Der Schauspieler Paul Walker ist vor zwölf Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. “Ausgerechnet” bei einem Autounfall, wie die Medien gerne betonen, weil sie darin wahlweise eine “traurige”, “grausame”, “tragische” bzw. “dramatische” Ironie des Schicksals erkennen — Walker war nämlich vor allem durch seine Rolle in Auto-Action-Filmen bekannt geworden.
Viele Medien hatten sich bis zum Zeitpunkt des Unfalls nicht sonderlich für den Schauspieler interessiert, ab und an vielleicht bei Filmpremieren über ihn geschrieben und als er mal “mit nacktem Oberkörper gutpositioniertund proportioniert im nassen Sand” lag. In der Regel aber war er ihnen ziemlich egal.
Vor zwölf Tagen hat sich das geändert. Seitdem versorgen sich soziale und klassische Medien gegenseitig mit immer neuen Geschichten, zeitweise gibt es fast stündlich “neue tragische Details” zu Paul Walker, dem “Todes-Crash”, dem “Todes-Porsche”, dem “Todesbaum” und dem “Todeskampf”. Auf allen Kanälen, rund um die Uhr: Paul Walker. “Rest in Peace” kommentieren dann Leute unter den heimlich geschossenen Paparazzi-Fotos von trauernden Angehörigen.
Eine der am häufigsten zitierten Quellen in diesen Tagen, schon das ist bezeichnend, ist das US-Promi-Klatsch-Portal “TMZ”, dessen Meldungen auch von eher seriösendeutschenMedien in Windeseile übersetzt und veröffentlicht werden – ob sie stimmen oder nicht. Die Nachricht etwa, dass Walker bei einem illegalen Autorennen gestorben sei, machte schnellüberalldieRunde, stellte sich später aber als falsch heraus.
Und während sich die deutsche “Huffington Post” irgendwann schon ganz metamäßig fragte, “wieso über Paul Walker mehr getwittert und ge-facebooked wird wie [sic!] über die Dritte Welt”, haben sich die Leute bei Bild.de offenbar vorgenommen, jedes Gerücht, jedes Foto, jedes traurige Detail, das sich irgendwo auftreiben lässt, mit einem eigenen Artikel zu würdigen.
25 Artikel hat das Portal seit dem Unfall über Paul Walker veröffentlicht, zwei davon im kostenpflichtigen “Bild Plus”-Bereich, die meisten prominent beworben auf der Startseite. Dazu zahllose “Schockbilder von der Unfallstelle”, Videos, Klickstrecken, Infografiken.
1. Dezember:
2. Dezember:
3. Dezember:
4. Dezember:
5. Dezember:
6. Dezember:
7. Dezember:
8. Dezember:
9. Dezember:
11. Dezember:
Eine nicht enden wollende Flut von Spekulationen, Belanglosigkeiten und Sätzen wie:
Der Tod kommt an den unspektakulärsten Orten. Selbst bei einem Hollywoodstar. Selbst bei einem wie Paul Walker (40), der alles hatte und den alle liebten.
Am dritten Tag nach seinem Tod bekam er eine eigene Bild.de-Themenseite, zwei Tage später schrieb das Portal über den Mann, den es bis dato kaum beachtet und den ein Teil der Leser vermutlich nicht mal gekannt hatte:
Hollywood hat eine neue Legende. Paul Walker.
Vor ein paar Tagen stellte Bild.de dann besorgt fest, dass mittlerweile ein “irrer Fan-Kult um Paul Walker” entstanden sei. Die Frage nach den möglichen Ursachen wird dabei natürlich nicht beantwortet, sie wird nicht mal gestellt. Stattdessen gibt es die nächste importierte “TMZ”-Klatschgeschichte: Ein Mann hatte angeblich versucht, “sechs Stück verkohlte Baumrinde” vom Unfallort im Internet zu versteigern.
Bild.de fragt:
Wie makaber ist das denn?
Während Familie, Fans und Freunde um den bei einem Autounfall tödlich verunglückten Schauspieler Paul Walker († 40) trauern, gibt es Menschen, die daraus Profit schlagen wollen.
Die Beschwerdeausschüsse des Presserats haben vergangene Woche zum vierten und letzten Mal in diesem Jahr getagt und anschließend fünf öffentliche Rügen, eine nicht-öffentliche Rüge, 18 Missbilligungen und 21 Hinweise ausgesprochen.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Die nicht-öffentliche Rüge erging an Bild.de. Das Portal hatte darüber berichtet, dass eine Landtagsabgeordnete in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war. Bild.de nannte den Namen der Frau sowie den Hintergrund der Erkrankung und verstieß damit nach Ansicht des Presserats gegen Ziffer 8 des Pressekodex, die besagt, dass körperliche und psychische Erkrankungen zur Privatsphäre gehören.
Eine öffentliche Rüge bekam Bild.de für einen Artikel über die Therapie bei vorzeitigem Samenerguss. Dabei hatte die Redaktion laut Presserat “umfangreich” PR-Material “wörtlich übernommen und nicht entsprechend gekennzeichnet”, außerdem wurden Preis und Name des Medikaments genannt. Der Presserat sah darin einen Verstoß gegen das Schleichwerbungsverbot und die Sorgfaltspflichten im Umgang mit PR-Material (Ziffer 7). Details zu diesem Fall gibt es beim “Medien-Doktor”.
Daneben erhielt Bild.de zwei Missbilligungen — eine, weil die Redaktion gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen hatte (Ziffer 2), und eine für die Spekulation über die Hintergründe eines Suizids (Ziffer 8) — sowie einen Hinweis wegen einer falschen Bildunterschrift.
Zwei weitere Hinweise gingen an die gedruckte “Bild”-Zeitung (Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht sowie unzureichende Anonymisierung einer Person).
Der “Dingolfinger Anzeiger” und die Modellbauzeitung “RC-Freizeit” wurden gerügt, weil sie die redaktionelle Berichterstattung von Anzeigenaufträgen abhängig gemacht hatten (Ziffer 7).
Die “Leipziger Volkszeitung” kassierte eine Rüge für einen Kommentar, in dem Demonstranten der NPD und der “Antifa” als “brauner und roter Abschaum” bezeichnet wurden. Der Begriff “Abschaum” sei eine Verletzung der Menschenwürde und damit ein Verstoß gegen Ziffer 9 des Pressekodex, erklärte der Presserat.
Gerügt wurde schließlich auch die “Junge Freiheit” für die Überschrift “Zigeuner können Sozialhilfe bekommen”. In dem Artikel ging es um eine Entscheidung des Landessozialgerichts NRW, nach der Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Dass sich diese Entscheidung auch auf Schweden, Luxemburger und alle anderen EU-Bürger in Deutschland bezog, verschwieg das Blatt allerdings. Mit der Überschrift habe die Zeitung “suggeriert, das Gericht habe eine Sonderregelung für eine bestimmte ethnische Minderheit im Sozialrecht geschaffen”, argumentierte der Presserat. Für die “willkürliche Heraushebung dieser Minderheit” habe der Ausschuss “keinen sachlichen Grund” gesehen. Sie wirke diskriminierend.
Wie die “willkürliche Heraushebung” von Minderheiten in solchen Fällen bei “Bild” und Bild.de funktioniert, können Sie übrigens hier nachlesen.
Nachtrag, 0.40 Uhr: Das Projekt “Medien-Doktor” hatte sich im September ausführlich mit dem Bild.de-Artikel zum vorzeitigen Samenerguss auseinandergesetzt und Beschwerde beim Presserat eingereicht. Näheres zu dem Fall gibt es hier.
“BILD bricht das große Tabu, druckt in einer neuen Serie Deutschlands Gehaltslisten.”
(“Bild”, Mai 2004)
“BILD bricht das letzte Geld-Tabu — und sagt, was die Deutschen wirklich verdienen.”
(“Bild”, Dezember 2005)
“BILD bricht ein Tabu und verrät, was die Sachsen-Anhalter verdienen.”
(“Bild” Halle, November 2011)
“BILD bricht ein großes Tabu: Deutschland zeigt seine Gehaltszettel”
(“Bild”, Dezember 2013)
Das unterscheidet das Tabu vom Krug: Der Krug geht nur solange zum Brunnen, bis er bricht. Das Tabu trabt auch nach dem Brechen immer wieder brav zur “Bild”-Zeitung.
Heute ist es also wieder einmal so weit. Und das Wichtigste an diesen Gehaltsgeschichten scheint zu sein, mit ihnen gleich groß auf dem Titel zu behaupten, ein Tabubrecher zu sein — wie abwegig auch immer das sein mag. Während das Neue an den Zahlen 2005 noch war, dass “Bild” die Monatseinkünfte durch die revolutionäre Anwendung der Division durch 30 auf Tagesverdienste umrechnete, schockt “Bild” nun damit, sich von den Beteiligten sogar ihre Netto-Einkünfte nennen zu lassen.
Weil das Blatt das für zahlende Kunden im Internet nach verschiedenen Kriterien sortierbar gemacht hat, trommelte der Branchendienst “Meedia” dafür sogar schon vorab und lobte den Versuch von Bild.de, mit “multimedial pfiffig (sic!) aufgemachten Arbeiten” zu glänzen.
Online stellt man dann fest, dass Politiker wie der Bundestagsabgeordnete Lars Klingbeil ihre Steuerbescheide längst im Internet veröffentlichen, was die Behauptung, das sei “eines der letzten großen Tabus” in Deutschland, noch schaler wirken lässt. Dass Klingbeil aus einem Ort namens Munster in Niedersachsen kommen könnte, hielt die “Bild”-Redaktion allerdings für so unwahrscheinlich, dass sie ihn sicherheitshalber nach Münster (Nordrhein-Westfalen) umsiedelte.
Ein tatsächliches Tabu traut sich das Blatt aber natürlich auch diesmal nicht zu brechen: die Einnahmen von “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann oder Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner zu veröffentlichen.
Und doch ist dieser … äh: Artikel etwas ganz besonderes. Vielleicht hatte Franz Josef Wagner noch Kapazitäten frei, vielleicht war der Redaktionskatze langweilig geworden, jedenfalls lautet der vollständige Text so:
Das Glück dieser Erde liegt NEBEN dem Pferde!
Erst räkelte sich Topmodel Kate Upton (21) für ein Fotoshooting auf einem Flecken-Ross – und dann plötzlich daneben im Sand.
Abgeworfen? Kate nahm’s sportlich, lächelte tapfer – und der Gaul fand’s GEIL …
Im Seitentitel ist das keine dadaistische Frage mehr, da stellt Bild.de einfach fest:
Kate Upton: Model fällt beim Fotoshooting vom Pferd
Falls Kate Upton wirklich vom Pferd gefallen wäre – wovon die internationale Presse, die ebenfallsbildgewaltig über dieses Ereignis am Strand von Malibu berichtet, nichts erzählt – hätte Bild.de allerdings ruhig größer darüber berichten können.
Dann hätte das Model nämlich die Sensation geschafft, sich während ihres Sturzes noch umzuziehen:
Die Veranstalter einer Ausstellung in Nürnberg sind gegen die Berichterstattung der “Bild”-Zeitung vorgegangen.
In der Ausstellung, die an die Opfer der NSU-Verbrechen erinnern soll, werden unter anderem Bilder aus den privaten Fotoalben der Familien gezeigt. Die Veranstalter haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht erlaubt sei, diese Aufnahmen abzufotografieren und zu veröffentlichen. Eine Genehmigung dafür könnten nur die Angehörigen der Mordopfer geben.
Die “Bild”-Zeitung hatte, wie uns die Veranstalter auf Anfrage mitteilten, keine solche Genehmigung — druckte die Fotos in ihrer Nürnberger Ausgabe aber trotzdem:
Auch bei Bild.de werden die Bilder gezeigt:
(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)
Die Abmahnung durch die Veranstalter blieb bislang ohne Erfolg: Der Artikel ist nach wie vor online.
Wir haben bei der Pressestelle der Axel Springer AG nachgefragt, warum die Fotos trotz fehlender Genehmigung veröffentlicht wurden. Sie teilte uns mit, dass sie sich grundsätzlich nicht zu “Redaktionsinterna” äußere.
Heute ist Martinstag. Mancherorts wird dieser Gedenktag schon etwas früher begangen, zum Beispiel in Hessen, genauer: in Bad Homburg. Dort sind die Kinder und Eltern einer Kita schon am Donnerstag mit ihren Laternen durch die Straßen gezogen. Dabei war im Grunde alles so wie immer. Bis auf die Tatsache, dass der Umzug diesmal von vielen Medien begleitet wurde — und von Polizisten.
Denn im Vorfeld des Umzuges hatte es eine heftige Diskussion und sogar Drohungen gegenüber den Kita-Mitarbeitern gegeben. Auslöser der Aufregung war ein Bericht in der “Taunus Zeitung”, dem Lokalteil der “Frankfurter Neuen Presse”.
Der verkündete am 30. Oktober:
Der Autor beruft sich darin auf “etliche Eltern”, von denen aber nur ein Vater und eine Mutter zu Wort kommen, beide anonym. Der Vater sagt, es sei “irgendwie eine Durchmischung von Festen”. Und die Mutter behauptet, ihr sei gesagt worden, die Bezeichnung “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sei “politisch korrekter”.
Zwar wird auch der Stadtsprecher zitiert, der sagt, es gebe keinerlei religiöse Hintergründe für diese Bezeichnung, doch dem wurde offenbar keine große Bedeutung beigemessen. Nicht von der “Taunus Zeitung” — und erst recht nicht vom islamfeindlichen Hetzblog “Politically Incorrect”, das noch am selben Tag schrieb:
Von “empörten Eltern” ist dann die Rede und von “Speichelleckerei auf Kosten unserer Traditionen und Werte” und davon, dass “nichts Christliches mehr stattfindet in unseren Kindertagesstätten, Schulen oder auch auf öffentlichen Plätzen”. Der Text endet mit den Kontaktdaten der Kita.
Unter dem Artikel brach innerhalb weniger Minuten ein Sturm der Entrüstung los. Über 150 Kommentatoren warnten vor der “Islamisierung” Deutschlands, forderten den “Widerstand der deutschen Eltern und Bürger” und warfen der Kita-Leitung (im Ernst!) Rassismus vor.
Einen Tag später griff “T-Online” den Fall auf:
Die Kommentarfunktion wurde kurz darauf “wegen zahlreicher menschenverachtender Kommentare” geschlossen.
Was der “T-Online”-Bericht allerdings nicht erwähnt: Die Stadt hatte der Darstellung der “Taunus Zeitung” noch am Abend zuvor vehement widersprochen:
Darin heißt es, der Name des Festes sei, anders als von der Zeitung behauptet, “niemals offiziell geändert worden, auch wenn von Eltern und Beschäftigten umgangssprachlich ein anderer Name verwendet wird.” Dies gehe “auf ein vergangenes Martinsfest” zurück, “bei dem eine Suppe mit Sonnen, Monden und Sternen als Einlage ausgegeben worden war.”
Die Bezeichnung habe sich dann verselbstständigt und sei intern noch heute gebräuchlich:
Die Kindertagesstätte selbst kündigt den Termin intern unterschiedlich an, in einigen Jahren als St.-Martins-Fest, in diesem Jahr zum Beispiel als Sonne-Mond-und-Sterne-Fest in Verbindung mit einem Martinsfeuer.
Die Stadt teilt mit, weder die Kita-Leitung noch die Verwaltung habe gegenüber Eltern weltanschauliche Gründe für die Bezeichnung geltend gemacht. Es sind von keiner dieser Stellen Aussagen über eine “politisch korrekte” Namenswahl gemacht worden.
Schließlich hält die Stadt fest:
Die Kindertagesstätte Leimenkaut wird auch weiter St. Martin feiern – und wenn jemand das als “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” bezeichnen möchte, darf er das auch weiterhin tun.
Klingt nach einem versöhnlichen Ende, mit dem eigentlich alle zufrieden sein könnten. Aber nein — jetzt ging’s erst richtig los.
“Politically Incorrect” schoss nochmal nach und zeigte sich “in keinster Weise” überzeugt von den Argumenten der “rückgratlosen Gutmenschen”. Erneut stimmten die Kommentatoren wutschnaubend zu. Und erneut endete der Text mit der E-Mail-Adresse eines Stadt-Mitarbeiters — eine Masche, die genau das bewirkte, was sie bewirken sollte: Kita-Leitung und Stadt erhielten Hunderte von anonymen Mails, in denen die Verantwortlichen beleidigt und bedroht wurden: “Wir werden Eure Hütte verbrennen. Wir werden Euch niederschlagen”, zitierte der Sozialdezernent später daraus.
Inzwischen hatten auch andere Medien Wind von der Sache bekommen. Und obwohl viele von ihnen auch auf die Stellungnahme der Stadt eingingen, wurde in den meisten Überschriften und Anreißern trotzdem suggeriert, die Kita hätte das Fest offiziell umbenannt oder gar abgeschafft:
Jene Leute, die beim Streifzug durch die Medien nur die Überschriften und Teaser lesen (und das sind erfahrungsgemäß nicht gerade wenige), mussten also davon ausgehen, dass die Kita das Fest tatsächlich offiziell umbenannt hat. Darunter auch einige Journalisten, die selbst mehrere Tage nach der Stellungnahme der Stadt in ihrenArtikeln ohne jede Einschränkung behaupteten, die Kita feiere aus Gründen der politischen Korrektheit “statt Sankt Martin ein ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest'”.
Die Folge: Auch von den Lesern der seriösen Medien wurde die Kita in unzähligen Kommentaren und Leserbriefen attackiert — oder aber in Stellungnahmen von Politikern, die plötzlich überall auftauchten. So bezeichnete ein CDU-Politiker es als “absoluten Unsinn”, dass die Kita den St. Martinsumzug “nur noch ‘Sonne-Mond-und-Sterne-Fest’ nennen” wolle. Das sei “mehr als eine Farce” und eine “hirnrissige Idee” und so weiter. Ein weiterer CDU-Mann warf der Stadt vor, den Vorfall “herunterzuspielen” und bescheinigte den “Wortschöpfern” ein “zerrüttetes Verhältnis zu Glaube und christlicher Tradition”.
Die “Taunus Zeitung” beharrte weiter auf ihrer ursprünglichen Darstellung und schrieb von einem “fragwürdigen Auftritt” des Stadtrats Dieter Kraft (Grüne), der bei einer “emotionalen Ansprache” einen “Journalisten der Taunus Zeitung öffentlich an den Pranger” gestellt habe. Die Suppen-Geschichte wollen die Journalisten der “Taunus Zeitung” der Stadt einfach nicht glauben — auch nicht die Alternativversion, wonach der Name “Sonne-Mond-und-Sterne-Fest” sich auf das bekannte Kinderlied “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne” beziehe. Andererseits bleibt der einzige Beleg für die Theorie, dass die Kita dem Fest aus politischer Korrektheit einen neuen Namen geben wollte, weiterhin nur die anonyme Behauptung einer einzelnen Mutter.
Wessen Version nun stimmt, lässt sich wohl nicht abschließend klären. Der Laternen-Umzug der Kita hat jedenfalls vor ein paar Tagen wie geplant stattgefunden — inklusive Medienrummel und Polizeischutz. Zum Glück blieb alles friedlich.
Dieser Fall erinnert ein wenig an die Geschichte, in der es vor zwei Monaten hieß, Berlin-Kreuzberg wolle Weihnachten verbieten: Damals erzählten die Zeitungen nur die halbe Wahrheit, die Politiker polterten gleich los, und die rechte Ecke hatte genug Stoff, um “Christenhasser!” zu schreien und Stimmung gegen Ausländer zu machen.
Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, täten Journalisten, Politiker, Kirchenvertreter und Leser also gut daran, sich bei solchen Debatten in Zukunft gründlich zu informieren — und vielleicht einfach mal ein bisschen entspannt zu bleiben. So wie die Eltern, deren Leserbrief die “Taunus Zeitung” einen Tag vor dem Laternen-Umzug der Bad Homburger Kita abgedruckt hat:
Wir feiern in dieser Woche mit der Kita Leimenkaut und hoffentlich allen Kindern wie geplant – und nebenbei wie in jedem Jahr seit unsere Kinder die Einrichtung besuchen – Sankt Martin mit den dazugehörigen Liedern, Laternenumzug, Martinsfeuer, aber ohne Pferd, denn das erlaubt die Versicherung nicht. Welchen Titel die Veranstaltung dabei trägt, spielt keine Rolle und ändert am Inhalt nichts. Und am Abend essen wir eine gute selbstgemachte Suppe, vielleicht sogar mit Nudeln in Form von Sonnen, Monden und Sternen, denn das mögen unsere Kinder gerne.
Mit Dank auch an Thomas, Kevin S., Erik G. und Johnny K.
Übergewichtige sollen nach Auffassung von Gesundheitspolitikern zukünftig eine Strafsteuer zahlen
Im Text wird dann aber schnell klar, dass die Politiker in Wahrheit lediglich vorgeschlagen haben, eine Zusatzsteuer auf besonders fetthaltige und zuckerreiche Nahrungsmittel einzuführen. Und die müssten logischerweise nicht nur Übergewichtige, sondern alle Menschen zahlen.
Merke: Nicht immer ist das drin, was draufsteht — und das gilt nicht nur für Fast Food.
Das ist nicht etwa ein Toilettenwegweiserpärchen, das sind Heinz und Erika Pappenheimer (Namen geändert). Heinz und Erika sind Symbolbilder von Beruf.
Auf dem großen Schaubild auf Seite 2 in der heutigen “Bild” müssen Heinz und Erika verschiedene Berufsgruppen, verschiedene Prozentzahlen und Abgeordnete des 18. Deutschen Bundestags darstellen. “Bild” möchte nämlich zeigen, wie groß der Anteil bestimmter Berufsgruppen in der Bevölkerung und im Bundestag ist.
Das sind also Heinz und Erika als 0,3% Hausfrauen und Hausmänner im Bundestag:
Das ist Erika alleine als 0,3% Arbeiter im Bundestag:
Hier muss Erika ganz alleine sogar den Wert 0,8% (Anteil der Juristen, Rechtsanwälte und Notare an der deutschen Gesamtbevölkerung) verkörpern:
In einer ausgereiften Choreographie stellen insgesamt acht Pappenheimers den Wert von 2,4% dar — während 13 Pappenheimers für den Wert von 12,8% stehen:
Wir sehen also: Heinz und Erika Pappenheimer sind ein variables Standardmaß.
Im Juni sind über Schottland zwei Flugzeuge kollidiert. Also zumindest beinahe. Inzwischen hat Bild.de die Hintergründe dieses Vorfalls recherchiert. Zumindest beinahe.
Der Zwischenfall passierte bereits am 23. Juni 2013. Die Details wurden jetzt aus einem Bericht der zuständigen Behörde UK Airprox Board bekannt, melden britische Zeitungen. […]
Zum Crash kam es nur deshalb nicht, weil die Piloten sich jetzt gegenseitig im Cockpit sahen – und in buchstäblicher letzter Sekunde abdrehen konnten: Einer zog seine Maschine hoch, der zweite ging in den Sinkflug!
Bei dem Manöver befanden sich die Maschinen im kritischsten Moment nur gut 30 Meter voneinander entfernt!
Bild.de schlussfolgert:
Es waren nur Sekunden, die sie vom tödlichen Crash trennten…
Naaja. Also zunächst einmal: Dass zwischen den beiden Flugzeugen nur noch gut 30 Meter lagen, ist korrekt. Allerdings war das nur die vertikale Distanz. Horizontal aber, und das verschweigt Bild.de malwieder, betrug der Abstand zwischen den beiden Maschinen noch über sieben Kilometer. Von daher ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Piloten “gegenseitig im Cockpit sahen”. Auch deshalb, weil laut dem Bericht (PDF, Seite 61) mindestens einer der Piloten das andere Flugzeug gar nicht gesehen hat.
Hätten die Leute von Bild.de sich diesen Bericht einfach mal selbst durchgelesen, statt bloß von den britischen Medien abzuschreiben, wären sie auch auf folgenden Satz gestoßen:
[…] das Risiko einer Kollision bestand nicht.
(Übersetzung von uns.)
Aber das hätte aus der Beinahe-Katastrophe eine Beinahe-Beinahe-Katastrophe gemacht — und das hätte wohl nicht mal mehr Bild.de spannend gefunden.
Mit Dank an Uwe S., Gesine, Karstinho, Sebastian S., Leif K., Daniel und Linus V.
Am vergangenen Samstag ist in Niedersachsen ein 20-Jähriger mit seinem Auto gegen einen Baum geprallt und gestorben. Die Szenen kurz nach dem Unfall beschreibt “Bild” so:
Ein unbeteiligter Autofahrer sieht den Unfallwagen, alarmiert die Polizei. Die Beamten können nur noch den Tod von […] feststellen, informieren seinen Vater.
Völlig aufgelöst kommt der Mann zum Unfallort. Er bittet um etwas Zeit, sich von seinem Kind zu verabschieden.
Die Polizisten öffnen den Sarg — einen grauen Kunststoff-Behälter. Der Vater sinkt auf die Knie, bricht in Tränen aus.
Und ein paar Meter weiter drückt ein Fotograf auf den Auslöser.
Zwei Tage später zeigt “Bild” das Foto groß auf Seite 3 der Bundesausgabe:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Im strömenden Regen kniet ein Mann am Straßenrand vor einem offenen Sarg. Er weint. Immer wieder beugt er sich hinab, küsst den leblosen Körper auf die Stirn, streichelt ihn.
HIER NIMMT EIN VATER ABSCHIED VON SEINEM TOTEN SOHN!
Es ist ein Bild voller Trauer, voller Innigkeit — ein Bild, das jeden betroffen macht.
Diese “bewegende Szene”, schreibt “Bild”, sei “mit Einverständnis des Vaters fotografiert” worden. Auch online steht unter dem Foto eigens der Vermerk: “genehmigte Veröffentlichung”.
Wir haben den Fotografen gebeten, uns das mal genauer zu erklären. Er sagte: “Normalerweise halte ich bei so etwas nicht drauf”, das gehöre sozusagen zum Kodex. Er arbeite seit zehn Jahren als freier Fotograf und habe schon viele Unfälle fotografiert — ein derartiges Foto habe er zuvor aber noch nie gemacht. Dieses Mal sei es etwas anderes gewesen: “Das war eine sehr liebevolle, fast schon herzliche Szene.” Alle Leute am Unfallort seien sehr ergriffen gewesen.
Irgendwann sei der Vater “quasi auf mich zugekommen” und habe gefragt, für wen die Fotos seien und wann sie veröffentlicht würden. Nachdem er ihn informiert habe, habe der Mann zugestimmt. Er sei “sehr gefasst gewesen, wenn man das so sagen kann”. Der Fotograf versichert, dass er das Einverständnis auch nicht ernstgenommen hätte, wenn er gemerkt hätte, dass der Mann nicht Herr seiner Sinne ist. Er fügt hinzu, ein solches Bild könne junge Fahrer möglicherweise eher abschrecken als die immer gleichen Fotos von zerstörten Autos am Straßenrand.
Der Fotograf betont mehrmals, dass es eine “sehr ergreifende Szene” gewesen sei. Er sagt: “Das kann im Prinzip keiner nachvollziehen, der nicht an der Unfallstelle war.”
Mit der gleichen Begründung hätte er das Foto aber auch wieder löschen können.