Früher, als noch nicht ganz so viel passierte, war Lokaljournalismus ein überschaubares Geschäft. Hin und wieder wurde ein Scheck übergeben, der Bürgermeister gab einen neuen Radweg frei, oder eine Delegation aus der Partnerstadt kam zu Besuch. Aber natürlich war nicht immer alles nur harmonisch. Manchmal platzte am frühen Nachmittag eine Polizeimeldung hinein in die redaktionelle Idylle. Dann hatte zum Beispiel ein Trickbetrüger an der Haustür eine alte Frau überrumpelt. An diesen Tagen waren selbst die Redakteure erschüttert. Dann erschienen Meldungen wie diese:
Und wenn die Betrüger, obwohl Umgangsformen damals noch eine sehr große Rolle spielten, nicht zuvorkommend waren, sondern — ja, das kam vor — ausgesprochen dreist, zögerten die Redakteure natürlich nicht, auch das zu erwähnen:
In vielen Redaktionen ging das über Jahre so, aber dann muss etwas passiert sein, das mit einem Mal alles veränderte.
Möglicherweise hatte sich in der Branche herumgesprochen, dass mit der immer größer werdenden Zahl an alten Menschen ein neuer Markt entstanden war, der deutlich attraktivere Ertragschancen bot als die klassischen Segmente Einbruch und Taschendiebstahl.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Viele Menschen in diesen Gewerben sattelten um. In einigen größeren Städten gab es bald mehr Trickbetrüger als Grundschullehrer. Und natürlich, das hatte auch Vorteile. Die alten Menschen mussten tagsüber nicht mehr alleine sein: Die Enkeltrick-Betrüger meldeten sich oft schon frühmorgens. In den Nachmittagsstunden klingelte der Mann mit dem gefälschten Stadtwerke-Ausweis.
Der große Nachteil war: Sie alle hatten Erfolg. Die Geldverstecke der Senioren ließen sich leichter plündern als ein offener Tresor in der Fußgängerzone. Und so ergab sich bald auch ein Problem für die Journalisten: Keine Redaktion konnte Tag für Tag seitenweise Meldungen veröffentlichen, in denen es einzig und allein darum ging, wie Betrüger und dreiste Diebe alte Menschen mit großer Leichtigkeit um ihr Vermögen brachten. Andererseits konnte kaum eine dünn besetzte Redaktion komplett auf diese Nachrichten verzichten.
Kein triviales Problem. Aber man fand eine Lösung.
Journalisten berichten über außergewöhnliche Ereignisse, nicht über gewöhnliche. Warum sollte man also nicht auch in diesem Fall so vorgehen? Dass ältere Menschen an der Haustür ausgeplündert oder per Telefon erleichtert wurden, war inzwischen der tägliche Normalfall. Ein ganzer Tag ohne überrumpelte Senioren oder ein erfolgloser Versuch — das wäre eine Meldung gewesen!
So fand man einen neuen Ansatz, der das Problem immerhin vorübergehend löste:
Die Praxis setzte sich schnell durch. Mit der weiter steigenden Zahl an Betrugsfällen gingen immer mehr Redaktionen dazu über. Generell wurde nur noch dann berichtet, wenn die Ausführung misslungen war.
Die Betrugswelle hatte mittlerweile so große Ausmaße erreicht, dass sich kaum noch die Möglichkeit bot, über Einzelfälle zu berichten. Besonders dramatisch war dieser Fall:
Lediglich 20 Münsteraner fielen nicht herein. Alle anderen schon?
Die Polizei wurde immer machtloser. In einigen Fällen geriet sie sogar selbst ins Visier der Betrüger und dreisten Diebe. Die Bevölkerung mutmaßte: Wenn auch hier nur über die gescheiterten Versuche berichtet wurde, musste die Zahl der geglückten Fälle gewaltig sein.
Der damit einhergehende Vertrauensverlust in die Polizei zwang auch die Betrüger zum Handeln. Wenn sie weiterhin Erfolg haben wollten, konnten sie in dieser Situation unmöglich, wie bisher, vorgeben, Polizisten zu sein.
Immer öfter scheiterten sie, schließlich sogar in Bremen-Nord.
Jeden Tag las man nun solche Meldungen:
In den Redaktionen ergab sich wieder das gleiche Problem, das man mit der Hinwendung zu den gescheiterten Fällen schon gelöst geglaubt hatte. Täglich häuften sich die Meldungen von erfolglos verlaufenen Enkeltrick-Anrufen, entlarvten falschen Polizisten und furchtlosen Rentnern, die Diebe in die Flucht geschlagen hatten. Wer sollte all das veröffentlichen?
Die Meldungsbeine platzten aus allen Nähten. Große Ratlosigkeit. Dann passierte etwas Unerwartetes, die Geschichte nahm eine überraschende Wendung. Und so löste sich ein weiteres Mal auch für die Journalisten das Problem:
Vielleicht erinnern sich einige noch, wie das damals als Kind war. Fahrt in den Sommerurlaub. Das Auto vollgepackt. Man selbst auf der Rückbank. Und so nach ein, zwei Stündchen hatte man zum ersten Mal das Gefühl, dass man die Erde langsam wohl umrundet haben müsste. Also fragte man, wann man denn nun endlich da sei, hörte, dass es doch noch eine Weile dauern werde. Und wenn sich das Gefühl ein paar Minuten später wieder einstellte, fragte man eben noch mal. Und noch mal. Und noch mal.
So konnten Stunden vergehen, und ich habe ein bisschen das Gefühl, dass es den Journalisten mit Donald Trump ganz ähnlich geht. Nur da hält das mit der Fragerei jetzt schon seit zwei Jahren an.
Im August 2015 stellte die damalige “Fox News”-Moderatorin Megyn Kelly Donald Trump in einer Fernsehdebatte der republikanischen Präsidentschaftskandidaten eine Frage zu dessen frauenfeindlichen Tweets. Trump fand das unfair. Er bezeichnete die Moderatorin, natürlich via Twitter, als “Bimbo”. Später legte er in einem CNN-Interview noch einmal nach. Eine Entschuldigung lehnte er ab.
Zwei Monate später sagte Donald Trump in einem Interview einen Satz, der klang, als gebe er indirekt George W. Bush die Schuld daran, dass die Anschläge vom 11. September 2001 stattfinden konnten. Das Blog “US-Wahl 2016” fragte:
Zehn Monate später griff Donald Trump die Eltern eines muslimischen US-Soldaten an, der im zweiten Irak-Krieg gefallen war. Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” sah den nächsten Tabubruch und schrieb:
Ungefähr zur gleichen Zeit ließ Donald Trump bei einem Wahlkampfauftritt ein schreiendes Kind aus dem Saal tragen und verspottete die Mutter, nachdem er zunächst gesagt hatte: “Ich liebe Babys.” Der österreichische “Kurier” titelte: “Trump liefert bizarren Auftritt mit weinendem Baby”. Unter dem Artikel stand die Frage:
Doch dann kamen die Wahlen. Trump gewann und kündigte einen Einreisestopp für Muslime an. Eine Ungeheuerlichkeit, fanden viele. Da lag natürlich eine Frage nahe:
Und Trump ging noch weiter. Als ein Richter seine Pläne stoppte, verhöhnte er das Gericht. Der “Stern” hatte einen Verdacht:
Und wenn ein Gedanke sich erst einmal verfestigt hat — wir kennen das –, taucht er plötzlich in allen möglichen Zusammenhängen auf:
Mittlerweile drohte auch der Konflikt mit Nordkorea zu eskalieren. Die ganze Welt machte sich Sorgen. In diesem Fall waren aber ausnahmsweise nicht alle der gleichen Meinung:
Zwischendurch blieb es ein paar Tage ruhig. Es passierte nichts, was die Frage erneut hätte aufwerfen können — bis in Charlottesville eine Horde Rechtsradikaler durch die Stadt marschierte, eine Frau umgebracht wurde, und die Menschen in den USA von ihrem Präsidenten eine Stellungnahme erwarteten.
Donald Trump ließ sich dafür sehr viel Zeit. Als er sich schließlich äußerte, schien die Frage endlich ein für allemal beantwortet zu sein. Aber ganz sicher waren sich die Journalisten doch nicht.
Und als dann noch der CIA-Chef seinem Unmut Luft machte, hielt man es auch bei RTL.de für möglich, dass Donald Trump hier die allerletzte rote Linie überschritten haben könnte:
Hatte er dann aber doch nicht. Wieder ging alles weiter wie bisher. Vor wenigen Tagen passierte allerdings etwas Ungewöhnliches. Donald Trump trat in Arizona auf. Und bei seiner Kundgebung erwähnte er in wenigen Worten auch seine Kritiker. Es ging um das, was er im Konflikt mit Nordkorea gesagt hatte. Und wenn man seinen Kommentar liest, ahnt man schon, wie es mit den Fragen der Journalisten in den nächsten Wochen weitergeht:
Zum Boulevard gehört, dass die Schlagzeilen oft spannender klingen, als die Geschichten dahinter tatsächlich sind. Gut, es gibt auch Gegenbeispiele. Aber das sind wirklich eher Ausnahmen:
Im Prinzip kann man aus allem eine Schlagzeile machen. Ich will mal versuchen zu erklären, wie das geht. Am besten anhand von ganz alltäglichen Beispielen.
Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie kommen nach einer mehrtägigen Reise zurück nach Hause, aber Ihre Familie scheint nicht da zu sein. Alles ist dunkel, und in der gesamten Wohnung riecht es verdächtig nach Komposthaufen. Sie ziehen leise Ihre Schuhe aus und verfolgen den Gestank auf Socken zurück bis ins Kinderzimmer. Es ist dunkel, Sie können noch immer nichts sehen. Und deshalb bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist es der Hamsterkäfig. Oder unter dem Bett liegt eine Leiche.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Stop. Als Boulevardjournalist bleiben Sie im Türrahmen stehen. Wenn Sie jetzt unter dem Bett nachsehen, machen Sie sich womöglich eine sensationelle Geschichte kaputt. Und das wollen Sie ja wohl hoffentlich nicht riskieren.
Aber Moment — da war doch was? Aus der Küche dringen Geräusche. Wer könnte das sein? Der Mörder, der sich nach getaner Arbeit noch schnell ein Käsebrot schmiert? Ein stinknormaler Einbrecher? Ein Familienmitglied?
Schleichen Sie langsam zur Küche. Nehmen Sie am besten einen Kerzenständer mit oder irgendetwas anders, womit Sie zuschlagen können. Wir wollen es aber nicht zu kompliziert machen. Gehen wir also einfach mal davon aus, dass in der Küche ein Familienmitglied steht. Was machen Sie?
Die meisten Menschen würden irgendwie auf sich aufmerksam machen und sagen:
Oh, ich hab dich gar nicht gehört. Sag mal, im Kinderzimmer stinkt’s ja ganz schön.
Aber Sie sind Boulevardjournalist. Deshalb gehen Sie etwas anders vor:
Hör zu! Ich habe einen schrecklichen Verdacht! Sag mal, liegt im Kinderzimmer unter dem Bett eine Leiche?
Nun wird man Sie zu Hause allerdings schon kennen. Und wenn man ein bisschen weiß, wie Boulevardjournalisten so ticken, sieht man schon am Fragezeichen: Anscheinend keine Belege vorhanden. Die Antwort ist also meistens: “Nein!”
Sie kennen das von Bild.de.
Die ehrlichere Überschrift wäre:
Aber dann wäre es keine Story mehr. Sie müssten sich um andere Inhalte bemühen. Dazu müssten Sie recherchieren. Und das wollen Sie ja auch nicht.
Neulich hatten sie bei Bild.de eine Geschichte, in der noch eine andere Boulevard-Sirene mit dem geheimnisvollen Fragezeichen verknüpft wurde: das aufmerksamkeitsheischende Wort “irre”. Auf einem Foto war eine Frau zu sehen, auf deren Gesicht einige Skorpione herumkrabbelten. Darüber stand:
Das Wort “irre” passt im Boulevard immer, sobald etwas einen Millimeter von der Norm abweicht. Trainer wird in der Pressekonferenz etwas lauter. Song klingt live gespielt anders als sonst. Fußballer nimmt Dose vom Boden auf.
Das alles finden sie in der “Bild”-Redaktion “irre” (Okay, ich hab’ mir die David-Hasselhoff-Performance gerade noch mal angehört. Die klingt wirklich irre).
Man kann die Liste endlos fortführen. Sockenpaare nach dem Waschen noch vollständig. Handwerker kommt fünf Minuten zu früh. Taxifahrer hat passendes Wechselgeld. Irre!
Im Falle der Frau mit den Skorpionen im Gesicht stellte sich im Text dann heraus, dass die meisten Skorpione allenfalls so gefährlich sind wie Bienen oder Wespen — und die Frau sicher mutig war, aber ganz sicher nicht “irre”. Irre war eigentlich nur eins an der Geschichte: die Dachzeile.
Aber noch einmal zurück in die Küche. Da werden wir das gerade Gelernte gleich anwenden können. Sie stehen also noch immer in der Tür und wissen: Die Geschichte mit der Leiche nimmt Ihnen hier keiner ab. Was also machen Sie?
Genau. Da war ja noch der Hamsterkäfig. Und wenn der die Ursache für diesen unglaublichen Gestank sein sollte, dann steht eines sicher fest: Irgendetwas mit den Viechern stimmt nicht. Nur, wie verkaufen Sie das zu Hause?
Du, ich glaub, die Kinder müssten den Hamsterkäfig langsam mal wieder saubermachen.
Nein. Vollkommen falsch. Vergessen Sie nicht: Sie sind Boulevardjournalist. Probieren Sie es doch einfach mal so:
Haben Sie das Prinzip verstanden? Gut. Dann testen wir das jetzt mal.
Diese Pfütze morgens vor der Dusche, die muss ja nun wirklich nicht immer sein.
Na? Wie würden Sie das formulieren?
Oder das hier?
Wenn beim Abtrocknen ein Glas zerbricht, dann werft es bitte nicht in den Mülleimer. Sonst greift nachher irgendwer rein und verletzt sich.
Genau:
Und das hier?
Der Junge verlangt aber neuerdings ganz schön viel Geld fürs Rasenmähen.
Vielleicht so?
Und wenn man dem Jungen das dann irgendwann mitteilt, kann man ihn ja vielleicht auch noch mal drauf hinweisen, dass er zu seiner kleinen Schwester auch mal etwas netter sein kann. Wie könnte man das Problem beschreiben?
Volle Punktzahl.
Jetzt muss man das alles natürlich noch irgendwie zur Sprache bringen. Zettel auf den Tisch legen hilft da erfahrungsgemäß wenig. Daher wäre ein guter Termin wohl das Abendessen. Überlegen Sie sich, wann ein guter Zeitpunkt wäre. Sehen Sie zu, dass alle Familienmitglieder am Tisch sitzen. Und dann stellen Sie am besten zuallererst klar, natürlich ganz stilecht:
Es beginnt immer damit, dass irgendjemand aus der Redaktion an einem Montagmorgen feststellt: Gar nicht so viel los heute. Vier Kollegen im Urlaub. Um 10 Uhr keine Pressekonferenz. Und anscheinend auch sonst keine Termine. Dann schauen sich die Redakteure den Kalender noch einmal ganz genau an und sehen, dass sich daran auch in den darauf folgenden Tagen nichts ändern wird. Zwei Stunden später versiegt überraschend der E-Mail-Fluss. Aber daran, dass die Penis-Verlängerungsangebote auch weiterhin im Minutentakt eintrudeln, ist zu erkennen, dass es an der Technik wohl nicht liegen wird. Und so wird langsam allen klar: Das muss das Sommerloch sein.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Das Sommerloch öffnet sich in jedem Jahr ungefähr zur gleichen Zeit, kommt aber trotzdem immer unerwartet. Kein Redakteur hat je damit gerechnet. Daher ist auch noch nie etwas vorbereitet worden. Es müssen schnelle Lösungen her.
Vor allem Lokalredaktionen haben das Glück, sich in diesem frühen Stadium noch ein paar Tage mit Umfragen über Wasser halten zu können. Freie Mitarbeiter schwärmen in die Fußgängerzonen aus, um dort Menschen, die für einen kurzen Moment unachtsam sind, um ihren Content zu erleichtern:
“Was ist Ihre Lieblings-Eissorte?”
“An welchem Ort genießen Sie die Sonne?”
“Wohin geht’s dieses Jahr in den Urlaub?”
Viele Leser warten schon seit Monaten darauf, dass diese Fragen endlich beantwortet werden. Die Redakteure wissen das natürlich und räumen den Umfragen entsprechend viel Platz ein. Aber nach ein paar Tagen geht auch dieser Vorrat zur Neige. Und dann bleibt nur noch eine allerletzte thematische Reserve: getürmte Tiere im Tümpel.
Sobald die Nachricht die Runde macht, dass wieder irgendein Viech ausgebüxt ist, sprechen sie in den Redaktionen die ersten Gebete, es möge bitte so lange wie möglich verschollen bleiben, damit sein Verschwinden auch in den nächsten Tagen noch Anlass für Berichte über die Suchaktionen, das weitere Vorgehen und Spekulationen liefert. Meistens wird es dann aber doch schnell wiedergefunden.
Das stellt die Redaktion vor größere Probleme, denn wie soll es weitergehen — ganz ohne Inhalte? Das rettende Ufer des Ferienendes ist noch nicht mal in Sichtweite. Es herrscht Ratlosigkeit. Die Redaktion stürzt in eine tiefe Krise. Und da kommen wir ins Spiel.
Hier wären drei praktische Tricks, die in Not geratenen Redaktionen garantiert helfen, das Sommerloch zu überwinden …
1. Die Ausschluss-Frage
Schauen Sie doch mal nach, ob im Postfach noch zwei Polizei-Meldungen liegen. Irgendwas aus den vergangenen Tagen. Der Handtaschen-Raub in der Innenstadt, der angefahrene Hund an der Gartenstraße. So was in der Art. Sie wissen schon. Haben Sie was gefunden? Gut. Dann rufen Sie doch mal die Polizei-Pressestelle an und fragen:
“Können Sie ausschließen, dass es zwischen den Taten einen Zusammenhang gibt?”
Können sie nicht? Aha. Das ist ja interessant. Vielleicht können die Polizisten sogar nicht einmal ausschließen, dass dieser Täter auch für den umgeworfenen Grabstein auf dem Friedhof neulich verantwortlich war und für den Sparkassen-Überfall am vergangenen Dienstag? Finden Sie nicht, dass Ihre Leser das wissen sollten? Schreiben Sie es auf — am besten so, wie der Polizei-Pressesprecher es Ihnen gesagt hat.
Und wo Sie den Mann schon mal dran haben: Fragen sie doch mal, ob die Polizei ausschließen kann, dass der Taschendieb neulich im Stadtpark ein Triebtäter war. Kann die Polizeistelle auch nicht ausschließen? Oha. Das ist dann ja vielleicht sogar was für die Seite eins.
2. Die Metamorphosen-Meldung
Sie finden gar keine Polizei-Meldungen in Ihrem Postfach? Kein Problem. Auch für den Fall hätten wir was. Haben wir hier im vergangenen Jahr schon erwähnt. Ist aber immer noch aktuell. Die Ausschnitte hier sind erst ein paar Tage alt.
Und warum soll das Format nicht auch in anderen Ressorts funktionieren?
Vielleicht haben Sie noch Fotos, die den Stadtpark im Winter zeigen. Vielleicht finden Sie sogar noch welche aus dem Herbst. Machen Sie eine Serie draus. So sieht der Stadtpark doch jetzt nicht mehr aus, oder?
Oder machen Sie einen Screenshot von Ihrer Nachrichten-Website. Mit jeder neuen Meldung in ihrem Angebot wird der historische Screenshot zu wertvollem Content.
Ach, und fragen Sie die Kollegen aus dem Sport. Suchen Sie sich die Tabelle der Fußball-Landesliga raus, am besten die von vor drei Wochen. Da hat sich doch kurz vor Saison-Ende noch einiges getan, oder? Sehen Sie. Die Leute lesen so was.
Und wenn die Kollegen aus dem Sport gerade im Urlaub sind, auch nicht schlimm. Fotografieren Sie einen Politiker, geben Sie ihm einen Kamm in die Hand, und danach fotografieren Sie ihn noch mal. Das geht ganz schnell. Und das funktioniert auch im überregionalen Politik-Teil.
Sagen Sie das am besten auch den Kollegen aus den anderen Ressorts. Die freuen sich. Bei denen ist über die Sommermonate ja auch nicht viel los.
3. Spekulative Hard Facts
Die Metamorphosen-Meldung gefällt Ihnen auch nicht so gut? Dann hätten wir noch einen dritten Vorschlag. Der ist garantiert was für Sie. Gibt es nicht noch irgendeine Meldung, die Sie wirklich gerne bringen würden? Denken Sie mal nach. Diese Brücke, die schon so lange gesperrt ist, die müsste doch langsam mal wieder freigegeben werden. Oder diese Straße. Irgendwie hat man auch den Eindruck, dass das Freibad demnächst für länger schließen könnte. Oder? Und in Richtung der Straßenbahn-Haltestelle hat’s doch gestern Abend so einen lauten Knall gegeben. Klang das nicht ein bisschen wie ein Pistolenschuss? Finden Sie auch? Will aber keiner bestätigen? Egal. Schreiben Sie’s einfach. Die anderen machen’s ja auch.
Ein 16-Jähriger soll vor ein paar Tagen in Lörrach zusammen mit zwei Komplizen einen Getränkemarkt überfallen haben. Noch ist nicht bewiesen, dass er wirklich einer der Täter ist, aber es spricht sehr viel dafür. Die Polizei fand einen Teil der Beute, insgesamt 13 Flaschen Alkohol im Wert von 500 Euro, im Zimmer des jungen Mannes, und was für ihn noch etwas unglücklicher ist: Am Tatort lag sein Ausweis.
Der erste Gedanke ist da natürlich: Wie kann so etwas passieren? Wie oft im Leben verliert man seinen Ausweis? Wie oft passiert das nüchtern? Und vor allem: Wie oft fällt einem der Ausweis in Situationen aus der Tasche, in denen man genau weiß, dass man auf keinen Fall Spuren hinterlassen darf?
Ich würde vermuten, die Wahrscheinlichkeit ist nicht wesentlich höher als die, dass einem Einbrecher beim Verlassen des Tatorts ein Flugzeug auf den Kopf fällt. Es könnte aber sein, dass ich mir irre, denn wenige Stunden nach dem Einbruch in den Getränkemarkt beobachtete in München ein Zeuge, wie ein Mann, etwa Mitte dreißig, versuchte, die Tür eines Geschäftshauses einzutreten. Der Zeuge rief die Polizei. Der Einbrecher flüchtete auf dem Fahrrad, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn vor der immer noch verschlossenen Tür des Geschäftshauses lag eine Kundenkarte mit seinen Personalien.
Islamistische Terroristen, das wissen wir spätestens seit dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin, lassen ihre Ausweise absichtlich am Tatort zurück. Sie wollen die Welt wissen lassen, was ihre kranken Gehirne ihnen geflüstert haben. Ihre Taten sollen ein Mahnmal sein.
Bei den beiden Männern, die an einem Dienstagabend im März in Essen-Rüttenscheid in ein Blumengeschäft einstiegen, ist davon nicht auszugehen. Auf den ersten Blick war wohl gar nicht so klar, ob sie überhaupt das Prinzip des Einbruchs verstanden haben, denn eigentlich lassen Einbrecher ja Dinge mitgehen. Hier aber lag das Geld verteilt auf dem Boden. Und eben Ausweise. Wenn der Plural in der Polizeimeldung tatsächlich stimmt, sogar die beider Täter. Und das lässt sich mit Pech alleine wohl nicht mehr erklären?
Aber womit dann? Mit der Rechtslage?
In Deutschland ist jeder Mensch ab dem vollendeten 16. Lebensjahr verpflichtet, sich ausweisen zu können. Kann natürlich sein, dass das Pflichtbewusstsein hierzulande auch bei Einbrechern so ausgeprägt ist, dass sie im Falle einer Festnahme neben der Anklage wegen Einbruchs auf keinen Fall auch noch Ärger wegen eines fehlenden Personalausweises riskieren wollen. Und dann passiert das, was man selbst von längeren Bahnreisen kennt: Aus Sorge, irgendein wichtiges Dokument nicht eingesteckt zu haben, durchwühlt man zu Hause das Gepäck noch zwei überflüssige Male. Und dann lässt man die Tasche am Bahnhof beim Bäcker stehen.
Die Frage ist, ob das auch passieren würde, wenn man wüsste, dass man die nächsten Jahre bei Verlust der Tasche im Gefängnis verbringt. Ich vermute, da wäre man etwas vorsichtiger. Kriminellen dagegen scheint so was egal zu sein. Dabei müssen sie ja eigentlich nur an ein Dokument denken. Und mit dem können sie anstellen, was sie wollen. Nur eben eins nicht.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Was wohl in anderen Berufen los wäre, wenn über die in ihnen tätigen Menschen immer wieder solche Meldungen zu lesen wären? Architekt baut Haus ohne Türen. Bäcker vergisst, Brote zu verkaufen. Feuerwehr fährt ohne Schläuche los.
Und das nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Das sind ja Dinge, die man am ersten Tag lernt. Irgendwann schlügen wahrscheinlich die Berufsverbände Alarm. Danach würde man, um einfach etwas Sichtbares zu unternehmen, die Ausbildung reformieren. Und hier liegt wahrscheinlich auch das Problem mit den Einbrechern und Bankräubern. Ihre Lehre ist so gut wie überhaupt nicht organisiert. Während Finanzbeamte in Schulen lernen, die Leute um ihre Einnahmen zu erleichtern, eignen Einbrecher sich ihr Wissen ausschließlich in der Praxis an. Die Theorie fehlt vollkommen. Und das bleibt nicht ohne Folgen.
Es ist ein klassisches Bildungsproblem. Der Beruf steckt in der Krise. Andererseits sind die Beschäftigungsaussichten in Deutschland hervorragend. Nicht einmal jeder fünfte Täter wird gefasst. Das zieht Quereinsteiger an. Und vielleicht liegt hier auch die Erklärung für das Phänomen mit den Ausweisen. Als Einbrecher läuft das Geschäft anders als in Ausbildungsberufen. Die Kontaktdaten zurückzulassen, ist hier vollkommen zwecklos. Auch wenn die Leute sehen, dass man gute Arbeit geleistet hast — sie werden einen nicht empfehlen, und sie geben einem auch keine neuen Aufträge.
Facebook hat vor Kurzem in der “Bild”-Zeitung erklärt, wie man Falschmeldungen erkennen kann. In einer großen Anzeige hat der Konzern zehn Tipps gegeben:
Wohl aus Platzgründen fehlen in der Anzeige leider die Beispiele. Aber kein Problem. Platz haben wir genug — die Beispiele liefern wir nach. Hier also noch einmal die zehn Tipps zum Erkennen von Falschmeldungen. Mit den entsprechenden Beispielen. Und warum nicht gleich aus der Zeitung, in der die Hinweise zu lesen waren?
1. Lies die Überschriften kritisch.
Klingen die Titel etwas überdreht, unglaubwürdig, und steht am Ende vielleicht sogar ein Rufzeichen? Sehen die Überschriften also zum Beispiel so aus?
Dann solltest du aufpassen. Was kannst du machen? Verfolge die Berichterstattung in den darauf folgenden Tagen. Manchmal erscheint später eine Korrektur oder Entschuldigung. Aber aufgepasst: Dubiose Nachrichten-Portale korrigieren Berichte oft auch dann nicht, wenn längst bekannt ist, dass sie nicht richtig waren.
2. Sieh dir die URL genau an.
Diesen Punkt kannst du leicht nachprüfen. Hat die URL in der Adresszeile des Browsers vier Buchstaben? Endet sie mit “.de”? Sieht sie vielleicht so aus?
Dann sei lieber vorsichtig.
3. Überprüfe die Quelle.
Was weißt du über die Quelle? Finde etwas darüber heraus. Fang mit einer Google-Recherche an. Was behauptet das Medium selbst von sich?
Was sagen andere?
Wie ist dein Eindruck? Mach dir selbst ein Bild von der Seite.
Sprechen die Inhalte dafür, dass es sich um eine Nachrichten-Quelle handelt, der man vertrauen kann? Wie ist dein Gefühl?
4. Achte auf ungewöhnliche Formatierungen.
Wie wirken die Inhalte optisch? Seiten mit Falschmeldungen haben häufig merkwürdige Layouts:
Tippfehler:
Oder ungewöhnliche Gewichtungen:
Fällt dir so etwas auf? Dann vergewissere dich noch einmal genau.
5. Sieh dir die Fotos genau an.
Vor allem Bilder und Bildunterschriften können aufschlussreich sein, wenn es darum geht, sich einen ersten Eindruck zu machen. Wie sind die Menschen einzuschätzen, die diese Inhalte aufbereiten?
Kennen sie sich ein bisschen aus mit den Dingen, über die sie schreiben?
Wie gründlich arbeiten sie? Werfen sie einen Blick aufs Foto, bevor sie die Bildunterschrift schreiben?
6. Überprüfe die Datumsangaben.
Auch das Datum des Artikels kann nützlich sein, um einzuschätzen, wie sorgfältig und ehrlich hier gearbeitet wird. Sind die Nachrichten, die du auf der Seite findest, wirklich aktuell?
Oder versucht hier jemand, dir alte Berichte als Neuigkeiten unterzujubeln? Überprüfe es einfach. Manchmal hilft eine einfach Google-Recherche:
Vielleicht findest du den Artikel sogar auf dem gleichen Portal noch ein zweites Mal. Unseriöse Nachrichten-Seiten veröffentlichen alte Artikel später manchmal umdatiert neu, wenn sie gut gelaufen sind. Es geht schließlich um Klick-Zahlen:
7. Überprüfe die Beweise.
Zweifelhafte Seiten blasen Nachrichten gerne auf. Diese Meldungen erkennt man an ihrem abfallenden Aufbau. Es beginnt mit einer spannenden Überschrift:
Im Text klingt alles zunächst noch so, als ginge es hier um eine sagenhafte Entdeckung:
Aber letztlich kann man doch nur sagen:
8. Sieh dir andere Berichte an.
Du bist dir nicht sicher, ob das, was du gerade liest, auch tatsächlich stimmt?
Dann such am besten nach einer weiteren Quelle:
Du zweifelst noch immer? Dann hat Google manchmal ein paar hilfreiche Tipps:
Die Zahl der Suchtreffer kann ein guter Hinweis sein:
Und so kommt man dem richtigen Ergebnis langsam auf die Spur:
9. Ist die Meldung ein Scherz?
So leicht lässt sich oft gar nicht sagen, ob es sich um eine Nachricht handelt — oder einfach um Humor:
Manchmal denken Satiriker sich Dinge aus, die von der Wirklichkeit kaum zu unterscheiden sind:
Als Leser hast du im Grunde nur eine Chance: Du musst versuchen herauszufinden, ob das Medium, um das es geht, für Satire bekannt ist. Auch dabei hilft dir Google.
10. Einige Meldungen sind bewusst falsch.
Noch komplizierter ist die Situation nur, wenn Medien bewusst Neuigkeiten verbreiten, die einfach nicht stimmen:
Wenn du keine Möglichkeit hast, eine zweite Quelle heranzuziehen, dir die Formatierungen oder das Datum nicht weiterhelfen und auch URL oder Überschrift keinen Aufschluss geben, dann hilft dir nur noch eins: Geduld. Im Moment lässt sich zwar noch nicht sagen, wie valide die Information ist. Aber warte ab. Verfolge die Berichterstattung eine Weile. Dann wirst du vielleicht auch ohne zweite Quelle erkennen: Irgendetwas stimmt da nicht.
Schon komisch. Ständig geht alles Mögliche schief, aber Ernst Elitz hat nie irgendetwas zu beanstanden. Sieht er das denn nicht? Will er das nicht sehen? Woran liegt das? Wir wissen es nicht. Aber vielleicht hat er ja diesen Text gelesen. Dann müsste ihm doch etwas aufgefallen sein. Und wenn das so sein sollte, was sagt er dazu?
Fragen wir ihn doch einfach. Im Internet ist das ja möglich: Herr Elitz, entschuldigen Sie, dürften wir Sie kurz um eine Einschätzung bitten? So unter dem Strich, wie würden Sie die Sache beurteilen?
Ein Freund von mir hat vor Jahren eine gute Erfahrung mit einem Heilpraktiker gemacht. Er fühlte sich immer kränklich, hatte sich ein paar Mal untersuchen lassen, aber die Ärzte konnten nichts finden. Dann gab ihm jemand den Tipp, es mal bei einem Heilpraktiker zu probieren. Das tat er. Der Mann unterhielt sich mit ihm und schon nach einem kurzen Gespräch war er sich sicher, die Ursache des Problems gefunden zu haben. Er fragte meinen Freund: “Wissen Sie, was Ihnen fehlt?” Und gab die Antwort gleich selbst: “Zink.”
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Meine Freund war skeptisch, dachte aber: “Warum nicht? Ich probier das einfach Mal.” Er kaufte das Präparat, das der Heilpraktiker ihm empfohlen hatte, achtete in den Wochen darauf ein bisschen mehr auf seine Ernährung als sonst, und tatsächlich: Bald ging es ihm insgesamt besser.
Bis hierher klingt das noch alles ganz gut. Allerdings hat die Zink-Behandlung eine Nebenwirkung, die bis heute andauert. Wenn irgendjemand in der Gegenwart meines Freundes über ein Leiden klagt, Rückenschmerzen, eine Erkältung, plötzliche Schweißausbrüche oder ein Pochen im Zahn, hört er sich die Schilderung der Symptome geduldig an und stellt schließlich die Frage, die auch ihm gestellt wurde:
“In letzter Zeit spüre ich beim Treppensteigen immer so ein Ziehen in der rechten Schulter.”
“Vor allem im Winter hab’ ich Nierenschmerzen.”
“Wenn ich Fisch esse, spielt mein Magen verrückt.”
“Weißt du, was dir fehlt? Zink!”
Bislang hielt ich das lediglich für eine eigentümliche Marotte, aber dann las ich in der Zeitung die folgende Meldung. Und jetzt vermute ich, das Problem könnte doch etwas weiter verbreitet sein — und vor allem nicht nur meinen Freund betreffen.
In der kurzen Meldung stand, Forscher hätten herausgefunden, dass ein Trauma nach einem Unfall etwas weniger schlimm ausfallen könne, wenn die Menschen danach Tetris spielen.
Um ehrlich zu sein, ein bisschen hoffte ich, einen Fehler gefunden zu haben — einen Aprilscherz, der mit zwei Tagen Verspätung an irgendwem vorbei in die Zeitung gerutscht ist, aber im Internet inzwischen längst aufgeklärt wurde. Ich googlete das Ganze. War aber nicht so.
Auch der “Deutschlandfunk” meldete:
Ich fand allerdings noch eine andere Meldung. In der ging es um die Frage:
Intuitiv würde man eher vermuten, dass dieses Spiel Schlafstörungen verursacht, aber wenn es stimmt, was in diesem Text steht, scheint es unter gewissen Umständen auch ein Mittel dagegen zu sein.
Doch das ist noch nicht alles. Tetris kann offenbar noch viel mehr:
Und wenn man sich früher zwischen Kontaktlinsen und einer Brille entscheiden musste, dann hat man inzwischen noch eine dritte Möglichkeit:
Ich dachte darüber nach, ob es in der Wissenschaft vielleicht ganz ähnlich läuft wie bei meinem Freund mit dem Zink-Syndrom. Die Forscher sitzen mittags in der Kantine zusammen. Der verzweifelte Parkinson-Experte schüttet dem gut gelaunten Trauma-Fachmann sein Herz aus: “Seit Jahren suchen wir jetzt nach einem Mittel, aber wir kommen einfach keinen Millimeter weiter.” Und der Trauma-Forscher hat sofort eine Idee: “Wisst ihr, was euren Patienten fehlt?”
“Ähm, vielleicht Zink?”
“Nee. Ein Gameboy.”
Ich suchte weiter, und plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob so ein Mechanismus nicht tatsächlich existiert.
Und nachdem man jahrelang probiert hat, sich die Zigaretten mit allem Möglichen abzugewöhnen, liest man nun: Es wäre so einfach gewesen.
Auch auf anderen Gebieten scheint das Spiel ein Wundermittel zu sein. Vielleicht lesen wir irgendwann die Nachricht:
Experte: Tetris gute Alternative zum Gymnasium.
Dafür würde jedenfalls diese Meldung sprechen:
Und wenn auch das mit den Betablockern stimmt, warum sollte Tetris dann nicht auch Aspirin ersetzen können?
Dann bräuchten wir sonntagsmorgens endlich keine Pharma-Produkte mehr, sondern könnten auf jedem Geburtstag so viel durcheinandertrinken, wie wir wollten. Wir müssten eben nur darauf achten, dass der Gameboy nach dem Aufwachen neben dem Bett liegt und genügend Akku hat.
So weit ist die Forschung aber noch nicht. Wenn man “Aspirin” und “Tetris” bei Google eingibt, findet man lediglich einen 17 Jahre alten Werbespot, in dem das Unternehmen “Bayer” für seine Schmerztabletten wirbt — mit einer Szene, die Tetris nachempfunden ist. Man könnte den Spot auch so verstehen, dass Aspirin gegen Tetris hilft, aber das ist wohl anders gemeint. Über den umgekehrten Zusammenhang erfährt man jedenfalls nichts. Und auch auf einige weitere Fragen fehlen bislang die Antworten:
Immerhin für die Unfall-Patienten gibt es jetzt eine gute Nachricht: Das Trauma fällt etwas weniger schlimm aus, wenn man nach dem Unfall ein paar Runden Tetris spielt. Aber es ließe sich unter Umständen vollständig vermeiden, wenn man komplett auf Tetris verzichtet. Dann baut man vielleicht erst gar keinen Unfall.
Viele Dinge aus dem Internet findet man im Offline-Leben so nicht vor. Ich habe zum Beispiel noch nie gehört, dass jemand wegen einer Äußerung auf der Straße stundenlang und gleich von mehreren Menschen auf Übelste angepöbelt wird, und das alles gar nicht aufhören will, weil immer neue Menschen hinzukommen, die ihrerseits die Chance nutzen, mal ihre ganze Wut loszuwerden, brüllen und drohen, um das am Boden liegende Opfer schließlich mit Hitler zu vergleichen — und dann abzuhauen.
Im Internet passiert das ständig. Da nennt man das Shitstorm.
Umgekehrt gibt es aber auch reale Phänomene, die in der digitalen Sphäre so nicht zu finden sind. Zum Beispiel den Egg-Storm. Menschen oder Gebäude werden mit rohen Eiern beworfen. Anders als beim Shitstorm ahnen die Opfer oder die Besitzer der Gebäude allerdings meistens gar nicht, wofür sie bestraft werden.
Vor ein paar Tagen ist es wieder passiert. Diesmal in Freilassing:
Dort sogar schon zum dritten Mal. Im Februar gab es diesen Fall aus Germering:
Ende Januar wurden in Meitingen vier Hausbesitzer Opfer von Eier-Attacken:
Und irgendwie ja schon bemerkenswert: Um das Problem mit den Hass-Kommentaren in den Griff zu bekommen, hat der deutsche Justizminister in aller Eile ein neues Gesetz zusammenschrauben lassen. Aber was unternimmt er gegen die Egg-Storms? Die sind ja auch nicht gerade ungefährlich.
Hass-Kommentare haben jedenfalls noch keinen Auffahrunfall verursacht.
Und ein hartes Vorgehen gegen Eierwerfer wäre im Interesse großer gesellschaftlicher Gruppen:
Das Problem tritt in den Fußballstadien auf:
Und eigentlich ist es ein Wunder, dass aus der Wirtschaft noch niemand ein neues Gesetz gefordert hat. Denn die sind ja auch betroffen:
Aber vielleicht kommt das noch, und bald sehen wir den ersten Referenten-Entwurf der neuen Eier-Bewegungs-und-Beförderungs-Verordnung. Oder es gelingt sogar der, ähm, nun ja, ganz große Wurf: Ein bundesweites Eierhandels-Gesetz (EiHG), das in einem Unterparagraphen auch die von rohen Eiern ausgehenden Gefahren regelt.
Viel wäre da zwar nicht zu erwarten, denn Christian Schmidt versteht sich in seiner Bundeslandwirtschaftsminister-Rolle ja so ein bisschen auch als Sprecher der Agrar-Lobby. Andererseits ist er natürlich in der CSU, und Eier im öffentlichen Raum — das zeigt die Vergangenheit — gefährden die Sicherheit der Menschen.
Was also tun? Mehr Überwachung? Härtere Strafen? Rigorose Vorschriften, die nach dem Vorbild des Waffenscheins eine staatliche Erlaubnis zur Voraussetzung für das Mitführen von rohen Eiern machen?
Oder wäre das gar nicht möglich, weil der Eierwurf doch im Grunde ein Akt der freien Meinungsäußerung ist? Der letzte große Angriff auf dieses Grundrecht ist schließlich so krachend gescheitert, dass er heute immer noch mit einem Jahrestag gefeiert wird.
Man muss allerdings auch sagen: Der Eierwurf als solcher ist zwar eine wunderbar geradlinige Form der Meinungsbekundung, die keinerlei Zweifel daran lässt, wie die werfende zu der beworfenen Person steht. Als Argument geht die Tat aber nicht durch.
Und daran gibt es Kritik:
Sollten diese Kritiker sich durchsetzen, werden stark reglementierende gesetzliche Vorschriften immer wahrscheinlicher. Denkbar wäre zum Beispiel Folgendes.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Das Beschädigen oder Zerstören von rohen Eiern außerhalb von Gebäuden könnte mit hohen Geld- oder Freiheitsstrafen belegt werden.
Was dann passieren würde, kennt man allerdings schon aus dem Straßenverkehr, wo Menschen wie Kriminelle behandelt werden, weil ihnen die Glühbirne vom Rücklicht durchgebrannt ist. Die Polizei würde sich vor Supermärkten postieren, und wenn dann einer alten Dame das Frühstücksei aus der Einkaufstasche fällt — Zugriff!
Oder der Handel mit rohen Eiern würde eben ganz verboten. Das Problem dann wäre allerdings, dass irgendwer die Eier vor dem Verkauf kochen müsste. Natürlich zum Mindestlohn. Das würde die Eierpreise sicher um zwei bis drei Cent in die Höhe treiben, was auf einem preisempfindlichen Markt wie diesem enorme Umsatzeinbußen zur Folge hätte. Das macht das Szenario sehr unwahrscheinlich.
Wie auch immer es ausgeht, eines steht fest: Irgendwas muss passieren, denn das Problem droht völlig außer Kontrolle zu geraten. Eierwerfer machen deutsche Städte unsicher:
Menschen leben in Angst und Schrecken:
Kulturelle Veranstaltungen müssen wegen der ständigen Bedrohung abgesagt werden:
Und um welche Dimensionen es hier geht, zeigt unter anderem dieses Bild:
Allerdings soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass gar nichts unternommen würde. Die Polizei erscheint in ihren Bemühungen zwar manchmal etwas hilflos …
… aber zwischendurch gelingt auch der ein oder andere Erfolg:
Dazu setzen die Behörden modernste Methoden ein:
Und fahnden großflächig nach Verdächtigen:
Nur oft stellt sich am Ende heraus: Das Problem ist einfach zu groß. Es ist ein aussichtsloser Kampf gegen einen übermächtigen Gegner, in dem einfache Beamte nichts ausrichten können. Das ist ein Fall für Heiko Maas — oder den Verfassungsschutz:
Ernst Elitz ist Ombudsmann der “Bild”-Zeitung. Er schaltet sich ein, wenn Leser ihre politischen Ansichten falsch oder verzerrt dargestellt finden. Aber auch, wenn sie Zweifel an Fakten haben.
Seine erste Kolumne erschien am Donnerstag. Am Wochenende schrieb er gleich die nächste. Diesmal fand er sogar einen berechtigten Kritikpunkt. Nur leider schickte er die fertige Kolumne an die falsche E-Mail-Adresse. Sie landete bei uns. Wir veröffentlichen sie hier. Exklusiv bei BILDblog.
Liebe BILD-Leser,
zunächst muss ich Ihnen sagen: Julian Reichelt hat mich für meine erste Kolumne sehr gelobt. Darüber freue ich mich ganz besonders. Denn das zeigt: Er nimmt die kritische Auseinandersetzung mit BILD ernst. Aber kommen wir gleich zu den Zuschriften.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Ich bin den folgenden Fällen nachgegangen.
► BILD-Leser Maik Warschnitz schreibt: “Ich habe von verschiedenen Seiten gehört: Zu Karneval sind mehrere Pärchen in der Öffentlichkeit beim Liebesspiel gefilmt worden. Warum finde ich die Videos nicht bei Bild.de?”
Meine Antwort: Dafür habe ich leider keine Erklärung. Wir haben alle Aufnahmen veröffentlicht. Prominent auf unserer Startseite. Ich habe in der Chefredaktion recherchiert. Der Browser-Verlauf zeigt: Auch dort wurden sie gefunden.
Mein Urteil: BILD ist hier nichts vorzuwerfen.
► BILD-Leser Ferdinand Huhn fragt: “Früher habe ich immer gern die BILD-Korrekturspalte gelesen. Leider finde ich sie nicht mehr. Warum hat die Redaktion sie abgeschafft?”
Die Redaktion sagt: “Diese Frage hören wir oft. Die Antwort überrascht viele Leser: Wir haben die Korrekturspalte nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Oft würden wir Fehler gern berichtigen. Aber leider ist unser Platz begrenzt. Unsere Aufgabe ist es, die wichtigsten Themen des Tages auszuwählen. Wenn dazu unserer Meinung nach ein Fehler zählt, werden wir die Korrekturspalte auch weiterhin nutzen. Sie bleibt also ein ebenso fester Bestandteil der BILD wie das kritische Urteil von Ernst Elitz.”
Mein Urteil: Stark!
► Bei der Berichterstattung über Verbrechen wirft BILD-Leser Gisbert Holunder uns vor, oft einen Teil der Wahrheit zu verschweigen. So würden in vielen Fällen lediglich Fotos veröffentlicht, die das Opfer vor der Tat zeigen.
Meine Antwort: BILD-Reporter sind auch nur Menschen. Sie können nicht gleichzeitig überall sein. Vor allem bei Verbrechen sind wir auf Augenzeugen angewiesen. Und dabei dürfen wir nicht vergessen: Das sind keine Profis. Diese Menschen sind meistens von der Situation überfordert. In ihrer Panik vergessen sie, vom Tatort ein Foto zu machen. Und oft holen sie zunächst Hilfe, statt unsere Reporter zu kontaktieren.
Mein Urteil: BILD trifft keine Schuld!
► BILD-Leser und Türkei-Kenner Hans-Eberhard Müller aus Torgau (Sachsen) fordert “deutliche Worte” zu den “Mätzchen” des türkischen Präsidenten Erdogan.
Meine Antwort: BILD hat dazu deutliche Worte gefunden. Wir werden auch weiter über die Türkei und Präsident Erdogan berichten.
Mein Urteil: BILD hat alles richtig gemacht.
► BILD-Leser Kevin Knoblikowsky möchte wissen: “Warum hat das BILD-Girl eine Hose an?”
Meine Antwort: Sie haben vollkommen Recht. Das muss nicht sein! BILD steht für transparenten Journalismus. Diese Frage müssen wir uns gefallen lassen.
Die Redaktion sagt: “Die Fotos werden uns zugeliefert. Mit Photoshop ist da nichts zu machen. Aber wir bleiben an der Sache dran.”
Mein Urteil: Hier muss sich dringend etwas ändern.
► Stichwort Kommentar!
Manche Leser sind unzufrieden mit Berichten und Formulierungen, die ihrer eigenen Vorstellung von Anstand und Redlichkeit zuwiderlaufen.
Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Bauchchirurg schneidet hervorragend ab — Perlen des Lokaljournalismus”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Michael Martens hatte am Wochenende eine schlaflose Nacht. Der “FAZ”-Südosteuropa-Korrespondent hatte gehört, dass sich sein Kollege Deniz Yücel in Istanbul in Polizei-Gewahrsam befindet. Yücel hat zwei Pässe. Er ist nicht der erste Journalist mit einem türkischen Ausweis, dem so etwas passiert, aber der erste mit einem deutschen. Martens fragte sich: Hätte man das irgendwie verhindern können?
Zwei Stunden lag er schon da und grübelte. Aber noch war ihm das alles nicht so klar. Er wälzte sich von der einen Matratzenseite zur anderen, zum hundertsten Mal schon, doch es wollte weder Schlaf kommen noch eine Antwort. Und dann wälzte er sich wieder, nur dieses Mal ein kleines Stückchen zu weit.
Rumms!
Martens rutschte ab, versuchte noch, sich im Fallen am Bettlaken festzuhalten, aber das Laken glitt ihm aus der Hand. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen den Nachttisch und war kurz bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, hatte er eine Idee.
Ja. Eigentlich war doch alles ganz klar, dachte sich Martens: Vor einem halben Jahrhundert hatten die Deutschen sich die Türken ins Land geholt. Als die dann endlich ein paar Sätze verstanden, sagte man ihnen, was zu tun ist. Das erledigten sie. Und das wurde über die Jahre so beibehalten.
Nun sind wir allerdings inzwischen sehr gut mit Gemüseläden versorgt und müssen den Kindern und Enkeln der Türken daher in anderen Branchen Beschäftigungen zuweisen. Und da lässt man sie doch am besten das machen, wovon sie ihrem Namen nach wohl am meisten verstehen dürften. Irgendwas mit Türkei eben.
So war es wohl zu erklären, dass dieser Yücel jetzt in Istanbul einsaß.
All jene, die gegen jeden guten Rat Journalisten werden müssen, bekommen einen Korrespondenten-Job am Bosporus, denn was soll man sonst mit ihnen machen? Sie über Innenpolitik schreiben lassen? Das wäre ja wohl absurd — bei dem Nachnamen.
Aber sie in die Türkei zu schicken, ist natürlich auch nicht viel besser, denn da liefert man sie dem Despoten ans Messer, der sie dann umgehend einbuchtet, wie man nun wieder einmal gesehen hat.
Und das ist doch die Erklärung, wurde es Martens auf einmal ganz klar: Wer trägt also die Schuld? Natürlich. Die Verlage.
Wenn die sich bei der Zuordnung ihrer Korrespondenten zu den frei werdenden Stellen auch nur ein Minimum an Gedanken machen würden, säße dieser Yücel jetzt nicht im Gefängnis — und er selbst nicht hier in Griechenland.
Immer noch leicht benommen, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Der verdammte Nachtschrank, fluchte er, aber immerhin hatte es aufgehört zu bluten, und der Schmerz ließ langsam nach.
Martens prüfte noch einmal, ob seine These so auch stimmte: Haben denn wirklich so viele Türkei-Korrespondenten deutscher Medien türkische Wurzeln?
Na egal. Es war jedenfalls schon öfter vorgekommen, dass Deutsch-Türken auf Deutsch über die Türkei geschrieben hatten. Und bei Deniz Yücel war es offenbar noch schlimmer. Das sei “einer, der die Türkei liebt”, hatte er gelesen.
Als Journalist. Das muss man sich mal vorstellen.
Dass er selbst das liebte, worüber er schrieb, war bei ihm in all den Jahren nur ein einziges Mal vorgekommen. Aber welche Hollywood-Schauspielerin würde sich schon mit einem Journalisten abgeben? So war das nun mal. Und jetzt saß er auch noch in Griechenland fest.
Der Text floss ihm nur so aus den Fingern.
Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen “lieben” — aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet?
… formulierte er und las den Satz laut. Er gefiel ihm — besonders die Passage mit “Nordkorea oder Hintertupfingen”.
Als er den letzten Satz geschrieben hatte, ging Martens den Text noch einmal durch und war im Großen und Ganzen zufrieden. Er fand noch kleine Fehler, aber nichts, was den Eindruck getrübt hätte. Der Kopf tat schon gar nicht mehr weh. Aber an dieser einen Stelle blieb er doch immer wieder hängen. Und plötzlich war ihm etwas unwohl. Irgendwas stimmte da nicht.
Klang ja schon ein bisschen so, als wären türkischstämmige Journalisten hierzulande so etwas wie willenloses Verfügungsvieh. Dabei war es, wenn auch unwahrscheinlich, doch immerhin theoretisch möglich, dass es bei anderen Verlagen nicht ganz so war wie bei dem, der ihn nach Griechenland geschickt hatte. Wäre ja möglich, dass Yücel freiwillig in die Türkei gegangen war, dachte er, konnte es sich dann aber doch nicht vorstellen und verwarf den Gedanken wieder.
Er überlegte hin und her, und letztlich überwogen die Zweifel. Er hatte die E-Mail an die Redaktion zwar schon geschrieben, aber beschloss, den Text doch nicht abzusenden. Es war ein gutes Gefühl. Es war die richtige Entscheidung.
Als Martens von seinem Schreibtischstuhl aufstand, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, blieb er mit dem linken Fuß am Ladekabel seines Laptops hängen. Das Kabel zog den Computer in Zeitlupe vom Tisch. Martens schlug mit der flachen Hand zu, um das sich der Tischkante nähernde Gerät zu stoppen.
Es gelang ihm so gerade. In dieser Pose, das Ladekabel am ausgestreckten Bein und die Tastatur unter dem ausgestreckten Arm, sah er seine E-Mail im Ordner Postausgang verschwinden.
In Panik schlug er ein weiteres Mal zu, um die Verbindung vielleicht doch noch zu kappen. Doch der Postausgang war schon leer, die E-Mail in Frankfurt angekommen. Der Bildschirm wurde schwarz. Der Computer ließ sich nicht mehr einschalten. Er versuchte es noch drei- oder viermal. Dann gab er auf.
Was für ein Ärger. Ein Telefon existierte nicht in diesem malerischen Drecksnest, wo er seine Wochenenden verbrachte. Zurück in Athen würde er erst am Sonntag sein. Dann könnte er die Redaktion anrufen. Aber dann war der Text längst erschienen. Statt des Biers aus dem Kühlschrank holte Martens die Flasche Metaxa aus dem Regal. Er setzte sich ans Fenster, schaute aufs Meer und schlief eine Stunde später ein.
Zurück in Athen, fand Martens in seinem Postfach eine E-Mail. Ein Kollege aus Frankfurt hatte geschrieben. Interessanter Text. Sei unter den Kollegen kontrovers diskutiert worden. Die Herausgeber seien allerdings durchweg sehr angetan. Besonders von diesem einen Satz:
Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen “lieben” — aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet?
“Nordkorea oder Hintertupfingen” — tolle Formulierung, schrieb der Kollege. Die Herausgeber würden sich auch noch bei ihm melden.
Moment. Bei ihm melden?, dachte Martens. Warum das? In all den Jahren war das nicht ein einziges Mal vorgekommen. Wobei. Doch. Ein einziges Mal schon. Als er in der Konferenz ein bisschen die Fassung verloren und über die Kollegen aus dem Sport hergezogen hatte — denn wenn er eins wirklich hasst, dann ist es ja Sport. Das hatte er so auch gesagt. Und jetzt klingelte tatsächlich das Telefon. Waren das die Herausgeber?
Das waren sie. Guten Tag. Was wollten sie ihm sagen? Nein, umstrukturiert hatten sie. Wie schön. Aber warum erzählten sie das ihm? Roman aus dem Sport ins Literatur-Ressort? Wegen des Vornamens? Wer kommt denn auf so was? Ach so. Anregung aus dem Kommentar. Na dann. Und die freie Stelle im Sport? Was wird aus der? Ach, da suchen Sie wen? Jemanden, der garantiert nicht im Verdacht steht, den Sport zu lieben? Haha. Ja, das ist gut. Da werde er sich mal umhören, sagte Martens.
Aber dann hörte er: Sie dachten an ihn. Das Gespräch damals in der Konferenz. Da hätten sie sich erinnert. Und jetzt brauchten sie eben jemanden, der diese Aufgabe übernimmt. Vor allem eben Spielberichte über den Hamburger Sportverein schreiben. Darum ging es. Das hatte Roman ja bislang gemacht.
“Hamburg?”, fragte Martens.
“Genau, Hamburg”, hörte er am Telefon.
Martens war erleichtert. Hamburg kannte er gut. Da war er ja geboren. Das erwähnte er nebenbei. Die Herausgeber verstanden gleich: Damit kam er für die Stelle wohl nicht in Frage. Da hatte er also wirklich noch einmal Glück gehabt.
(Nur zur Sicherheit: Abgesehen von den Tatsachen, dass sich Deniz Yücel in Istanbul in Polizeigewahrsam befindet, Michael Martens den Kommentar geschrieben, und die “FAS” ihn gedruckt hat, ist all das hier erfunden.)