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“‘Richter Gnadenlos’ spricht Klartext”

Dies ist die Geschichte, wie “Bild” den umstrittenen Hamburger Amtsrichter Ronald Schill zum Hoffnungsträger hochschrieb, der mit seiner Partei bei der Bürgerschaftswahl 2001 schließlich fast 20 Prozent der Stimmen bekam. Und es ist die Geschichte von der außerordentlichen Nähe eines “Bild”-Redakteurs zu Schill und seinen Leuten.

Ungefähr ab 1996 taucht Ronald Schill in den Medien auf. Seine Urteile sind spektakulär — vor allem, weil sie so hart sind, dass die Staatsanwaltschaft immer wieder Berufung zugunsten der Angeklagten einlegt. Für Aufsehen sorgt vor allem, als er eine psychisch labile Frau, die zehn Autos zerkratzt hat, zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. “Bild” berichtet zunächst relativ distanziert und unparteiisch.

1997 ist die Sympathie unverkennbar. “Urteilen deutsche Richter zu milde?”, fragt “Bild” am 22. August und erwähnt Ronald Schill als positives Gegenbeispiel. Vier Tage später lautet die rhetorische Frage von “Bild” schon: “Richter Gnadenlos — brauchen wir mehr von seiner Sorte?”

Redakteur Matthias S. wird offenbar von 1999 an langsam zum Schill-Beauftragten von “Bild”. “Der harte Richter Schill — Was ist das eigentlich für ein Mann?” fragt er am 21. Mai. Anlass ist, dass Schill einen nicht vorbestraften Pflegehelfer zu 15 Monaten Haft verurteilt, der mit 20 anderen “Linksautonomen” die Herausgabe eines Ausweises von zwei Polizisten gefordert hat. “Bild” berichtet zwar ausführlich über die Kritik an diesem Urteil, schreibt aber auch: “In der Bevölkerung ist Schill dagegen beliebt” und zitiert drei Bürger, die glücklich sind über das Durchgreifen gegenüber den “Chaoten” und “Krawallbrüdern”.

Ein typischer Schill-Gerichts-Bericht in “Bild” liest sich so wie dieser Artikel von Matthias S. und einer Kollegin vom 11. Juni 1999:

Der Staatsanwalt forderte zwei Jahre mit Bewährung, der Angeklagte atmete auf. Auf soviel Milde hatte Klaus B. (23) aus Dulsberg nicht zu hoffen gewagt. Schwere Brandstiftung — kein Kavaliersdelikt, seit fünf Monaten sitzt der Soldat in U-Haft. Aber mit seiner Entlassung wurde es trotzdem nichts. Denn das letzte Wort hat nicht der Staatsanwalt, sondern der Richter.

Und der hieß in diesem Fall Ronald Schill (40).

Schills Urteil: vier Jahre Haft — mehr darf ein Amtsrichter nicht verhängen.

Ein Jahr später — der Richter ist inzwischen versetzt worden — berichtet Matthias S. in “Bild” über Schills Pläne, eine eigene Partei zu gründen. Sein Programm fasst “Bild” so zusammen:

Mehr Sicherheit für alle, weg mit der Arroganz der Macht. Schluss mit der autofeindlichen Politik, her mit dem Transrapid, selbst wenn Hamburg dafür zwei Milliarden lockermachen muß. Dafür Verzicht auf die Straßenbahn und neue Gefängnisse.

Wenige Tage nach der Parteigründung erklärt Schill in “Bild”, in Hamburg herrschten “Zustände wie in Palermo oder im Chicago der 20er Jahre” und “Ganz Europa lacht über die Zustände in dieser Stadt”. Die Zeitung wertet das so: “‘Richter Gnadenlos’ spricht in BILD-Hamburg Klartext”.

“Bild” steht ihm treu zur Seite, auch als die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Schill erhebt:

Rechtsbeugung? Freiheitsberaubung? Da gibt es einen, der die öffentliche Ordnung wiederherstellen wollte. Richter Ronald Schill.

Und “Bild”-Redakteur Christian Kersting kommentiert einen Tag später:

Schill trifft mit seiner Kritik an Hamburgs Innen-, Justizund Ausländerpolitik den Nerv vieler Bürger. Ihn deshalb in die rechte Ecke zu stellen wäre zu billig. (…)

In der Bevölkerung wächst das Unverständnis darüber, dass vor den Gerichten die Täter häufig mehr Verständnis finden als die Opfer. Vor allem, wenn es um Jungkriminelle geht.

In der Bevölkerungwächst das Unverständnis darüber, dass ausländische Verbrecher ihre Händel immer öfter auf offener Straße mit Waffengewalt austragen. Die Polizei scheint machtlos.

Richter Schill spricht diese Sorgen der Menschen an, verspricht Abhilfe.

Am 1. Juli 2001, knapp drei Monate vor der Wahl, stellt Matthias S. in “Bild” vier “Sympathisanten” Schills vor, allesamt offenbar ehrenwerte Männer, die Sätze sagen wie der Kaufmann Franz-Joseph Underberg: “Wir wollen ein CSU-Programm in Hamburg, ohne Rechtsradikale anzusprechen.”

Die nächsten Monate sind keine guten für Schill und seine neue Partei — und auch in “Bild” finden sich ausführliche Berichte zum Beispiel über den Prozess gegen ihn, an dessen Ende er wegen Rechtsbeugung zu 12.000 Mark Strafe verurteilt wird — ein Urteil, das allerdings noch nicht rechtskräftig ist. Aber schon unmittelbar danach ist der Parteichef für “Bild” wieder glaubwürdiger Zeuge und Experte für Kriminalität und diverse andere Themen und kommt regelmäßig zu Wort. In “Bild” wirkt sein Populismus wie die Stimme der Vernunft.

Als sich im Juni 2001 abzeichnet, dass der Bundesgerichtshof das Urteil gegen Ronald Schill kippen wird, feiert “Bild”-Redakteur Matthias S.:

Richter Schill triumphiert über Hamburger Justiz

Rechtsbeugung? Generalbundesanwalt fordert Freispruch! Amtsrichter Ronald Schill steht vor seinem bisher größten Sieg. Seine Verurteilung wegen Rechtsbeugung (120 Tagessätze a 100 Mark) wird beim Bundesgerichtshof mit Pauken und Trompeten durchfallen. (…) Ein vernichtenderes Urteil hätte es für Hamburgs Justiz kaum setzen können.

Im Rahmen einer Serie “Hamburger Spitzen-Kandidaten privat” besucht Matthias S. den Kandidaten Schill zuhause:

(…) Ein häuslicher Typ war er eigentlich nie. Immer auf Achse. Früher im Gericht und in der Stadt. Nun der Wahlkampfstress. “Das ist auch finanziell ein Problem”, gibt er offen zu. “Seit Mai lebe ich von meinen Ersparnissen, habe unbezahlten Urlaub genommen. Die Miete zahlt Katrin.” In die Stadt fährt er meistens per U-Bahn, manchmal auf mit seinem 20 Jahre alten Matra-Simca. Einkaufen geht er bei Aldi.

Kochen allerdings ist nicht sein Ding. “Ich gab ihm einmal eine Kartoffel zum Schälen”, sagt Katrin Freund. “Das war ein Fiasko.” Also brutzelt sie für ihn, am liebsten Paella. Leibgetränk ist für den Ur- Hamburger (kam im UKE zur Welt) ein kühles Bier. (…)

“Gerne”, sagt er, “wäre ich Strafrichter geblieben. Politik hielt ich immer für ein schmutziges Geschäft.”

Warum gründete er dann eine Partei?

“Weil die Zustände in der Stadt so schlimm wurden.”

Ist er ein Selbstdarsteller?

“Ganz und gar nicht. Ich könnte mir vorstellen, mich wieder aus der Politik zurückzuziehen, sobald die Stadt wieder sicher ist.”

Als Schill dann auf Anhieb sensationelle knapp 20 Prozent der Stimmen bekommt, erklärt Matthias S. den Erfolg in “Bild” so:

Die Würde seines Amtes und seine klare Sprache über die Zustände der Stadt haben in der Stadt den Nerv getroffen.

(…) Braun gebrannt, schlank, Frauentyp – und Kämpfer. Er geht zur CDU, bietet Zusammenarbeit an, redet mit der STATT-Partei. Sie alle winken ab. Schill hat glasklare Vorstellungen und will sie durchsetzen. (…)

Und Schill legt sich mit seinen Gegnern an. Er zieht vor den BGH, als man ihn in Hamburg wegen Rechtsbeugung verurteilt, und erreicht die Aufhebung des Urteils. Er wettert gebetsmühlenartig gegen Rot-Grün, die Kriminalität, gegen die der Senat nichts tut. Und wird auf grausame Weise durch die Terroranschläge [vom 11. September] bestätigt. Plötzlich wird Hamburg zur Drehscheibe des Weltterrorismus.

Gestern um 14 Uhr im Wahllokal umringen ihn 30 Fotografen. Auch die, die ihn anfangs als Spinner verlachten.

Schon am nächsten Tag meldet “Bild” voreilig: “Bürgerblock steht” — damit ist die von “Bild” Hamburg angestrebte Koalition aus CDU, FDP und Schill-Partei gemeint. Die Zeitung kann es nicht erwarten, dass der Rechtspopulist endlich an die Macht kommt. Drei Tage nach der Wahl fragt Matthias S. in “Bild”:

Warum verzögert die FDP den Senatswechsel?

Während ganz Hamburg auf den Wachwechsel im Rathaus wartet, wollen sich die Liberalen mit der Regierungsbildung richtig Zeit lassen — Schnecken-Tempo bei FDP-Chef Rudolf Lang(e)sam! (…)

Die “innere Wahrheit”, so vermuten informierte Rathaus-Kreise, geht so: Die Polit-Neulinge aus der FDP haben Angst, von den CDU-Profis und Schill überfahren zu werden.

Am folgenden Tag legt “Bild” nach. Weil der FDP-Chef erklärt, Schill sei als Senator “nicht tragbar”, falls er rechtskräftig wegen Rechtsbeugung verurteilt werde, staunen Matthias S. und Christian Kersting:

Nanu! FDP rückt von Schill ab (…)

Erst verzögert FDP-Chef Lange die Koalitionsverhandlungen (BILD von gestern). Jetzt rückt er auch noch von seinem neuen Partner Schill ab und stellt Forderungen. Was spielt Lange da für ein Spiel?

Es kommt schließlich zur Koalition, Schill wird Minister, und “Bild” feiert schon zwei Monate später den “ersten großen Erfolg für Innensenator Ronald Schill”: “20 Polizisten als Soforthilfe!”, leihweise aus Bayern.

Als Anfang 2002 die Drogen-Gerüchte um Schill nicht verstummen wollen, ist die Interpretation von “Bild” unmissverständlich — fast möchte man sagen: vorbildlich, angesichts der sonst üblichen Vorverurteilungen durch “Bild”. “Bild”-Redakteur Matthias S. und eine Kollegin schreiben:

Was läuft da für ein schmutziges Spiel um Ronald Schill? Der ehemalige Justizsenator und jetzige Bundesverfassungsrichter Prof. Wolfgang Hoffmann-Riem hat den Innensenator in einem offenen Brief dazu aufgefordert, sich öffentlich zu Kokain-Vorwürfen zu äußern. Schill erklärte daraufhin ganz klar: “Ich habe niemals Kokain genommen.”

Der schmutzige Spieler scheint für “Bild” der Bundesverfassungsrichter zu sein.

Es folgt die inzwischen berüchtigte Episode mit Schills Drogentest, dessen Ergebnis “Bild” zu einem Beweis dafür verfälscht, dass der Richter “nie” Drogen genommen habe (BILDblog berichtete). Konsequenterweise beginnt die Zeitung nun eine Kampagne gegen Schills Kritiker. Autor fast all dieser Artikel: Matthias S.

Ende 2002 nimmt die Geschichte eine interessante Wendung. Die “Hamburger Morgenpost” berichtet, dass die Ehefrau von Matthias S. unerwartet eine Stelle in der Hamburger Justizbehörde bekommen habe — obwohl sie nicht über die nötigen Erfahrungen verfüge. CDU-Justizminister Roger Kusch habe sogar ihre Ernennung zur Richterin vorgeschlagen, was der Richterwahlausschuss ablehnte: Sie werde den Anforderungen offenkundig nicht gerecht. Die “taz” titelt: “Gefälligkeitsdeal für wohlgesonnenen ‘Bild’-Reporter”. Die SPD behauptet, beweisen zu können, dass Frau S. die Stelle nach einer Absprache zwischen ihrem Mann und dem Justizsenator bekommen hat. Der “Bild”-Redakteur habe sich in einer Mail an den Justizsenator darüber beschwert, dass sich das Bewerbungsverfahren so lange hinziehe, obwohl längst abgemacht sei, dass seine Frau die Stelle bekommen sollte.

“BILD berichtet nicht über üble Gerüchte”

“taz”-Interview mit dem “Bild”-Lokalchef Peter Huth, 11. Januar 2003:

(…) Warum hat die BILD [über die Vorwürfe gegen S. und den CDU-Senator] bis heute nicht berichtet?
BILD berichtet über Fakten und nicht über üble Gerüchte und böswillige Unterstellungen. Für uns gilt als erwiesen, dass die Unterstellungen gegen unseren Reporter haltlos sind.

Beim Thema Filz in Hamburg hat BILD an anderer Stelle sehr ausführlich und wiederholt berichtet. Jetzt halten Sie sich auffallend zurück. Worin liegt der Unterschied zu dem aktuellen Fall?
Noch einmal: Man kann nur über Filz berichten, wo es Filz gibt. Im vorliegenden Fall kann davon keine Rede sein.

Die Nähe des Reporters [Matthias S.] zu Mitgliedern dieses Senats ist unter den Rathausjournalisten seit längerem ein Thema. Er soll ja auch mal als Pressesprecher der Schill-Partei im Gespräch gewesen sein. Wie beurteilen Sie diese journalistische Nähe?
BILD-Reporter verfügen im allgemeinen über ausgezeichnete Kontakte zu Politikern aller Couleur. Dass dieses Vertrauensverhältnis von vielen Kollegen neidisch begutachtet wird, ist uns nicht neu.

Wie würden Sie das Verhältnis der BILD-Zeitung zu diesem Senat beschreiben?
Das Verhältnis von BILD zum Senat ergibt sich — wie bei jeder guten Zeitung — aus der Verpflichtung gegenüber dem Leser. BILD berichtet sorgfältig, unabhängig und wahrheitsgemäß über die Geschehnisse im Rathaus — egal, wer und welche Partei dort regiert.

Hat sich BILD aus rein journalistischer Sicht über den Regierungswechsel in Hamburg gefreut?
Der Regierungswechsel ist das Ergebnis einer freien Wahl der Hamburger Bürger. Es wäre mehr als zynisch, diesen aufgrund von journalistischen Kriterien zu bewerten.

Die “Bild”-Zeitung berichtet zunächst gar nicht über die Vorwürfe gegen ihren Redakteur (siehe Kasten). Als sie es endlich doch tut, lautet die Überschrift: “Kusch räumt mit Filzvorwürfen auf”.

Der Fall S. wird einer der Anlässe, einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss “Schwarzer Filz” einzuberufen. Und seine engen Beziehungen zum Senat und der Schill-Partei zeigen sich laut “taz” auch an anderer Stelle: Er zitiert in “Bild” aus internen Ermittlungsakten gegen einen SPD-Sprecher, bevor dessen Anwalt sie überhaupt zu sehen bekommt. Der Staatsrat und Schill-Freund Walter Wellinghausen, der für die Ermittlungen zuständig ist und später wegen mehrere Affären zurücktreten muss, räumt schließlich ein, mit Matthias S. über das Thema gesprochen zu haben — die Opposition spricht von “Geheimnisverrat”.

Zum Verhängnis wird Matthias S. schließlich ein Wochenendtrip mit Peter Rehaag, dem Umweltsenator der Schill-Partei. Gemeinsam mit ihren Begleiterinnen fliegen sie im September 2003 nach Italien. “Als Spezialist in Sachen Schill hatte [Matthias S.] in der ‘Bild’ zuvor regelmäßig wohlwollend über Rehaag berichtet”, schreibt der “Spiegel”, “etwa über dessen heroischen Kampf zur Trockenlegung versumpfter Alsterwiesen oder über Rehaags Drogenpolitik.” Gut zwei Wochen, nachdem die “taz” den gemeinsamen Ausflug öffentlich gemacht hatte, stellt Springer Matthias S. “mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres von seiner Arbeit frei”. Er habe seine Vorgesetzten nicht über die Reise informiert — was den “journalistischen Leitlinien” des Verlages widerspreche.

Matthias S. bleibt nicht lange arbeitslos. Schon im Frühjahr 2004 taucht sein Name wieder in den Zeitungen auf: als Sprecher von Firmen von Ulrich Marseille. Marseille, der den gleichnamigen Klinikkonzern gründete, war 2002 Spitzenkandidat der Schill-Partei in Sachsen-Anhalt. 2003 flog Ronald Schill in seinem Privatflugzeug nach München, um seine Haarprobe für den Drogentest abzugeben.

“Bild” macht den Koch zum Gärtner

Die Menschen in Hessen haben sich verwählt.

Die Folgen der Landtagswahl, des Stimmengewinns für die SPD und des Einbruchs für die CDU, für die Wirtschaft und den Wohlstand werden verheerend sein, da sind sich ausnahmslos alle Experten einig. Also, alle Experten, die in “Bild” zum Thema Wort kommen:

  • Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fürchtet eine “gefährliche Politik”, die “dauerhaft nicht zu mehr Wohlstand führt”, “negative Folgen für die Verbraucher” und “weiter steigende Energiepreise”,
  • Michael Heise, Chefsvolkswirt der Allianz, erwartet, dass es Arbeitslose “noch schwerer haben werden, Jobs zu finden”,
  • Anton Börner, Präsident des Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels, geht davon aus, dass sich ausländische Firmen “mit Investitionen in Deutschland stärker zurückhalten” werden,
  • und Jürgen Thumann, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ist schlicht in “allergrößter Sorge”.

Es geht nun, kurz gesagt, alles den Bach runter, weil nicht genug Menschen die CDU gewählt haben.

Wahlempfehlungen

Als Wolfgang Clement sich gegen die Wahl der SPD aussprach, urteilte “Bild”-Autor Hugo Müller-Vogg (der seinen 60. Geburtstag mit Koch feierte) über Clement: “Ihm ist das Land wichtiger als die Partei.”

Und als die CDU in den Meinungsumfragen abrutschte, erklärte Müller-Vogg, dass wer SPD wähle, quasi automatisch die Linke an die Macht bringe: “Für die SPD geht’s nur mit Links.”

Eine Art Doppelpass spielte die hessische CDU mit “Bild” mit dem Berliner Staatsanwalt Roman Reusch. Nachdem “Bild” den Mann, der im vergangenen Jahr nach einem Disziplinarverfahren “ermahnt” wurde, als “Deutschlands mutigsten Staatsanwalt” bezeichnet hatte, wollte der hessische Justizminister ihn in eine “länderübergreifende Expertengruppe” holen, was “Bild” mit der Traumwahlkampf-Überschrift vermeldete: “Hessen holt Deutschlands mutigsten Staatsanwalt.”

Womöglich hat sich auch nur der Ehrgeiz der “Bild”-Zeitung in Grenzen gehalten, andere Stimmen zu finden. Schon vor der Wahl stand sie treu an der Seite von CDU-Ministerpräsident Roland Koch (siehe Kasten). Und “Bild” war (wie mehrfach berichtet) Kochs Medienpartner bei seiner spektakulären Kampagne gegen Ausländer in den vergangenen Wochen. Insofern ist das Debakel für Roland Koch auch eine Niederlage für die “Bild”-Zeitung. “Spiegel Online” kommentiert es so:

Koch konnte mit seinen xenophoben Attacken niemanden mobilisieren außer seinen Kellner in Springers Boulevard.

Wenn “Bild”-Kommentator Jörg Quoos heute den Absturz Kochs erklären muss, muss er also indirekt erklären, warum die “Bild”-Kampagne so wenig gegriffen hat. Ein Fehler war sie natürlich nicht, deshalb kann auch Koch nichts falsch gemacht haben, und Quoos analysiert:

(…) Die Bürger haben es einfach gespürt: Roland Koch war schon lange vor der harten Wahlschlacht der letzte CDU-Kämpfer für die Werte, die die Partei groß gemacht haben. Streitlustig, unerschütterlich, aber ohne echte Deckung.

Im Reservat für Konservative reitet er wie der einsame Sheriff Richtung Sonnenuntergang. Am Ende hat der Wähler Roland Koch nicht mehr abgenommen, dass er allein die CDU auf altem Kurs halten kann.

Das schlechte Abschneiden in Hessen ist der Preis für das populistische Streben der CDU-Führung Richtung links, weg von der Mitte. (…)

Die Menschen haben Roland Koch nicht gewählt, weil sie genau seiner Meinung sind? Sie wollten ihm, der für den richtigen, rechten Kurs stand, keine Stimme geben, weil die anderen in der CDU längst auf einem anderen, linken Kurs sind?

Die Argumentation dehnt die Grenzen der Logik, aber vermutlich funktioniert sie auch, um zu erklären, warum die “Bild”-Zeitung seit Jahren alles richtig macht und trotzdem immer seltener gekauft wird.

Von Äpfeln und Birnen, Türken und Deutschen

Die Sprache, in der die “Bild”-Zeitung sich dem Thema Ausländerkriminalität widmet, liest sich inzwischen so:

Der deutsche Steuerzahler blecht dafür, dass brutale Ausländer in Deutschland sicher leben können, muss aber damit rechnen, von ihnen verprügelt zu werden!

Seit über zwei Wochen fährt “Bild” eine immer schrillere Kampagne, die keine Rücksicht auf Verluste nimmt und einen Eindruck von explodierender Ausländergewalt erweckt, der mit der Realität wenig zu tun hat. Christian Pfeiffer, einer der renommiertesten deutschen Experten zum Thema Jugend- und Ausländerkriminalität, sagt, er habe eine Kampagne von solcher Intensität noch nicht erlebt und nennt sie “massiv gefährlich”.

Im BILDblog-Interview warnt er davor, falsche Schlussfolgerungen aus den Statistiken zu ziehen, plädiert aber auch für eine offene Diskussion zum Beispiel über innerfamiliäre Gewalt in türkischen Familien.

  

“BILD lässt Vorurteile wachsen”

Prof. Christian Pfeiffer (63) ist einer der meistzitierten Forscher Deutschlands. Er studierte Jura, Sozialwissenschaften und Kriminologie und promovierte zum Thema “Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren”. In den siebziger Jahren engagierte er sich als ehrenamtlicher Bewährungshelfer und gründete den Verein “Brücke”, der in einem preisgekrönten Modellversuch neue Maßnahmen bei der Betreuung straffälliger Jugendlicher erprobte.

Seit 1988 ist er Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), das regelmäßig Studien zu verschiedensten Aspekten von Kriminalität veröffentlicht. Im Zuge der aktuellen Debatte über Jugendkriminalität hat Pfeiffer, der SPD-Mitglied ist und von 2000 bis 2003 Justizminister in Niedersachsen war, in den letzten Wochen nach eigenen Angaben über 100 Interviews gegeben.

“Bild” schrieb in der vergangenen Woche: “Deutschland diskutiert über Jugendkriminalität, die immer häufiger von jungen Ausländern ausgeht.” Stimmt das?

Nein, genau das Gegenteil ist richtig: Der Anteil von Ausländern ist — insbesondere in Hessen — stark rückläufig.

In der Bundesrepublik ist der Anteil der nichtdeutschen Täter bei der Gewaltkriminalität ebenso wie bei den gefährlichen und schweren Körperverletzungen seit 1999 zurückgegangen. Das gilt im Übrigen auch, wenn wir die Gesamtkriminalität betrachten: Vor zehn Jahren hatten wir noch eine Quote bei ausländischen Tatverdächtigen von 27 Prozent und sind inzwischen bei 19 Prozent angekommen.

In den letzten Wochen, in denen fast jeden Tag ein neuer Fall von Gewalt durch die Presse ging, verwendete “Bild” die Begriffe “Jugendkriminalität” und “Ausländerkriminalität” nahezu synonym. Gibt es plötzlich mehr Gewalt?

Ausgangspunkt war natürlich die grässliche Geschichte aus München, wo ein älterer Herr brutal von zwei Migranten zusammengeschlagen wurde. Wenn man will, kann man natürlich in jeder Stadt Beispiele dafür finden, dass Migranten zuschlagen — was selbstverständlich ist angesichts ihres hohen Anteils an der Bevölkerungsquote. Man könnte sich auch genauso auf Berichte über deutsche Schläger beschränken oder sich auf Rechtsradikale konzentrieren. Die Auswahl wäre da groß, und von daher ist es eine sehr einseitige, subjektive Wahrnehmung, die die Darstellung in “Bild” prägt.

Finden Sie es gut, dass es die Themen Jugendkriminalität und auch Migrantenkriminalität, die ja zweifellos vorhanden ist, auf die Tagesordnung geschafft haben?

Ich finde es im Prinzip richtig, dass wir manche Tabus nicht mehr einhalten und offen darüber diskutieren, wie häufig es beispielsweise vorkommt, dass türkische Kinder oder Frauen von ihren Vätern bzw. Männern geschlagen werden.

Wir haben ja unterschiedliche Rahmenbedingungen, die zur Gewaltbereitschaft beitragen: Bei türkischen Jugendlichen messen wir beispielsweise die dreifache Rate von Mehrfachtätern bei Gewalt wie bei deutschen. Aber das vergleicht eben Äpfel und Birnen: Diese 4,1 Prozent der Deutschen und 13,2 Prozent bei den Türken bedeuten ja nicht, dass die Türken gewalttätiger sind, sondern nur, dass sie häufiger in Familien und sozialen Lagen und Lebensumständen aufwachsen, die kriminalitätsfördernd sind.

Wir haben eine Studie (PDF) erstellt, in der wir nicht Äpfel mit Birnen, sondern Türken mit Deutschen vergleichen, die in der selben sozialen Lage sind: also nur Realschüler, keine innerfamiliäre Gewalt, normales Einkommen. Da zeigt sich, dass die Gewaltrate identisch ist: Bei beiden haben um die 12 Prozent angegeben, im Jahr zuvor jemanden verprügelt oder mit Gewalt jemandem etwas weggenommen zu haben. Und wenn wir nach der Intensivtäterrate fragen, also nach Leuten, die mindestens fünf Gewalttaten begangen hatten, liegen die Unterschiede zwischen 1,9 Prozent bei den Türken und 1,7 Prozent bei den Deutschen. Damit zeigt sich: Es macht überhaupt keinen Sinn, hier das Thema Ausländer in den Mittelpunkt zu rücken, es geht um die Unterschicht.

Bestimmte Faktoren treten in der Unterschicht häufiger auf als bei Kindern aus der Mittelschicht: Familiäre Gewalt, die ein normales Aufwachsen sehr, sehr erschwert, Armut oder die Tatsache, dass sich Geschwister ein Zimmer teilen müssen und sich dann beispielsweise gegenseitig bei den Schularbeiten stören. Das sind alles Rahmenbedingungen, die bei Ausländern stärker vorhanden sind als bei den Deutschen — und das ist der wirkliche Hintergrund der ganzen Debatte.

Wir konnten zeigen: In Hannover, wo die Realschule die zentrale Schule ist und immer mehr Türken das Gymnasium besuchen, ist die Jugendgewalt dieser Gruppe seit 1999 von 32 auf 22 Prozent gesunken. In München hingegen, wo die Gymnasialquote der jungen Türken seit 1999 rückläufig ist, wo die Mehrheit immer noch zur Hauptschule geht, ist sie von 27 auf 31 Prozent gestiegen. Da sieht man wieder: Es hat mit den Türken nichts zu tun, sondern mit den Rahmenbedingungen ihres Aufwachsens.

“Bild” setzt ja Berichte über Jugendkriminalität immer vor den Hintergrund der Ausländer. Inwiefern verändert die Berichterstattung die Wahrnehmung der Realität?

Die Berichterstattung trägt natürlich dazu bei, die Vorurteile gegenüber Ausländern zu erhöhen. Wir machen in regelmäßigen Abständen Umfragen, bei denen wir die Leute schätzen lassen, wie hoch der Anteil der Ausländer an der Kriminalität im Vorjahr war. Bisher lagen die Schätzungen immer bei 35, 36 Prozent — und damit höher als die tatsächliche Quote von rund 20 Prozent. Wir haben noch keine aktuelle Untersuchung gemacht, aber ich vermute, die Schätzungen könnten diesmal bei 50 Prozent liegen.

Haben Sie eine solche Kampagne wie von “Bild” im Moment schon einmal erlebt?

Nein, das ist in dieser Intensität schon neu. Bisher galten da noch Tabugrenzen. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir über die hohe innerfamiliäre Gewalt in türkischen Familien reden müssen. Die ist zwar schon weniger geworden, aber immer noch unerträglich. Ich finde es richtig, darüber zu sprechen und damit vielleicht auch Tabus zu brechen, nur: Man muss aufpassen, dass man nicht von einer Nationalität, einer ethnischen Gruppe schreibt, sie werde immer “böser” als andere bleiben. Man muss den Wandlungsprozess hervorheben, den es beim Umstieg von einer Kultur in eine andere immer gibt.

Die Macho-Kultur der Türken war beispielsweise notwendig und funktional in einem Land, in dem der Rechtsstaat nicht zu spüren ist und wo die Familien auf sich allein gestellt sind, wenn sie sich wehren wollen gegenüber marodierenden Banden. Da braucht man bewaffnete Männer, die zusammenhalten, die eine Kultur der Ehre haben, die untereinander bestimmte Regeln einhalten. Was wir als Macho-Kultur kennen, war dort gewissermaßen lebenserhaltend, aber sie wird lächerlich und problematisch, wenn die Menschen übersiedeln in einen Staat, in dem die Polizei verlässlich kommt, in dem die Richter nicht bestechlich sind, in dem man keine eigene Gewalt braucht, weil der Staat einen schützt. Das zu lernen, ist schwer und geht nicht von heute auf morgen: Wenn der Großvater noch ein Kämpfer für die Rechte der Familie gewesen ist, dann ist der Enkel noch voll Bewunderung für dessen starke Ausstrahlung und will so werden wie er. Dann braucht es eine längere Zeit, bis man sich hier entspannen kann und keine Waffe mehr im Nachtkästchen braucht. Dieser Lernprozess braucht zwei bis drei Generationen, das muss uns klar sein. In Deutschland haben wir den Frauen 1957 gestattet, ohne Einwilligung ihres Mannes einen Beruf zu ergreifen, in der Schweiz war es 1977, in der Türkei 1997 — das sind 40 Jahre Unterschied. Wir sollten ehrlich über diese Zusammenhänge sprechen und daraus kein moralisches Thema machen.

Können die Medien diesen Umstellungsprozess und die kulturellen Unterschiede der Bevölkerung richtig vermitteln?

Ja. Die Forschungsergebnisse unseres Instituts werden von Qualitätszeitungen wie “FAZ”, “Welt” oder “Süddeutsche” sehr differenziert aufgegriffen. Schwieriger ist es bestimmt in der Boulevardpresse, die stärker von Emotionen lebt, aber auch dort hat es gelegentlich gute Artikel gegeben. Selbst bei “Bild” ist es mir gelegentlich gelungen, solche Zwischentöne zu bringen — in Phasen, wo es nicht um die Solidarität mit Herrn Koch in dessen Wahlkampf geht.

Sehr spannend finde ich, wie stark sich diese Zeitung in ihrem Image und ihrem Auftreten wandelt, wenn sie politische Zwecke verfolgt: Dann kann sie ganz rigoros und einseitig werden, und man wird förmlich überrannt.

Ist es gefährlich, wenn “Bild” so massive Kampagnen fährt?

Ja, natürlich. Massiv gefährlich, weil eine solche Berichterstattung dann dazu beiträgt, dass Vorurteile wachsen und Gräben größer werden. Es erhöht soziale Spannungen unter den verschiedenen Gruppen. Von daher ist es schon ein massiver Übergriff, was “Bild” da seit zehn, vierzehn Tage macht. Ich bin mal gespannt, wann sie zur Normalität zurückkehrt. Vermutlich nach den Landtagswahlen am 27. Januar.

“Bild” ist… “niemals Türken feindlich”

In einem offenen Brief an die Leser der türkischen Tageszeitung “Hürryiet” hat “Bild”-Chef Kai Diekmann die “Bild”-Kampagne zum Thema “kriminelle Ausländer” gerechtfertigt.

Wie die “taz” berichtet, war der Anlass für Diekmanns Rechtfertigung die offenbar zunehmende Kritik türkischer Medien und Leser (auch) an der Berichterstattung von “Bild” — und ein Anruf von Ismail Erel, dem Redaktionsleiter der “Hürriyet” in Deutschland. data-lazy-src=

Mit “Ausländer- oder gar Türkenfeindlichkeit” habe das “nichts zu tun” — denn, so Diekmann mit Blick auf den Übergriff in der Münchner U-Bahn, der die Debatte auslöste:

Dass der ältere Täter Türke ist, der jüngere Grieche, ist blosser Zufall. Genauso hätten es Polen, Russen, Jugoslawen oder Kurden sein können — die Debatte wäre die gleiche gewesen.

Hauptsache Ausländer also? Die (statistisch gesehen nicht unwahrscheinliche) Möglichkeit jedenfalls, dass es genauso auch Deutsche hätten sein können, spart Diekmann in seinen Spekulationen komplett aus. Kein Wunder: Seine “Bild” berichtete ja beispielsweise über die Angriffe auf zwei junge Männer auf der Hamburger Reeperbahn und einen U-Bahn-Fahrer in Frankfurt-Heddernheim (O-Ton “Bild”: “Sieben ausländische Jugendliche schlugen einen Lokführer zusammen”), die alle beide auch von deutschen Jugendlichen (ohne Migrationshintergrund) verübt wurden, im direkten Zusammenhang mit “Ausländer-Kriminalität” und unter Überschriften wie “Kriminelle jugendliche Ausländer”.

Apropos “Ausländer”. Diekmann schreibt den “Hürriyet”-Lesern auch:

Tatsächlich stammen die relativ meisten Gewaltkriminellen beispielsweise in Berlin nicht aus türkischen, sondern arabischen Familien.

Tamam, her şey yolunda.

Mit Dank auch an David D. — und Jürgen G. fürs Türkisch!

“Bild” macht immer mehr Ausländer kriminell

"Deutschland diskutiert über Jugendkriminalität, die immer häufiger von jungen Ausländern ausgeht."


Auch bei der Gewaltkriminalität von 14- bis 21-Jährigen ist der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen: um ein Viertel.

(Man darf diese Zahlen nicht überinterpretieren: Ein Faktor, der bei dem Rückgang ausländischer Tatverdächtiger eine Rolle — von mehreren — spielen könnte, ist, dass auch die Zahl der Ausländer in Deutschland leicht zurückgegangen ist. Unstrittig ist, dass ausländische Jugendliche überproportional häufig straffällig werden.)

Die Wahl der Qual

Seit ein Münchner Rentner von zwei ausländischen Jugendlichen in der Münchner U-Bahn zusammengeschlagen wurde, fordert “Bild” Tag für Tag implizit oder explizit, oh Verzeihung: explizit, kriminelle Ausländer schnellstmöglich abzuschieben.

Aber solche sozialen Themen sind ja vielschichtig, Lösungsansätze komplex und die gesellschaftlichen Lernprozesse oft langwierig und unvorhersehbar. Da lohnt es sich, zwischendurch einmal den Lesern die Möglichkeit zu einem differenzierten Stimmungsbild zu geben. Zum Beispiel in dem Artikel mit der subtilen Überschrift “Dauer-kriminelle Ausländer ausweisen!” auf Bild.de mit diesem Online-Voting:

Und wenn es Ihnen jetzt — anders als den Bild.de-Lesern, die bislang mit überwältigender Mehrheit für “Abschieben” gestimmt haben — Probleme bereitet, sich für eine der drei Optionen zu entscheiden: Keine Sorge. Bei Bild.de, wo man sich mit sowas auskennt, ist man sich offenbar der Schwierigkeit bewusst, dass Sie ja vielleicht die Ausländer erst abschieben und dann wegschließen, zum Umerziehen wegschließen oder vor der Abschiebung umerziehen lassen möchten. Jedenfalls lässt sich im Bild.de-Voting auch für zwei oder sogar alle drei Punkte gleichzeitig stimmen:

{democracy:1}

Mit Dank an Lars K.!

Nachtrag, 5.1.2008: Inzwischen kann man auf Bild.de nur noch für einen der drei Punkte stimmen.

Konkurrenten im Kampf um den primitiveren Witz


Martin Sonneborn, 42, ist (obwohl “Bild” das noch im November behauptete) schon seit zwei Jahren nicht mehr “Titanic”-Chefredakteur, sondern Mitherausgeber. Und darüber, “wie die TITANIC einmal die Fußball-WM 2006 nach Deutschland holte”, hat er ein Buch geschrieben. Sonneborn ist Bundesvorsitzender der Partei DIE PARTEI, die vor der Bundestagswahl 2005 die Sendezeit für ihre WahlwerbeSpots bei Ebay versteigerte. Heute arbeitet er u.a. für die Satire-Rubrik von “Spiegel Online”, “Spam”, wo er auch in den Kurzfilm-Reihen “Hinterbänkler heute” und “Heimatkunde” zu sehen ist.
Auf Sonneborns Wunsch veröffentlichen wir seinen Gastbeitrag in alter Rechtschreibung.

Von Martin Sonneborn

Eins vorweg: Ich schätze Kai Diekmann und sein Blatt. Und das nicht nur, weil wir vieles gemeinsam haben. Diekmann ist Herausgeber der “Bild”-Zeitung — also nicht der neubebilderten “FAZ”, sondern der anderen –, und ich bin Mitherausgeber von “Titanic”. Auch wenn wir ständig Konkurrenten sind im Kampf um die lustigere Schlagzeile, den primitiveren Witz, so arbeiten wir doch seit Jahren erfolgreich mit “Bild” zusammen. Der Markt in Deutschland ist groß genug für zwei Satiremagazine! Und den “Focus” auch noch!

Bisher ist zum Glück kaum aufgefallen, daß wir uns mit dem Blatt des “9-cm-Mannes”, wie ihn selbst enge Freunde nicht offen nennen, perfekt die Bälle zuspielen. Als wir mit ein paar spaßigen Faxen Einfluß nahmen auf die Vergabe der Fußball-WM 2006, war “Bild” sich am nächsten Tag nicht zu schade, ein Foto von mir auf die Titelseite zu nehmen, meine Telefonnummer und die Aufforderung, doch mal anzurufen und mir die Meinung zu geigen. Von der zufällig mitgeschnittenen CD “Bild-Leser beschimpfen Titanic-Redakteure live am Telefon” wollten die Kollegen nicht mal Tantiemen! Und das, obwohl einige hundert ihrer besten Leser über sich hinaus wuchsen: “Im Rechtsstaat gehören Leute wie Sie ins KZ!”; “Man sollte Sie auswandern!”; “Vaterlandsverräter!”; “Ihnen gehört die Satire-Lizenz entzogen!”

Die Lizenz behielten wir aber und revanchierten uns u.a. mit der Erfindung des schreibenden “Bild”-Lesers (heute als “BILD-Leser-Reporter” bundesweit im Einsatz). Bei der genußintensiven Lektüre der “Bild”-Leserbriefspalte fällt ja schnell auf, daß sich die Zuschriften in ihrer Sprachgewalt nicht wesentlich vom redaktionellen Teil abheben. So riefen wir bei ausfindig gemachten Leserbriefschreibern an und baten — der Einfachheit halber gleich im Namen der “Bild”-Chefredaktion — um einen gepfefferten druckreifen Kommentar zu irgendwas für die nächste Ausgabe. Die Ergebnisse druckten wir dann in “Titanic”, sie haben uns viel Freude bereitet.

Kommentar Karl H., Münster:
Ist die SPD ein Auslaufmodell? Die SED sang die Internationale, ist weg vom Fenster. Die KPDSU sang die Internationale, ist weg vom Fenster. Wie lange singt die SPD noch die Internationale?

Na? Klingt fast wie “Post von Wagner”, was?

Immer im Gleichschritt mit “Bild” (Trittin! Schröder!) prügelten wir (Problembär Beck!) mit “Titanic”-Titeln jahrelang auf die Sozis ein, unterstützen dekadenlang erst Kohl (“Nach Arschbombe halb Asien überflutet: Massenmörder Helmut Kohl!”), dann das Merkel (“Darf das Kanzler werden?”), polemisierten gegen Ausländer (“Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?”; “10 Jahre sind genug: Auf Wiedersehen, Zonis!”) und druckten gleich seitenweise irgendwelchen unseriösen Quatsch.

In schweren Zeiten spendeten die Schlagzeilen der Hamburger Kollegen uns oftmals Trost und Rat: “Amokläufer erschießt vier Kollegen” — “Da dürften die Straßen jetzt wohl für eine Weile sicher sein”, dachten wir beruhigt und revanchierten uns gerade kürzlich mit dem großen, abgeschlossenen Fotoroman “Der Volks-Penis”, in dem ein für allemal in Wort und Bild klargestellt wird, daß Diekmann eben nicht total klein ist, untenrum.

Übrigens: Daß wir mit der “irren Titanic-PARTEI” (“Dresdner Morgenpost”) jetzt in Hamburg zur Landtagswahl antreten und mit unserem Spitzenkandidaten Heinz Strunk “Bild raus aus Hamburg!” fordern, ist nur eine populistische Forderung, die uns Stimmen bringen soll. Man wird das hoffentlich nicht persönlich nehmen — ich habe das Gefühl, was den Umzug anbetrifft, verstehen sie bei Springers einen guten Spaß. Und wenn nicht? Egal, notfalls gewinnen wir — und das unterscheidet uns vom Spitzenkandidaten der SPD, Alfred E. Naumann — die Wahl eben auch ohne Unterstützung der Springer-Presse!

Zum Schluß möchte ich aber auch eine kurze Kritik äußern, schließlich habe ich mir heute extra “Bild” gekauft und unter — ich nehme mir die Freiheit, Kai — Freunden muß das erlaubt sein: Für meinen Geschmack heben sich manchmal die Überschriften zu wenig vom Text der Fickanzeigen hinten ab:

Ich hab mir meinen Hund auf die Brust tätowiert. Sandy (21) — Mein Arsch gehört Dir. Resi (69) ist noch geil

Stünde nicht aus Versehen Resis Telefonnummer dabei, man könnte Anzeigen und redaktionelle Inhalte glatt verwechseln…
 
BILDblogger für einen Tag ist morgen ein BILDblog-Leser.

  

Schlecht gelaunter Faust am Montagmorgen

Ein Gastbeitrag von Nils Minkmar

Kai Diekmann ist berühmt, reich, hat eine nette Familie und macht einen Job, der schon ganz andere verschlissen hat. Wann also schreibt der Mann ein Buch? Und vor allem: Warum?

So lassen sich die Reaktionen der versammelten Buchbranche auf die Verlagsankündigung zusammenfassen. Nicht dass man es Diekmann nicht zugetraut hätte; man hatte ihn bloß für so schlau gehalten, sich nicht aus der Deckung seiner Boulevardzeitung von monströsen Ausmaßen heraus zu bewegen. Schließlich gehört zum “Bild”-Mythos, dass man wenig über ihre Macher weiß, dass man nie weiß: Spaß oder Ernst, Schlamperei oder Zynismus, Chaos oder Kampagne? Ist es da wirklich von Vorteil, ins eindeutige, uncoole Sachbuchfach zu wechseln? Mutig geht Diekmann ins Offene, doch die Jahre bei “Bild” bleiben nicht ohne Wirkung: Überall, wo er hinsieht, hindenkt, ist “Bild” schon da, er dreht sich permanent im Kreis, wie Rilkes Panther, den es in eine Manege verschlagen hätte.

“Der große Selbstbetrug” ist schon ein verräterischer Titel. Man hätte das Buch auch “Die bösen 68er “oder “Was ich immer schon mal sagen wollte” nennen können, so aber ist Diekmann damit gar nicht ausgenommen: Er ist zugleich Betrüger und Betrogener, beides empfindet er als einen Skandal und nimmt Verfolgung auf. Der Leser muss dann den Nacken bewegen wie die Zuschauer in Wimbledon, es geht hin und her, aber es bleibt doch nur die Bewegung eines einsamen Chefs beim Monologisieren. Sein Blick fällt aus einem oberen Stockwerk auf das Land, die Leute, das eigene Leben und — nichts stimmt.

Wem fallen dazu nicht noch mehr Beispiele ein?

Es ist ein Hadern mit der Welt von Faustischen Dimensionen, das sich streckenweise aber liest wie das Geschimpfe im Büro am Montagmorgen: Die Leute zu neugierig oder zu stumpf, die Deutschen wie der Michel verpennt oder laut und verzogen, und alle beklagen sich immerzu, dabei geht es uns doch so gut wie nie. So gut wie nie? Alles Selbstverblendung, denn die Familien sind kaputt, die Kirchen leer, die Schulen schlecht. In Wahrheit wird alles immer schlechter. Immer schlechter? Das wollen uns die deprimierenden Umweltfreaks weismachen, die keine Freude am Leben und am Luxus haben. Luxus? Alle denken nur noch an den schnellen Euro, vornedran die Politiker und Wirtschaftsbosse, dass der kleine Mann immer weniger in der Tasche hat, kümmert sie nicht. Kümmern? Der Staat und die Medien schränken unsere persönliche Freiheit immer mehr ein, schon muss man sich im Auto anschnallen und den Hundedreck einsammeln. Hunde sind den Deutschen eh lieber als Kinder, die einzigen, die das anders sehen sind die Nichtdeutschen, die Ausländer, die Araber etwa haben viele Kinder und hassen Hunde, aber, hah, der Islam in Deutschland… so geht das Seite um Seite. Wenn man all diese Tiraden zusammenzufassen wollte, bräuchte nur eine einzige Gleichung auf seinen Block zu kritzeln: “Deutschland = Absurdistan”. Darauf kann man alles reduzieren, dann kann es wieder weitergehen, denn wem fallen dazu nicht noch mehr Beispiele ein? Schließlich ist das ganze Leben ja absurd.

Vom Genre her soll der “Selbstbetrug” aber kein existentialistischer Monolog eines um sich selbst kreisenden Mannes in der Lebensmitte sein, sondern ein Buch über Deutschland. Es reiht sich ein in eine Folge in den letzten Jahren erschienener Titel, in denen es den Autoren jeweils um eine Klärung ihres Verhältnisses zu ihrer Heimat, aber auch um eine Begutachtung der deutschen Lande ging. Mathias Matussek hat das in “Wir Deutschen” versucht, Roger Willemsen und Wolfgang Büscher haben sich persönlich auf die Reise gemacht, Experten wie Hans Werner Sinn oder Meinhard Miegel haben von ihren extensiven Studien profitiert.

Bei Diekmann aber wirkt die Liebe zum Land, die Sorge um seine Leute bloß behauptet. Der “Selbstbetrug” ist kein konservatives Buch, denn es fehlt ihm die Liebe zum Gegenstand. Wer Deutschland nicht kennt, wird nach der Lektüre jedenfalls nicht inspiriert, das Land nach vorne zu bringen. Nirgends beschreibt er es auf originelle Weise, nirgends spürt man wirkliche Neugier, es fehlt jegliche Erfahrung, es fehlen Menschen in diesem Buch. Sicher, der “Bild”-Chef kennt halb Deutschland, und zwar nicht unbedingt aus der vorteilshaftesten Perspektive. Er weiß um die Versuche, in sein Blatt zu kommen, und die entsprechenden Scheinheiligkeiten. In seinen Schubladen landen Fotos, die keiner sehen darf, er weiß vermutlich einfach zu viel und hat, wie einst John Lennon, von Leuten die Nase voll.

Schade, denn was könnte Diekmanns Leben, sein Alltag, für ein Buch über Deutschland abgeben?

Stattdessen dieses Recycling tausendmal gehörter Argumente gegen Multikulti und Windkrafträder. Das Problem des Standpunktes, von dem aus diese ganzen Thesen vorgetragen werden, erweist sich im Laufe der Lektüre immer gravierender. Denn Diekmann hat keine Verbesserungsvorschläge zu machen, sein Furor richtet sich ja, sobald er einmal in der Welt ist, wieder gegen sich selbst. Das Buch braucht aber ein Gegenüber, einen Antagonisten. Da Diekmann nicht auf Aliens rekurrieren kann und nicht die Ausländer anklagen möchte, braucht er eine andere, weit entfernte Spezies, das sind dann halt “die Achtundsechziger”. Sie sind natürlich die ganze Generation — unabhängig von der Frage, ob damals nicht etwa auch der RCDS oder die Burschenschaftler auch noch da existierten.

Ist Dieter Bohlen ein Vorbild in puncto Familiensinn?

Wer zufällig solche von damals kennt, solche Achtundsechziger, kann nur staunen, welche fulminante Macht Diekmann ihnen zuschreibt: Wirtschaft, Forschung, Religion und Familie haben sie gleichzeitig erledigt. In Wahrheit waren sie damals froh, Miete zahlen zu können und ihre klapprigen Autos im Griff zu behalten — die Diekmannschen Projektionen sind schlicht lächerlich, er kennt auch gar keine Achtundsechziger. Umso leichter schreibt er ihnen alles und das Gegenteil zu, und doof sahen sie außerdem aus. Na, sie werden sich ja gegen ihn auch kaum wehren. Denn wo sind die Achtundsechziger heute? Fröhlich in Rente, einen würdigen Gegner geben sie nicht mehr ab. Aber den braucht es nicht. Diekmann will gar nicht wirklich kämpfen, sondern klagen — unter anderem dagegen, dass so viele immer klagen.

So trifft der Diekmannsche Furor vor allem ihn selbst, er und die “Bild” kommen aus diesen Rundumschlägen grün und blau hervor. Oder ist Dieter Bohlen, der dank “Bild” weit größeren Einfluss auf die heutigen Deutschen hat, als ihn ein Rainer Kunzelmann auch zu seiner Zeit vor vierzig Jahren je hatte — ein solches Vorbild in puncto Familiensinn und christliche Werte? Und das Comeback Oskar Lafontaines, welches Diekmann so wortreich beklagt und analysiert — wäre es denkbar gewesen ohne das Massenmedium “Bild”, das ihn in den Zeiten seiner völligen politischen Isolation Woche für Woche zu Wort kommen ließ?

Diekmann kennt die Antworten besser als jeder andere, und das macht ihn nicht gerade glücklicher. Das Buch ist sein langer Seufzer, ein Zeugnis der Krise. Es würde nicht überraschen, wenn ein zweites Buch folgte, anknüpfend an einen Erfolgstitel, irgendwas mit “Ich bin dann mal im großen Selbstverlust, wie wir pilgernd hinter Klostermauern das Glück finden.”

Nils Minkmar, 40, ist Redakteur im Feuilleton der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”. Er besuchte Pierre Bourdieus Doktorandenseminar, promovierte in Neuer Geschichte mit einer Arbeit über Ehrenkonflikte im frühneuzeitlichen Colmar und arbeitet seit vielen Jahren an einer mehrbändigen Jodie-Foster-Biographie.

medienlese – der Wochenrückblick

Wahltag, Börsencrash, Kekse.

Die Woche vor den heutigen Parlamentswahlen in der Schweiz brachte nochmals Aufruhr über die Berichterstattung der ausländischen Medien in der Schweiz. 20min.ch scannte eine in der New York Times International Weekly erschienen Karikatur und schrieb am 16.10.2007: “Das Image der Schweiz im Ausland ist schwer angeschlagen.” Und am 19.10.2007: “Ein Sturm im Wasserglas – Der Schweizer Wahlkampf wirft in den USA trotz kritischen Medienberichten keine grossen Wellen. Auch gibt es kaum handfeste Beweise dafür, dass das Image der Schweiz in den USA gelitten hätte.”

Im Spiegel erklärte Mathieu von Rohr die Konkordanz in der Schweiz für tot. Er schrieb: “Seit 1959 hatten die vier grössten Parteien des Landes die Macht nach der sogenannten Zauberformel untereinander aufgeteilt: (…) bildeten die Regierung. Dieses geheiligte Prinzip hiess ‘Konkordanz’, es führte dazu, dass das Land eher verwaltet als regiert wurde. Die sieben Bundesräte fällten ihre Entscheide in geheimer Abstimmung und vertraten sie gemeinsam nach aussen. Der Aufstieg Blochers und seiner SVP sprengte dieses System. Am Ende überflügelte seine Partei alle anderen so weit, dass sie ihn in die Regierung wählen mussten. (…)”. Nicht nur ich, auch die Süddeutsche Zeitung wusste noch nichts davon. Sie schrieb einen Artikel mit dem Titel “Krach in der Konkordanzdemokratie“. Klaus J. Stöhlker enthüllte die Parteiprofile. Die Quelle der Daten seien, so ergab eine E-Mail-Anfrage, Tabellen in der Tageszeitung Le Temps.

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