Archiv für Privates

Angst und Ambition

Heute fragt “Bild”:

Haben Sie einen neuen Mann, Frau Oettinger? (...) Die Antwort ist kurz und geheimnisvoll: "Kein Kommentar."

Geheimnisvoll, soso.

Hier zum Vergleich eine wirklich geheimnisvolle Antwort. Die Frage lautet ungefähr: Herr Oettinger, sind Sie von “Bild” dazu getrieben worden, in der Zeitung zu verkünden, dass Sie sich von Ihrer Frau getrennt haben? Seine Antwort steht heute in den “Stuttgarter Nachrichten” und lautet:

“Das werde ich später mal beantworten.”

Bis dahin kann man nur spekulieren, wie freiwillig der baden-württembergische Ministerpräsident gestern in “Bild” das “Liebes-Aus” erklärt hat:

Oettinger wäre nicht der erste Prominente, der berichten würde, dass die Zeitung ihn mit einer Mischung aus Drohungen und Angeboten dazu gebracht hätte, ihrem Willen nachzugeben, etwa, indem sie ihm verschiedene mögliche Formen der Berichterstattungen aufzeigt, je nach Grad der Kooperation mit “Bild”.

Die “Frankfurter Rundschau” spricht davon, dass die “Bild”-Zeitung in den vergangenen Tagen “ihre Folterwerkzeuge auspackte”:

Zuerst berichtete das Blatt in seiner Stuttgarter Regionalausgabe, Inken Oettinger habe 170 hochmögende Damen der Gesellschaft beim Adventskaffee in der Berliner Landesvertretung mit dem Hinweis auf das Fußballtraining des Sohnes einfach sitzen gelassen. Dann titelte sie in der Deutschlandausgabe “Deutschlands seltsamstes Politiker-Ehepaar”. Nun wurde Stufe drei gezündet: “Ehe kaputt”.

Auch die “Stuttgarter Nachrichten” formulieren, Oettinger habe “dem Druck der ‘Bild’-Zeitung nachgegeben” und berichten aus der Stuttgarter Regierungszentrale:

“Die haben dem Chef doch das Messer auf die Brust gesetzt”, meint einer. Was das heißen könnte? “Bild” soll gedroht haben, die Ehe-Probleme öffentlich zu machen. So viel ist klar: In der vergangenen Woche soll es ein Telefonat zwischen “Bild”-Chef Kai Diekmann und der Regierungszentrale gegeben haben.

Seit Monaten schon habe “Bild” Oettinger angeboten, “seine privaten Dinge über den Boulevard zu regeln”, was der Ministerpräsident abgelehnt habe, schreiben die “Stuttgarter Nachrichten”, und:

“In Berlin wird kolportiert, der Springer-Konzern habe für diese Woche mit der Veröffentlichung von Details aus dem Privatleben des Paares gedroht. Das aber wollten sich die Oettingers ersparen.”

In einem Leitartikel kritisieren die “Stuttgarter Nachrichten” Oettingers Art des Coming-Outs:

Politiker und Journalisten in Baden-Württemberg wissen seit langem von den Schwierigkeiten der Eheleute Oettinger – aus Respekt vor der Privatsphäre haben sie geschwiegen. Viele Redakteure, auch dieser Zeitung, haben Oettinger auf seine Ehe angesprochen – die Antwort “Kein Kommentar” wurde stets respektiert.

Auf die Frage, warum Oettinger sein Schweigen exklusiv für und in “Bild” brach, sei im Staatsministerium von einer “Zwangslage” die Rede: “Wir konnten doch nicht anders.”

Zu groß ist offenbar die Angst christlich-konservativer Landespolitiker mit Ambitionen in Richtung Berlin, es sich mit “Bild” zu verderben. Sicherheit gibt da wohl nur das Gefühl, von “Bild” geliebt zu werden, egal um welchen Preis.

Und der Boulevard dankt: Als “einen der mächtigen CDU-Kronprinzen” titulierte “Bild” den baden-württembergischen Ministerpräsidenten gestern prompt. Man kann das auch anders sehen: Ein mächtiger Kronprinz braucht ein starkes Rückgrat, er braucht Souveränität, er knickt auch vor “Bild” nicht ein.

Der Kommentar schließt:

Günther Oettinger […] lässt sich am Ende des “Bild”-Berichtes mit einem Satz zitieren, der angesichts der zweidrittelseitigen Aufmachung seines Ehe-aus-Bekenntnisses so absurd wie verzweifelt anmutet: “Wir haben die Bitte, dass die Öffentlichkeit unsere Privatsphäre akzeptiert.” Wir gehen davon aus, dass sein Appell nicht dieser und anderen seriösen Zeitungen gilt. Sondern der “Bild”-Zeitung, gern auch exklusiv. Seine Chancen stehen nicht schlecht. Den Preis für künftige Wohlbehandlung hat Oettinger schließlich schon bezahlt.

“Bild” versagt als Beckereifachverkäuferin

“Ich konnte mich mit der Art und Weise, wie die Geschichten erfinden und auch mit den Methoden, wie sie arbeiten, nicht identifizieren.”
(Boris Becker, 1989, über “Bild”)

“BORIS — Nächste Frau weg”, schreibt “Bild” heute auf der Titelseite, weil Boris Becker der “Revue” exklusiv gesagt hat:

“Ich habe mich vor sechs Wochen von meiner Freundin getrennt. (…) Wir haben uns getrennt, das können Sie gern veröffentlichen, das weiß auch noch niemand!”

So steht’s auch auf dem aktuellen “Revue”-Titel (“Ich habe mich von Lilly getrennt.”) So ließ es sich gestern auch die Nachrichtenagentur dpa aus Beckers “Umfeld” bestätigen (“Das ist richtig, der Bericht der Zeitschrift ‘Revue’ stimmt.”) Und so steht’s auch in “Bild” (“Jetzt sagt Boris BILD: ‘Wir haben es wirklich ernsthaft versucht. … Wir haben dann leider doch beide gemerkt, dass es für eine Beziehung durchaus reicht. Aber nicht für eine Ehe. Das war vor sechs Wochen.'”) Und “Bild” ist sichtlich überrascht:

Boris Schluss mit Lilly

Das Liebes-Aus — es kam mega-überraschend! (…) Dabei hatten viele schon die Hochzeitsglocken läuten gehört und wundern sich jetzt (…). Das alles sah nicht nach dem Ende einer Beziehung aus.

Und auf Bild.de, wo das “Liebes-Aus” bereits gestern Thema war, hieß es scheinbar lakonisch:

Erst kürzlich hatte Becker in BILD gesagt: “Solange ich keine ernsthafte Lebensgefährtin hatte, war vieles leichter, aber jetzt, da möglicherweise eine Nachfolgerin, eine neue Frau Becker ins Haus kommen könnte, die dann auch noch die Familie mit neuen Brüdern und Schwestern erweitert, hat sich die Stimmung etwas verändert.”

Eine neue Frau Becker? Lilly ist es jedenfalls nicht…

Stimmt! Also fast: Beckers “neue Frau Becker”-Zitat stand vor anderthalb Wochen (also ca. vier Wochen nach seiner Trennung) in einem seitenfüllenden “Bild”-Vorabdruck seines Buchs. Beim Namen “Lilly” nennt Becker die mögliche “Nachfolgerin” darin nicht. Mehr noch: Er nennt sie gar nicht, mit keinem Wort.

Ganz im Gegensatz zur “Bild”-Zeitung, die damals zu erahnen vorgab, was Becker verschwieg, und aus ihrem Gemunkel sogar große Schlagzeilen und eine Seite-1-Ankündigung machte:

"Boris und seine Lilly: Hochzeit? -- Boris exklusiv in BILD: Wird Lilly die neue Frau Becker? Boris über (...) Ex-Frau Barbara und ihre mögliche Nachfolgerin: Lilly Kerssenberg"

Kein Wunder also, dass das “Liebes-Aus” jetzt “mega-überraschend” kam für “Bild”.

Gene und die falschen Männer machen lesbisch

Christine Baumanns ist Autorin der Bücher “Massagen für Liebende” und “Träume von Leidenschaft und Lust” sowie Diplompsychologin, Sexualtherapeutin und Genussforscherin. “Bild” nennt sie heute “Dipl.-Psychologin” bzw. schlicht “Expertin”.

Christine Baumanns hält Britney Spears für psychisch krank, wenn “Bild” sie danach fragt. Und Christine Baumanns hat nicht nur eine Antwort parat, wenn “Bild” von ihr wissen will, warum sich Sophia Loren “mit 71 noch so scharf fotografieren” lässt, “wie ehrlich” die Liebe von Gülcan Karahanci und Sebastian Kamps “wirklich” sei oder, ob es “noch normal” ist, wenn Meret Becker ihren Stiefvater auf den Mund küsst — nein, Christine Baumanns ist auch zur Stelle, wenn “Bild” im WM-Taumel bloß deliriert: “Wollen wir uns alle DUZEN?”

Und Baumanns’ Antworten sind immer toll:

“Bild”: Was macht den schmuddeligen Doherty bei Frauen bloß so attraktiv?
Christine Baumanns: Es ist die Faszination des Kaputten.

“Bild”: Kann das Video [von Tokio Hotel] labile Jugendliche möglicherweise zum Selbstmord verführen?
Christine Baumanns: Ich denke nicht.

“Bild”: Ist Tom Cruise etwa ein softes Mama-Söhnchen?
Christine Baumanns: Absolut nicht!

Zum Thema “Wie gut ist Ihre Ehe?” entwickelte Christine Baumanns “exklusiv für BILD” sogar den “großen BILD-Test” (Zitat: “Ihr(e) Partner(in) hat ziemlich an Gewicht zugelegt. Ihr Kommentar? a) “Schatz, ich mag dich, wie du bist.” b) “Wie wäre es mit einer Diät? Mir ist dein Aussehen nicht egal.” c) “Frust-Essen macht nicht gerade schön. Du könntest ein bisschen mehr auf dich achten.” Zitat Ende.)

Und heute beantwortet Christine Baumanns aus aktuellem Anlass exklusiv in “Bild” die Frage:

"Was ist bei lesbischer Liebe anders?"

“Bild” fragt zum Beispiel:

Wie wird eine Frau lesbisch – ist das angeboren oder sind die Männer schuld?

Und Christine Baumanns antwortet:

Bei manchen Lesben ist das ganz klar genetisch festgelegt. Sie verlieben sich von Anfang an immer nur in Frauen. Viel häufiger ist aber eine große Enttäuschung mit einem Mann der Auslöser. Die Frau wendet sich bewusst von den Männern ab und findet erfüllende Liebe bei einer Frau.

Zu Baumanns “Expertin erklärt”-Interview haben wir deshalb mal Renate Rampf, Sprecherin des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD), befragt.

Betr.: Anne Will und Miriam Meckel

Sehr geehrter Herr Diekmann,

wenn Sie darauf angesprochen werden, dass die von Ihnen verantwortete “Bild”-Zeitung die Privatsphäre von Prominenten nicht respektiert, antworten Sie, dass die Prominenten dafür selbst verantwortlich seien. Gegenüber der Schweizer Zeitung “Persönlich” (pdf) formulierten Sie es so:

Grundsätzlich ist das Privatleben tabu. Das gilt aber nicht für diejenigen, die mit ihrem Privatleben das Licht der Öffentlichkeit suchen.

Der “FAZ” sagten Sie:

Wer sein Privatleben privat lebt, bleibt privat. (…) Wer nicht selbst das Spiel eröffnet, muß auch nicht mitspielen.

Immer wieder greifen Sie auf eine Fahrstuhl-Metapher zurück:

Wer die Presse einlädt, wenn es im Fahrstuhl des Lebens nach oben geht, darf sie nicht aussperren, wenn er wieder nach unten fährt.

Gestern und heute haben “Bild” und “Bild am Sonntag” in größter Aufmachung darüber berichtet, dass die ARD-Moderatorin Anne Will am Rande einer Veranstaltung bestätigt habe, mit der Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel zusammen zu sein. “Ja, wir sind ein Paar”, habe Will gesagt und hinzugefügt: “Wir möchten unser Privatleben privat halten.”

Diesen Wunsch mochten Sie ihr offensichtlich nicht erfüllen. Denn Ihre Zeitung belässt es nicht dabei, über das Coming-Out der Moderatorin zu berichten, ihre Partnerin vorzustellen und über Kleidung, Schmuck, Sitzordnung, Menufolge und Stimmung bei der öffentlichen Veranstaltung zu berichten, zu der Will und Meckel gemeinsam gekommen waren. Sie informiert ihre Leser zugleich unter anderem auch über einen gemeinsamen Urlaub der beiden und nennt Details ihrer Freizeitgestaltung.

Offenkundig ist das Privatleben von Anne Will für die “Bild”-Zeitung also nicht mehr Tabu. Angenommen, Ihre öffentlichen Erklärungen über den sonst geltenden Respekt Ihrer Zeitung vor der Privatsphäre anderer Menschen seien nicht nur Lügen oder bestenfalls Selbstbetrug: Bedeutet die Tatsache, dass Frau Will und Frau Meckel auf Nachfrage einmal bestätigen, ein Paar zu sein, dass beide nun “das Spiel eröffnet” haben und in den “Bild”-Fahrstuhl eingestiegen sind? Glauben Sie, dass beide dadurch etwas Intimes enthüllt haben? Haben beide dadurch das sonst angeblich von Ihnen garantierte Recht verwirkt, ihr Privatleben privat zu halten? Müssen sie deswegen damit rechnen, dass “Bild”-Reporter sich auf die Suche nach früheren Partnern machen; dass “Bild”-Fotografen dokumentieren, wenn beide gemeinsam (oder gerade nicht gemeinsam) in den Urlaub fahren oder in einem Café sitzen; dass “Bild”-Artikel die Öffentlichkeit über Höhen und Tiefen in dieser Beziehung auf dem Laufenden halten?

Müssen Prominente, wenn sie nicht in Ihrer Zeitung lesen wollen, wo sie mit wem welchen Freizeitsport treiben, beispielsweise vollständig darauf verzichten, sich von ihren Partnern zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten zu lassen? Oder dürfen sie sich von ihren Partnern begleiten lassen — aber nicht darüber reden?

Herr Diekmann, was kann ein Paar tun, um Ihnen keinen Vorwand dafür zu liefern, sein Privatleben als Verfügungsmasse Ihrer Zeitung zu betrachten?

Über Antworten würden wir uns freuen!

Mit freundlichen Grüßen
Ihre BILDblogger
 
 
Nachtrag, 28.11.2007: Von einem “Bild”-Sprecher erhielten wir folgende Antwort:

Sie schickten am 19.11. einen Brief an die Bild-Chefredaktion zum Thema Anne Will. Von unserer Seite gibt es dazu nur soviel zu sagen: Wir haben geschrieben, was an diesem Abend unserer BILD am SONNTAG-Reporterin gesagt wurde.

Tote haben kein Privatleben

FAZ: Sie wollen mir weismachen, daß jemand, der sein Privatleben kategorisch für sich behalten will, ungeschoren bleibt?

Kai Diekmann: Selbstverständlich: Wer sein Privatleben privat lebt, bleibt privat.

Anfang dieser Woche ist Evelyn Hamann gestorben, und es gibt keinen Zweifel daran, dass sie ihr Privatleben privat lebte. “Bild” selbst schrieb:

Die große Schauspielerin hatte ihr Privatleben von der Öffentlichkeit abgeschottet. Ihre tödliche Krankheit genauso wie ihr großes Glück.

“Nur einmal wäre es beinahe öffentlich geworden, dass die zwei sich liebten (…). (Sie) hatten 1993 gemeinsam Urlaub gemacht (…) Ein Hamburger erkannte die beiden, als sie sich sonnten. Und zückte die Videokamera. (…) wurde unfassbar wütend.”


Quelle: “Bild”, 31.10.2007

“Bild” schrieb das am Mittwoch. Am Tag zuvor schon hatte die Zeitung eben jener Öffentlichkeit exklusiv die Details über die tödliche Krankheit verraten. Und am Mittwoch lüftete sie dann auch das andere Geheimnis, das nach Ansicht von Evelyn Hamann offenbar die Öffentlichkeit ebenso wenig anging: den Namen des Mannes, der — laut “Bild” — ihr langjähriger Lebensgefährte war.

Man könnte sagen: Der laut Kai Diekmann bei “Bild” geltende Respekt vor Menschen, die ihr Privatleben privat leben wollen, erlischt automatisch im Moment ihres Todes. Richtiger ist allerdings wohl: Er gilt gar nicht.

PS: Was “Bild” über das Privatleben von Evelyn Hamann zu berichteten wusste, fand sich anschließend in einer Reihe weiterer Medien. Und zu befürchten ist, dass der zuständige Mitarbeiter der Nachrichtenagentur AP nicht einmal merkte, wie sehr seine Formulierung die gemeinsame Bigotterie entlarvt:

Aus ihrem Privatleben, das Hamann stets aus der Öffentlichkeit gehalten hatte, wurde unterdessen bekannt, dass sie und […] seit vielen Jahren ein Paar waren.

Berliner Mutter sieht rot

Es wäre falsch zu sagen, dass die “Bild”-Zeitung Gegendarstellungen und Widerrufe immer mit ganz kleiner Schrift abdruckt. Oder nur in unauffälligem Grau. Gestern zum Beispiel hat “Bild” einen Widerruf mit richtig großer Schrift abgedruckt, und sogar auf knallfarbigem Hintergrund.

Der Text lautete:

Gegendarstellung zu Beitrag in Bild vom 31.08.2007 auf S. 7 unter der Überschrift “Berliner Mutter wirft Sohn (13) zu Hause raus”. Dazu stelle ich fest: ich habe den Jungen bereits am 30.08.2007 wieder zu mir geholt.
Berlin, den 31.08.2007 RA Eisenberg für
“Die Mutter”
Anmerkung der Redaktion: Die Aussage der Mutter ist richtig.

“Bild” hatte — wie die beiden anderen örtlichen Boulevardzeitungen “B.Z.” und “Berliner Kurier” auch — in großer Aufmachung über eine Auseinandersetzung in einer Berliner Familie berichtet. Die Mutter hatte sich, wie ihr Anwalt uns gegenüber sagte, geweigert, den Boulevardreportern Auskunft zu geben. Ihre Ansicht, die Geschichte ginge sie nichts an, haben die aber offenbar ebenso wenig beeindruckt wie der Mangel an Informationen.

Das Landgericht Berlin erließ zwei Verfügungen, die die Zeitungen verpflichteten, ihre Berichterstattung zu unterlassen und die Gegendarstellung zu veröffentlichen.

Und “Bild” sparte, wie gesagt, bei der Präsentation der Korrektur nicht an Farbe, und so sah das aus:

(Ja, genau: Die Gegendarstellung ist das Rote in der Mitte, zwischen der roten Anzeige links und den roten Anzeigen rechts.)

Hausbesuch beim Schießbefehl

“Bild” hat in einem Berliner Hochhaus an einer Wohnungstür geklingelt, woraufhin jemand “in Unterhemd und Jogginghose” öffnete. Aber nachdem er erfahren hatte, was “Bild” von ihm wollte, “schlug er die Tür zu”. Mit anderen Worten:

"BILD fand den Mann, der den Schießbefehl gab"
Überschrift und dazugehöriger Artikel sind aber in doppelter Hinsicht grob irreführend:

1.) Die Formulierung “BILD fand” bedeutet nicht etwa, dass “Bild” recherchiert und herausgefunden hätte, wer (wie “Bild” es formuliert) “den Schießbefehl gab”. Sein Name stand schließlich unter dem Schießbefehl, seine Identität war bekannt* — und “BILD fand” bedeutet deshalb tatsächlich bloß, dass “Bild” seine Adresse ausfindig gemacht und an seiner Wohnungstür geklingelt hat.

2.) Die Formulierung “den Mann, der den Schießbefehl gab” hingegen bedeutet nicht etwa, dass der von “Bild” groß (und identifizierbar) abgebildete Mann für den DDR-Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze verantwortlich gewesen wäre. Auch, wenn “Bild” diesen Eindruck dadurch zu festigen versteht, dass es im Artikel heißt:

Seit dem Aktenfund in der Magdeburger Außenstelle der Birthler-Behörde ist bewiesen: Der DDR-Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze existierte wirklich! Jetzt ist auch klar, wer den Schießbefehl gab. Der ehemalige Hauptmann und spätere Major Wolfgang Singer (66). Das geht aus einem zweiten Dokument hervor, das in der Chemnitzer Birthler-Behörde entdeckt wurde. (…) Er ordnete 1974 an, dass an der Grenze auch auf Frauen und Kinder geschossen wird. Den Schießbefehl unterzeichnete er mit seinem Namen.

Der Schießbefehl-Hype

Am vorvergangenen Samstag veröffentlichte die Magdeburger “Volkstimme” einen Aktenfund der Birthler-Behörde, der folgende Formulierung enthielt: “Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen (…).”

Der Fund wurde zunächst von Behörde und Presse für aufsehenerregend gehalten, obwohl ein sehr ähnliches Dokument offenbar bereits seit vielen Jahren bekannt und veröffentlich worden war. (Das erwähnte auch “Bild”, ließ sich dadurch aber nicht davon abbringen, das “Dokument der abgrundtiefen Schande” auszuschlachten.) Ein weiteres Exemplar hängt anscheinend seit vielen Jahren im Info-Zentrum der Birthler-Behörde. Inzwischen hat man den Eindruck, es gebe fast täglich neue solcher Funde aus der Behörde und darüber hinaus vermutlich zahllose bislang unentdeckte.

Nun ja… Wie uns die Sprecherin der Birthler-Behörde, Ilona Schäkel, bestätigt, gibt es bisher mindestens fünf Funde, die eine ausdrückliche “Schießbefehl”-Formulierung enthalten (siehe Kasten). Die Dokumente seien jedoch teilweise “von unterschiedlichen Kompaniechefs unterzeichnet”. Bislang gibt es laut Schäkel mindestens zwei verschiedene Namen unter den “Schießbefehlen”. Zudem gilt als unwahrscheinlich, dass damals Kompaniechefs wie der “ehemalige Hauptmann und spätere Major” aus “Bild” ausdrückliche (und identisch formulierte) Schießbefehle wie den jetzt gefundenen eigenmächtig und ohne entsprechende Order erteilt haben sollten. (“Bild” selbst schrieb noch vor einer Woche über ein weiteres, nicht unterzeichnetes “Schießbefehl”-Dokument: “Nach BILD-Informationen soll es von Generalleutnant Karl Kleinjung († 2003) stammen, Chef der Hauptabteilung I des Stasi-Ministeriums.”) Und es gibt Mitarbeiter der Birthler-Behörde, die ohnehin davon ausgehen, dass in den Akten noch “hunderte solcher Befehle” lagern.

Kurzum: “Bild” fand offensichtlich nicht “den Mann, der den Schießbefehl gab”, sondern einen der Männer, die einen Einsatzbefehl unterzeichneten, der einen Schießbefehl enthielt. Als er “Bild” die Wohnungstür öffnete, trug er Unterhemd und Jogginghose.

*) “Bild” selbst schrieb am Samstag, dass der Mann, den “BILD fand”, schon mal “im Blickpunkt der Öffentlichkeit” stand. Er musste sich 2003 vor Gericht als Kommandant eines Stasi-Spezialkommandos für einen Einsatz verantworten, bei dem Michael Gartenschläger erschossen wurde. Aus der Zeit des Gerichts-Prozesses stammt auch das Foto, das “Bild” zeigt.

Nachtrag, 22.8.2007: Die Sprecherin der Bithler-Behörde bittet um Korrektur: Die uns gegebene Auskunft, die bislang gefundenen “Schießbefehle” seien teilweise “von unterschiedlichen Kompaniechefs unterzeichnet” worden, sei falsch. Es gebe, anders als die Behördensprecherin uns zunächst gesagt habe, nicht mindestens zwei verschiedene Namen unter den “Schießbefehlen”. Vielmehr seien “bisher nur Dokumente ohne Unterschrift des Kompaniechefs oder mit der Unterschrift von Kompaniechef Wolfgang Singer” gefunden worden. Schäkel bedauerte ihren Irrtum. Richtig bleibe jedoch dennoch die Annahme der Behörde, dass dieser Kompaniechef den “Schießbefehl” nicht eigenmächtig und ohne entsprechende Order erteilt haben dürfte — und insofern nicht der Mann sei, der den “DDR-Schießbefehl” gab. Und für Thomas Auerbach, den Leiter der Birthler-Außenstelle Schwerin (wo ebenfalls ein “Schießbefehl” gefunden wurde) ist der Eindruck, den die “Bild”-Zeitung mit ihrer Berichterstattung erweckt, für den Nicht-Laien geradezu lachhaft: Natürlich sei so ein Auftrag “von oben abgesichert”, so Auerbach auf Nachfrage von uns, ein Hauptmann oder Kompaniechef “saugt sich sowas nicht aus den Fingern”.

Vom Nutzen der Homestory für die Demokratie

In einem Beitrag für das Jahrbuch 2007 des Deutschen Presserates schreibt “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann unter dem Titel “Boulevard und Persönlichkeitsrechte — wie weit darf die Neugierde gehen?” unter anderem über einen Fall wie den von Horst Seehofer:

Wenn ein Minister der Partei für freie Liebe ein außereheliches Verhältnis hat, liegt das im Rahmen des Programm- wie Lebensentwurfs, ist stimmig und allein seine Angelegenheit; wenn der Minister allerdings einer Partei angehört, die sich ausdrücklich zum christlichen Familienbild bekennt, ist die Verletzung eines Sakraments von ganz anderer Qualität, wenn auch allein nicht notwendig ausreichend, um die Publizierung zu rechtfertigen.

Kommt jedoch hinzu, dass jener Politiker sein vordem mustergültiges Eheleben zu Wahlen plakatiert, das weniger dauerhafte Familienglück der politischen Gegner als Ausweis charakterlicher Defizite bespöttelt, darf schon aus Gründen der Waffengleichheit die öffentliche Neugier sehr weit gehen1) — zumal wenn sich der Minister um den Vorsitz eben jener christlichen Partei bewirbt.2)

Die entgegengesetzte Ansicht, wonach Privatangelegenheiten grundsätzlich nichts in den Medien zu suchen hätten, muss die Frage beantworten, ob nicht gerade dieser Weg zu einer Verfälschung des Wählerwillens führt, wenn dem Wähler die Integrität des Kandidaten wichtiger ist als irgendein Parteiprogramm. Dass Voten auf der Grundlage charakterlicher Profile darüber hinaus weitaus lebensklüger sind als nach programmatischen Vorgaben, ist zudem offensichtlich. (…) Auch dies ist ein Grund, nicht allzu hochmütig auf Homestories3) und Familienportraits herabzublicken, die Aufschluss über den wahren persönlichen Wertekanon geben. Für das Votum des Wählers, dessen souveräne Entscheidung auch hinsichtlich seiner Informationsquellen ohne Dünkel geachtet werden sollte, ist dieses Genre der Berichterstattung vermutlich wichtiger als politische Analysen.

______________

Anmerkungen von uns:

1) Erstaunlicherweise nannte die “Bild”-Zeitung die Enthüllungen über Seehofers Privatleben, die nach Ansicht des Chefredakteurs geradezu staatsbürgerliche Pflicht waren, zunächst “schmutzig”:
Machtkampf in der CSU wird schmutzig

2) Notfalls finden sich aber offenbar auch andere Vorwände Gründe, um über das Privatleben von Politikern zu berichten. So berichtete SPD-Politiker verschweigt Babydie “Bild am Sonntag”, deren Herausgeber Diekmann ist, am 12. August in großer Aufmachung darüber, dass ein führender SPD-Politiker von seiner Frau getrennt lebe und die Scheidung laufe; mit einer anderen Frau habe er vor einigen Monaten ein Kind bekommen. Der “BamS”-Artikel rechtfertigte die Veröffentlichung damit, dass auf der offiziellen Homepage des Bundestages nicht die richtige Zahl der Kinder des Politikers angegeben gewesen sei.

3) Ob damit Diekmanns frühere Selbstverpflichtung hinfällig ist, vor dem Hintergrund des sogenannten Caroline-Urteils in Zukunft auf Homestorys über Politiker zu verzichten, um sich nicht den Vorwurf der “Hofberichterstattung” auszusetzen, wissen wir nicht.

Polizei findet “Bild”-Bericht grenzwertig

Es ist nicht das erste Mal, dass “Bild”, nachdem jemand von der Polizei mit einem Fahndungsfoto gesucht und gefunden worden war, anschließend ein großes, identifizierbares Foto des mutmaßlichen Täters zeigte.

Auch der Presserat hatte sich noch im Juni mit einem ähnlichen Fall (damals zeigte “Bild”, wie berichtet, das Foto einer jungen Frau) befasst — und, wie berichtet, die “Bild”-Veröffentlichung missbilligt, da “kein öffentliches Interesse” zu erkennen sei, “das die Persönlichkeitsrechte der Frau überlagert hätte”. Daran habe auch die Tatsache nichts geändert, dass nach der Betroffenen mit Hilfe einer Kameraaufnahme gefahndet wurde:

Mit dem Auffinden der jungen Frau erlosch jedenfalls das Fahndungsinteresse der Polizei (…). Danach hätte die Zeitung auf eine erkennbare Darstellung der Betroffenen verzichten müssen.

Wie wenig diese Missbilligung die “Bild”-Zeitung beeindruckt hat, zeigt ein aktueller Fall:

Es geht dabei um einen Mann, der von der Polizei Bremen wegen “schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes” gesucht und am vergangenen Mittwoch festgenommen wurde. Laut Polizei konnten zwar weitere mutmaßliche Opfer “noch nicht namentlich ermittelt” werden, doch sei der Mann, “ein 38-jähriger Lehrer aus Cuxhaven”, inzwischen teilweise geständig, der Fall “aufgeklärt”.

Die Bremer “Bild”-Zeitung, die zuvor auch den Fahndungsaufruf verbreitet hatte, nahm die nun erfolgte Festnahme am Samtag zum Anlass für einen neuen, großen Artikel — und nannte darin nicht nur den (abgekürzten) Namen und Details zum Familienstand, sondern auch den Namen der Schule, an der er unterrichtet. Dominiert wird der Artikel jedoch (siehe Ausriss) vom einem großen Foto, das “Bild”, wie uns die Schule mitteilt, unerlaubterweise von deren Homepage hat und das “Bild” ohne jegliche Unkenntlichmachung zeigt.

Ein Sprecher der Polizei Bremen betonte auf Anfrage von uns, dass das Foto “kein Fahndungsfoto” und auch “nicht von der Polizei herausgegeben” wurde. Obwohl nicht auszuschließen sei, dass der “Bild”-Bericht bei der Suche nach den Opfern behilflich sein könnte, hält die Polizei die Veröffentlichung des Fotos mit Hinweis auf die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters für “sehr grenzwertig”.

Mit Dank an Christopher und andere für den Hinweis.

“In einem Stil, der Mitgefühl heuchelt”

Kürzlich hat die “Bild”-Zeitung Disko-Bilder von Natascha Kampusch und ihrem angeblichen Freund veröffentlicht. Wie hat sie darauf reagiert?

“Bild” vom 17.7.2007:

“Erste Liebe! (…) Nach 8 Jahren Geiselhaft hat sie jetzt richtig ins Leben zurückgefunden. Es sind Fotos des unbeschwerten Glücks! SIE hält den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Blonde Strähnen fallen über die Stirn. Das Gesicht, ein einziges seliges Lächeln! ER legt vertraut seine Hand an ihren Kopf, flüstert ihr ins Ohr, drückt sie. Zwei junge Menschen, innig und vertraut. (…) Natascha zeigt sich ohne Scheu mit dem jungen Mann auf der Tanzfläche. (…) So viel Glück überrascht selbst Nataschas Eltern.”

Das hat sie geschmerzt. Die Geschichte war erstunken und erlogen. Diesen Freund gibt es nicht. Ich bin fassungslos, dass hier Dinge geschrieben wurden, die von der “Bild”-Zeitung nicht nachgeprüft wurden. Und dann auch noch in einem Stil, der Mitgefühl heuchelt. Es ist auch nach wie vor auch zweifelhaft, wie diese Fotos zustande gekommen sind. Denn eigentlich geht sie nicht gern in die Disko und scheut solche Plätze.
(Aus einem “Stern”-Interview mit dem ORF-Journalisten Christoph Feurstein — mit Links von uns).

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