Franz Josef Wagner fragt sich heute in seiner “Bild”-Kolumne, ob “wir in Deutschland unter Gedächtsnisschwund” leiden. Er schreibt den “Eltern der Geiseln”:
Ihre im Irak entführten Söhne waren auch in den Medien verschwunden. Keine Meldung auf Seite 1, nichts in der Tagesschau. Ein Grund kann die Osthoff-Ermüdung sein, die menschliche Mitleidseele hat sich ausgeweint. Wiederholungen im Fernsehen sind außerdem langweilig. (…)
Ich frage mich, warum die Eltern dieser Söhne alleine weinen müssen.
Und der Rest Deutschlands Angst vor der sich anbahnenden Grippe hat.
Auf manche Fragen Wagners gibt es Antworten. Einige stehen heute in der “Süddeutschen Zeitung”:
“Je höher die Medienpräsenz einer Geisel, desto höher wird der Preis für sie.” (…)
Der Auftritt bekannter Politiker und der Familie im Fernsehen habe die Summe für Osthoffs Freilassung klar nach oben getrieben, heißt es (…). Deshalb agiert der Krisenstab im neuen Geiseldrama völlig anders. Diesmal gibt es keine Videoaufnahmen von den Familien der Entführten. (…) Diesmal treten keine bekannten Politiker auf, diesmal schwört der Krisenstab auf Ruhe; insbesondere gegenüber den Medien.
Über Details der Entführung sollten Zeitungen, Fernseh- und Radiosender nicht berichten, appellierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. “Nehmen Sie bitte Rücksicht.”
Naja, so ein paar LinksamAnfang können natürlich nie schaden. Ebensowenig wie die Information, dass Joachim Huber beim Berliner “Tagesspiegel” Redakteur der Medienseite ist, auf der in der Vergangenheit öftersmal “Bild”-kritische Artikel erschienen sind. Aber es geht auch ohne.
Schließlich ist dies nicht die Geschichte, wie Joachim Huber einmal dafür sorgte, dass die “Bild”-Zeitung auf ihr Seite-1-Girl verzichtet und stattdessen lieber das Foto einer verschleierten Frau gezeigt hatte. Nein, es ist nicht einmal eine Geschichte darüber, wie ein “Tagesspiegel”-Kollege Hubers Susanne Osthoff für den renommierten Grimme-Preis vorgeschlagen hatte und Huber daraus eine Nachricht bastelte, die ihm einigen Ärger einbrachte, zumal Huber selbst in die Grimme-Preis-Jury berufen worden war (siehe Links am Anfang), die am kommenden Samstag erstmals tagt. Und dass “Bild” Hubers Osthoff-Nachricht tags drauf auf der Titelseite brachte (siehe Ausriss), auf den “Tagesspiegel” als Quelle verzichtete und stattdessen lieber sinnentstellend zugespitzt behauptete, für ihre Auftritte “soll sie nun den bedeutenden Grimme-Medienpreis bekommen” – geschenkt. Wer erwartet schon, dass “Bild” sich mit den Regularien der Grimme-Preis-Vergabe vertraut macht, bevor sie darüber berichtet, anstatt zu verschleiern, dass Osthoff ja, wie gesagt, mitnichten nominiert, sondern lediglich vorgeschlagen worden war, was wenig bedeutet, weil über die Nominierungen eine Nominierungskommission entscheidet, und anschließend eine Preis-Jury über die Preisträger?
Nein, dies ist die Geschichte, wie “Bild” eine Falschmeldung korrigiert. Denn am Montag hatte “Bild” berichtet, Huber bleibe trotz seiner umstrittenen Meldung Grimme-Juror (siehe Ausriss links). Genauer gesagt hatte “Bild” ungeprüft eine kleine Meldung aus dem “Focus” übernommen – und anschließend sogar bei diversen Jury-Kollegen Hubers nachgefragt, was die denn eigentlich so davon halten. Das Ergebnis der Umfrage allerdings ist nie erschienen, was unter anderem daran gelegen haben könnte, dass die Meldung von Hubers Jury-Mitgliedschaft bereits überholt war, als der “Focus” erschien – und umso überholter, als “Bild” sie nachdruckte…
“Joachim Huber (47), Redakteur des Berliner ‘Tagesspiegel’, zieht sich aus der Jury des Grimme-Preises zurück. Der Journalist hatte ‘exklusiv’ über die angebliche Nominierung von Irak-Geisel Osthoff für den begehrten Medienpreis berichtet – obwohl der Vorschlag von einem ‘Tagesspiegel’-Redaktionskollegen stammte und Huber selbst Mitglied der Grimme-Jury ist. (…)”
PS: Dass Huber über den Osthoff-Vorschlag berichten konnte, hat nichts mit seiner Jury-Mitgliedschaft zu tun. Und dass Huber, anders als “Bild”, niemals fälschlicherweise “über die angebliche Nominierung” Osthoffs berichtet hatte, sondern faktisch korrekt über den tatsächlichen Vorschlag, blieb in “Bild” bis heute unberichtigt.
Viele werden sich noch an Muhlis Ari erinnern, den in München geborenen und aufgewachsenen Ex-Serienstraftäter mit türkischer Staatsbürgerschaft, besser bekannt als “Mehmet”. Vor kurzem hätte er eigentlich eine Haftstrafe antreten sollen, doch er tauchte unter, und es wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen. Darüber berichtete auch “Bild” in ihrer Online-Ausgabe.
Die deutsche Polizei jagt Serienstraftäter Muhlis A. (…) Er tauchte unter. BILD fand ihn jetzt in der Türkei, sprach mit ihm.
Da haben sich die gewieften “Bild”-Reporter also aufgemacht und “Mehmet” tatsächlich gefunden, während die blöde Polizei ihn immer noch jagt – könnte man denken. Und es stimmt ja auch: Die Polizei “jagt” Mehmet tatsächlich noch immer. Und “Bild” hat “Mehmet” tatsächlich “gefunden”.
Allerdings dürfte es gar nicht so schwer gewesen sein, “Mehmet” aufzutreiben. Schließlich hatte der Bayerische Rundfunk schon am 19. Januar berichtet, dass er sich in der westtürkischen Kleinstadt Saray aufhalte. Und jetzt kommt’s: Die Polizei hat ihn gefunden. Offenbar hat ein Kriminalbeamter sogar persönlich mit “Mehmet” gesprochen, als er eine Nummer anrief, die zum Haus seiner Eltern gehört – was “Bild” übrigens auch weiß, heute aber komplett verschweigt.
Mit Dank an Kai S. für den sachdienlichen Hinweis.
Ganzseitig berichtet die Berlin-Brandenburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung heute über die Stippvisite von Angelina Jolie und Brad Pitt in Berlin (siehe Ausriss). Wer allerdings glaubt, das fast Din-A-4-große Foto über der Überschrift “Hier huschen Brad Pitt und Angelina Jolie über den Potsdamer Platz” habe irgendwas damit zu tun, dass Brad Pitt und Angelina Jolie über den Potsdamer Platz huschen, irrt. Das Foto ist fast eine Woche alt und zeigt Jolie und Pitt im schweizerischen Davos. Das große Wörtchen “Hier” in der Überschrift bezieht sich, wie der kleine schwarze Keil darunter (siehe Ausriss rechts) andeutet, auf drei ausgesprochen unscharfe Fotos, die ein 23-jähriger Politik-Student mit seinem Fotohandy gemacht hat.
PS: Außerdem zeigt “Bild” u.a. noch ein weiteres Foto von Pitt und Jolie, das die beiden ebenfalls nicht in Berlin, sondern vor gut einer Woche auf einem Londoner Flughafen zeigt. Statt auf diesen Umstand hinzuweisen, hat “Bild” sich jedoch entschieden, etwas ganz anderes neben das Foto zu schreiben – nämlich:
“‘Quod me nutrit me destruit’ (‘Was mich nährt, zerstört mich’) steht auf Angelina Jolies Babybauch. Ein Tattoo, das sie sich vor kurzem erst stechen ließ”
(Hervorhebung von uns.)
Und das ist insofern dumm, als das Tattoo zwar vor kurzem erst Schlagzeilenmachte, aber offenbar aus dem Jahr 1997 stammt.
Am 24. Juli 2003 machte die Illustrierte “Stern” mit dem Titel “Der Kannibale” auf. Im Inneren schilderte sie auf vielen Seiten außerordentlich detailliert, wie Armin Meiwes im März 2001 einen Mann auf dessen Wunsch hin verstümmelte, tötete und später Teile der Leiche aß. Der Deutsche Presserat missbilligte zwei Monate später diesen Bericht und erklärte:
Die detaillierte Schilderung der Zubereitung und des Essens von Körperteilen geht nach Meinung des Gremiums über ein begründbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit deutlich hinaus.
Armin Meiwes steht zur Zeit wieder wegen seiner Tat vor Gericht. “Bild”-Reporter Marco Schwarz ist vor Ort und beginnt seinen Bericht* vom vierten Prozesstag mit den Sätzen:
Er beschreibt jedes gruselige Detail. Geht’s nicht noch ein bißchen genauer? Noch ein bißchen ekliger?
Vierter Verhandlungstag gegen den Kannibalen von Rotenburg und die Frage: Wie halten das Zuschauer, Richter und Anwälte bloß aus?
Ja, und wie die Leser einer großen Boulevardzeitung? Das lässt sich doch herausfinden. Im Rest des Artikels gibt der “Bild”-Reporter die kaum auszuhaltenden Schilderungen über den genauen Ablauf der Tat ausführlich und wörtlich wieder. Er beschreibt jedes gruselige Detail. Und falls sich herausstellen sollte, dass es doch noch ein bisschen genauer, noch ein bisschen ekliger ging — “Bild” wird es ausführlich dokumentieren.
*) Der Artikel ist auch online. Verlinken wollen wir ihn nicht.
Nachtrag, 7.2.2006:
Bereits seit einigen Tagen ist der Artikel aus dem Angebot von Bild.de gelöscht. Ebenfalls seit einigen Tagen steht eine Antwort von Bild.de-Chef Oliver Eckert (auf unsere Frage nach dem Grund dafür) aus.
In der Berliner Zeitung vom 31. Dezember 2005 behaupten Sie auf Seite 41 unter der Überschrift “Zum Schreien komisch”, die “Bild”-Zeitung habe unter anderem eine Gegendarstellung der Schauspielerin Alexandra Neldel mit dem kleinlauten Eingeständnis der Redaktion abdrucken müssen, dass das, was “Bild” berichtet hatte, nicht stimmte. Hierzu stelle ich fest: Die Gegendarstellung von Alexandra Neldel haben wir ohne eine derartige Erklärung abgedruckt.
Berlin, den 11. Januar 2006 Rechtsanwalt Dr. Ulrich Amelung für Kai Diekmann, Chefredakteur der BILD-Zeitung
Die Redaktion der “Berliner Zeitung” hat unter diesen Text folgende “Anmerkung” gesetzt:
In der “Bild”-Zeitung war tatsächlich kein entsprechender Zusatz abgedruckt. Frau Neldel hatte durch einen außergerichtlichen Vergleich darauf verzichtet. Das, was “Bild” über Frau Neldel berichtet hatte, war dennoch falsch. Und so war auf der Website www.bild.t-online.de, für die Diekmann nicht verantwortlich ist, die Gegendarstellung von Frau Neldel zu demselben Text aus der “Bild”-Zeitung mit dem kleinlauten Eingeständnis der Redaktion versehen: “Frau Neldel hat Recht”.
“Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. (…) Und sie sprachen untereinander: (…) Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe!” (1. Mose 11, 1-7)
Soweit die Bibel über diese Turmbau-Sache zu Babel damals, die auch für Wolfgang Amadeus Mozart weitreichende Folgen haben sollte. Na, klar: Hätte der Mann etwa sonst seine Opern in Deutsch geschrieben, damit sie, äh, jeder versteht? Wohl kaum. Und außerdem gäbe es ohne die aus dem biblischen Bauvorhaben resultierende babylonische Sprachverwirrung vermutlich keine deutsche Version des Internetsuchdienstes Google, wo sich inzwischen deutlich mehr Einträge zu “Mozart” als zu “Motorrad” finden lassen*, was ja wohl zweifelsfrei beweist, dass Mozart ein großer Musiker war, größer jedenfalls als diesesDingmitzweiRädernundeinerWärmekraftmaschine und wahrscheinlich sogar der größte Musiker aller Zeiten! Dabei hatte er noch nicht mal einen Motorradführerschein.
Kurzum: Wer diese Begründung jetzt – warum auch immer – komplett bescheuert findet, hat vermutlich Recht.
Zuerst müssen wir etwas klarstellen: Ja, in Vietnam und in einigen anderen Ländern Asiens werden Hunde gegessen, genau wie “Bild” gestern berichtete. Um sie zu essen, muss man sie natürlich vorher schlachten und zubereiten. Aber das ist in Vietnam offenbar so normal wie, sagen wir, hierzulande die Sitte, Rinder zu schlachten und zu verzehren – eine Sitte übrigens, die wiederum für viele Inder undenkbar wäre.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig sachdienlich, eine Geschichte über die Zubereitung von Hunden in Vietnam mit Bezeichnungen wie “Schock-Fotos” oder “ekelhaft” zu versehen. Für Vietnamesen dürften die Bilder alltäglich sein und auch nicht ekliger als für einen Mitteleuropäer BilderauseinemSchlachthof.
“Dieser schwarz-weiße Straßenhund wird süß-sauer serviert. (…) Ein Schlachter schneidet einem Straßenhund die Kehle durch, hängt das Tier zum Ausbluten auf einen Haken.”
Woher “Bild” wissen will, dass es sich um einen “Straßenhund” handelt, wissen wir nicht. Die Beschreibung der Agentur, von der “Bild” die Fotos übernommen hat, gibt darüber keine Auskunft. Und der Fotograf der Bilder, Tristan Savatier, berichtet uns, das sei Unsinn: “Diese Hunde (Schlacht-Hunde) werden in Farmen aufgezogen. Sie haben keine Namen. Sie sind wie jedes andere Schlachttier.”
Und wer nicht nur lesen will, was sich “Bild”, so Savatier, “ausdachte, um eine Boulevard-Geschichte daraus zu machen”, kann sich sämtliche Bilder und Beschreibungen hier anschauen.
PS: In dem “Bild”-Artikel heißt es außerdem:
“‘Thit chó’, nennen die Einheimischen dieses zweifelhafte Vergnügen. Wörtlich übersetzt: einen (heißen) Hund essen.”
Wörtlich übersetzt allerdings heißt Thit Fleisch und Chó Hund. Hundefleisch also.
Die Meldung, dass sich der Produzent und Musiker Kanye West fürs Cover der US-Ausgabe der Zeitschrift “Rolling Stone” in einer umstrittenen Pose fotografieren ließ, bebildert Bild.de bereits seit gestern mit einem großen Foto des Musikers Ludacris(siehe Ausriss). Ähnlich sehen sich Kanye West und Ludacris nicht, aber sie sind, einer wie der andere, dunkelhäutig.
Mit Dank an Nico U. und andere für den Hinweis.
Nachtrag, 16:50: Bild.de hat das Ludacris-Foto, mit dem die Kanye-West-Meldung illustriert wurde, inzwischen gegen ein Foto von Kanye West ausgetauscht.