch- und Fleischverbot vegetarisch darben müssen, dürfen die Mitarbeiter der Kantine weiter Schweinebraten, Fischfilet und Co. essen.
Natürlich dürfen nicht nur “die Mitarbeiter der Kantine weiter Schweinebraten, Fischfilet und Co. essen”, sondern alle Mitarbeiter in der Kantine. Aber lassen wir das.
In der Zwischenzeit haben weitere Medien das vermeintliche Aufregerthema aufgegriffen. Manche von ihnen haben erwähnt, dass es in der Kantine noch immer Fisch und Fleisch gibt. Andere haben noch heftiger zugespitzt. tag24.de zum Beispiel:
Jetzt ist er da, der Veggie-Zwang! Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (64, SPD) will weder Fisch noch Fleisch in ihrem Haus. Seit Anfang Februar wird Gästen des Ministeriums deshalb nur noch vegetarisches serviert.
Doch zurück zu “Bild”: In ihrer großen Transparenz- und Fehlerkultur-Offensive haben Chefredakteurin Tanit Koch und Chefredakteur-Chef Julian Reichelt neulich verkündet:
Wir werden ein zusätzliches Team schaffen, das besonders sensible Geschichten aus Bereichen, in denen häufig “Fake News” kursieren, über unsere normalen Prozesse hinaus noch ein weiteres Mal prüft und mit anderen vorhandenen Quellen abgleicht.
Fürs Erste würde es ja schon reichen, wenn sie Leute ranholen, die in der Lage sind, Speisepläne zu lesen.
Nachtrag, 25. Februar: “Bild” hat in der heutigen Ausgabe auf Seite 2 eine Korrektur veröffentlicht, durch die noch einmal deutlich wird, wie piefig die Ausgangsmeldung von gestern war: