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FM4-Hörer bringt Opernball-Schönheit um

Wenn es nach den Autoren der österreichischen Boulevardzeitung “Österreich” geht, hätte sich der junge Mann, der in Wien unter Mordverdacht steht, wenigstens ein hässliches Opfer suchen können: In etwa jedem zweiten Satz betonen sie, dass seine ermordete Freundin eine “hübsche”, ja gar “bildhübsche” Frau gewesen sei. Und damit sich die Leser selbst überzeugen können, ob “Österreich” mit dieser Einschätzung richtig liegt (Geschmäcker sind ja auch bei toten jungen Frauen verschieden), hat die Zeitung in ihrem Internetportal genügend Fotos der “Opernball-Schönheit” aufgefahren, die entweder den Copyright-Vermerk “privat” tragen oder aus der Opernball-TV-Übertragung des ORF stammen, in der die Frau zu sehen war.

Wie mag die Redaktion wohl an diese Fotos gekommen sein? “Österreich” liefert eine naheliegende Erklärung:

Ein junges Traumpaar, das auch gern Privat- und Urlaubsfotos im Internet zeigt. Ihr Beziehungstraum: “Liebe ist … jemanden zu haben, der dich nimmt, wie du bist.”

Über den jungen Mann scheint “Österreich” nicht ganz so viel herausgefunden zu haben, und so muss als Charakterisierung reichen, dass er ein “leidenschaftlicher FM4-Hörer” sei — diese Information ist dann auch wichtig genug für eine Zwischenüberschrift und eine Erwähnung in der Folgeberichterstattung.

“Österreich” zeigt aber nicht nur das Opfer, sondern nennt auch noch das Alter, den Vor- und den abgekürzten Nachnamen der jungen Frau und des jungen Mannes, sowie Hintergründe zu deren Elternhäusern und gibt – jetzt ist’s offenbar eh egal – die exakte Adresse der Wohnung an, in der die Frau erstochen wurde.

Der Täter, daran lässt die Überschrift kein Zweifel, muss der Freund der Toten sein. Blöderweise gilt aber auch Österreich (das Land) als Rechtsstaat, weswegen “Österreich” (die Zeitung) zu dieser kreativen “Distanzierung” greifen muss:

Wie die Polizei später feststellte, hatten die beiden zunächst eine Flasche Wein geleert, danach wurde […] im Schlafzimmer durch mindestens acht Stiche in den Oberkörper getötet – […] (für den die Unschuldsvermutung gilt) rannte nach den schrecklichen Szenen auf die Straße und irrte in Wien-Margareten umher.

Und wenn Sie das alles schon beunruhigend fanden, dann warten Sie mal ab, wie “Österreich” die Geschichte am Donnerstag weiter erzählte:

Jetzt sitzt er da, der FM4-Fan und […]student […] in der U-Haft […] in Wien – geknickt und voll Selbstmitleid und bekommt mehr Besuch, als er erwartet hat. Fast stündlich klopft ein anderer Anwalt an die Zelle, um den Aufsehen erregenden Fall zu übernehmen. Dabei betet der Verdächtige (für den die Unschuldsvermutung gilt) immer dieselben Worte herunter: “Ich kann mir das alles nicht erklären. Ich hab sie doch so geliebt.”

Unterhält man sich ein paar Minuten mehr mit dem […], liefert er dann doch (s)ein Motiv für die Bluttat an der hübschen […], mit der er seit zwei Jahren zusammen war und mit der er seit einem Jahr in Wien in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebte.

Entweder, der Reporter von “Österreich” hat eine sehr lebhafte Phantasie — oder er war tatsächlich bei dem jungen Mann (für den die Unschuldsvermutung gilt) in der U-Haft-Zelle und hat sich von dem Tatverdächtigen, der offensichtlich noch ohne anwaltlichen Beistand ist, ein mutmaßliches Motiv und eine ebensolche Tatbeschreibung geben lassen.

Wir sind uns nicht sicher, was beunruhigender wäre.

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Hitlers Familienserie

Vielleicht muss das einfach mal schnell gesagt werden:

“Eine sensationelle Entdeckung”? “Spektakuläre Entdeckung”? “Aufgespürt”? — Die Begeisterung, mit der zur Zeit unzählige Medien im In- und Ausland die Nachricht weiterverbreiten, dass zwei belgische “Hitler-Jäger” in den USA und in Österreich die noch lebenden Verwandten von Adolf Hitler ausfindig gemacht haben wollen, ist weitgehend ungegründet.

Fast alles, was jetzt über (Achtung tag cloud!) den Journalisten Jean-Paul Mulders, den Historiker Marc Vermeeren, die Familien Hietler, Hiedler, Hütler oder Huetler im österreichischen Waldviertel sowie Louis, Brian und Alexander A. Stuart-Houston auf Long Island berichtet wird, stand u.a. schon 2006 unter Berufung auf die belgische Tageszeitung “Het Laatste Nieuws” in der “FAZ”.* Dort fand sich auch folgender, in schönster Feuilletonprosa verfasster Satz:

Spektakulärer als die der vorherrschenden Auffassung der Geschichtsschreibung entsprechenden Erkenntnisse von Mulders sind die Methoden, die der belgische Journalist bei seinen sechs Monate dauernden Recherchen genutzt hat. (…)

Mit Dank auch an treets, Andre E. und Soe.

*) Als die Erkenntnisse der “Hitler-Jäger” im Frühjahr 2009 als Buch erschienen, interessierte das übrigens kaum wen. Deutschlandradio Kultur fasste das Werk damals ironischerweise so zusammen: “Historische Forschung, wie sie die Boulevardpresse betreibt.”

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