Primärquellen, Sonntagszeitung, Griechenland

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalisten und Primärquellen – Managergehälter”
(marcmichels.blogspot.com, Marc Michels)
“Nutzt endlich mal die verdammten Primärquellen!”, ruft Marc Michels Journalisten, Bürgern und Politikern entgegen. Während ein Bericht der “Thüringer Allgemeinen Zeitung” über Managergehälter auf den “Focus” verweist, schreibt “Bild”: “Eine neue Umfrage macht deutlich…”. Dabei seien die betreffenden Informationen schlicht frei im Internet verfügbar.

2. “Kachelmann-Verfahren: Schweizer Zeitung wirft Befangenheit auf”
(morgenweb.de, M. Wirth, A. Lin, J. Gruler)
In ihrer neusten Ausgabe äußert die “Sonntagszeitung” “Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters” im Fall Jörg Kachelmann. Einige Regionalblätter vermeldeten darauf, “Vater und Richter seien im gleichen Verein und würden sich gut kennen”, was “zahlreiche seriöse deutsche Tageszeitungen und sogar die berühmten Nachrichtenmagazine Spiegel und Stern” sofort aufnahmen. Der betreffende Richter, Michael Seidling, dementiert und gibt an, weder die Klägerin noch ihren Vater überhaupt zu kennen.

3. “Im Würgegriff der Parteien”
(echo-online.de, Klaus Thomas Heck)
Klaus Thomas Heck sieht die öffentlich-rechtlichen Sender von den Parteien stark beeinflusst. Die Folge: Es ergießen sich “auf beiden Seiten telegene Gesichter in inhaltsarmen Worthülsen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Man kennt sich, ist einander viel zu nah und hat sich vor der Kamera nichts zu sagen. Ergebnis ist meist journalistisch wie politisch der kleinste gemeinsame Nenner.”

4. “Mehr Mut zur Zensur”
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler fürchtet, dass “unterhalb der offiziellen Medienangebote”, also in den Kommentarspalten, “bizarre Parallelgesellschaften” entstehen. “Wer interessante Publikumsmeinungen finden will, muss darum oft durch kniehohen Wortmüll stapfen.” Er empfiehlt, kommerzielle Wege zu prüfen: “Wenn eine Website als Blitzableiter für Enttäuschte oder als Auffangbecken für Unterbeschäftigte dient, sollte man doch daraus eine Geschäftsidee entwickeln können.”

5. “Griechenland: Tödlicher Terror gegen Journalisten”
(focus.de, Wassilis Aswestopoulos)
Journalist Sokrates Giolias wird “im Athener Vorort Ilioupolis” von mehreren Attentätern vor seinem Haus erschossen. “Giolias war wie viele andere Journalisten auf Webseiten autonomer, extremistischer Gruppen als zu eliminierender Klassenfeind erwähnt worden.”

6. “Why Journalists Make Mistakes & What We Can Do About Them”
(poynter.org, Mallary Jean Tenore, englisch)
“Misspelled names and typos are among the more basic errors journalists make. But there’s another type of error that is harder to correct: when journalists miss the story completely.”

Mangelndes Migrationshintergrundwissen

Unter dem Titel “Erstmals mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund” veröffentlichte das Statistische Bundesamt am vergangenen Mittwoch die neusten Zahlen aus einem Mikrozensus und kam zu dem Befund:

Von 2005 bis 2009 ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund durch Zuzug und Geburten um 715 000 angewachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist sterblichkeitsbedingt um 1,3 Millionen zurückgegangen.

Diese Aussage, die suggeriert, dass die Menschen ohne Migrationshintergrund aussterben, ist zumindest zweifelhaft, denn die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund steigt fast zwangsläufig. Immerhin zählt das Statistische Bundesamt auch diejenigen, bei denen ein Elternteil keinen Migrationshintergrund hat, zu den Personen mit Migrationshintergrund, falls der andere Elternteil Migrant ist oder die deutsche Staatsbürgerschaft nicht seit seiner Geburt besitzt. Nur wenn beide Eltern seit ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, können sie Kinder ohne Migrationshintergrund zeugen.

Außerdem sah das Gesetz bis vor zehn Jahren vor, dass Kinder von Ausländern die Staatsbürgerschaft der Eltern erhielten und somit Ausländer ohne eigene Migrationserfahrung waren. Deren Kinder haben somit auch Migrationshintergrund. Erst seit der Staatsangehörigkeitsreform im Jahr 2000 erhalten Kinder von Ausländern zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft.

So zynisch das klingt: Die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund geht nicht nur sterblichkeitsbedingt, sondern eben auch definitionsbedingt zurück.

Darüber findet sich nichts in den Medien, die über die neusten Zahlen des Statistischen Bundesamtes berichten. Dafür aber das:

Welt.de titelt plakativ:
Jeder fünfte ist ein Migrant

Bei sueddeutsche.de heißt es in der Überschrift:
Mehr Migranten

Vergleicht man die beiden Artikel mit der Pressemitteilung, so stellt man fest, dass die einzige Eigenleistung offensichtlich darin bestand, in der Überschrift “Menschen mit Migrationshintergrund” in “Migranten” umzubenennen – vielleicht, weil dieses Wort griffiger und nicht so sperrig ist.

Das “Handelsblatt” glaubt unter der Überschrift “Etwa jeder fünfte Einwohner hat Migrationsgeschichte” in der Einleitung zu wissen:

Von 2005 bis 2009 war die Zahl der Migranten von 15,3 auf mehr als 16 Millionen gestiegen.

Und in einem Artikel im “Tagesspiegel” wird sogar munter hin- und hergewechselt:

Erstmals hat im vergangenen Jahr die Zahl der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund mehr als 16 Millionen betragen. (…) Im (…) Vergleichsjahr 2005 gab es noch 15,3 Millionen Migranten; sie machten 18,6 Prozent der Bevölkerung aus. Der Migrantenanteil hat sich also in vier Jahren um einen Prozentpunkt nach oben verschoben.

(…)

Migrationshintergrund hat (…), wer nach 1950 ins Gebiet der heutigen Bundesrepublik kam (…)

Manchmal wäre es jedoch besser, sich an die Vorlage zu halten. In der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts wird sehr genau erläutert, woraus sich die 16 Millionen mit Migrationshintergrund zusammensetzen – nämlich aus 10,6 Millionen Menschen, die nach 1950 zugewandert sind, also tatsächliche Migrationserfahrung haben, und weiteren 5,4 Millionen, die in Deutschland geboren wurden.

Nur bei der ersten Gruppe handelt es sich um Migranten, bei der zweiten hingegen um Personen, die deshalb als Menschen mit Migrationshintergrund definiert werden, weil wenigstens ein Elternteil zugewandert bzw. Ausländer ist oder als Ausländer geboren wurde (s.o.).

Die Überschrift bei Welt.de etwa hätte angesichts von 10,6 Millionen mit tatsächlicher Migrationserfahrung lauten müssen “Jeder achte ist Migrant” oder “Jeder fünfte hat Migrationshintergrund” und die auf sueddeutsche.de “Mehr Menschen mit Migrationshintergrund”, was eine schöne Alliteration gewesen wäre.

Andererseits: Wenn man eine Pressemitteilung korrekt wiedergäbe, wo bliebe da die Eigenleistung?

Quallen, Doubles, Sächsisch

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Phil entlarvt alte Qualle”
(echo-online.de, db)
Mit dem Sachbuch “Insider-Wissen Ozeane” deckt ein 7-jähriger Leser von “Darmstädter Echo” auf, dass die auf der Titelseite abgebildete Kronenqualle keine neu entdeckte Tierart ist, wie man durch die Schlagzeile hätte vermuten können. Nachtrag, 21. Juli: Die involvierte Nachrichtenagentur AFP erklärt in einer Stellungnahme, die von AFP gesendeten Bilder seien “eindeutig als ‘undated handout photo’ gekennzeichnet” gewesen.

2. “Schnell statt gut – wie unprofessioneller Journalismus funktioniert”
(lerg.de, Andreas Lerg)
Andreas Lerg kritisiert einen Videobeitrag (videos.t-online.de, 2:46 Minuten) des Nachrichtendiensts “Nonstop News”. Der Bericht über einen Badeunfall stützt sich einseitig auf die Aussagen von zwei Ersthelfern, womit er “vorverurteilend und unausgewogen und damit schlichtweg unprofessionell” sei.

3. “Pseudo-Enthüllung: Hannoveraner sprechen Sächsisch”
(frontbumpersticker.blogspot.com, Felix Stein)
Felix Stein über die Weiterverbreitung der dpa-Meldung “Hannoveraner sprechen Sächsisch”: “Dass es sich beim angeblichen ‘Luthersächsisch’ eben nicht um Sächsisch handelte, sondern um eine Kunstsprache aus Elementen des Sächsischen, Fränkischen und Schwäbischen, die in ganz Deutschland verstanden werden sollte, wird zwar in der Agenturmeldung erwähnt – dass damit die Überschrift und der Aufhänger der Meldung unsinnig sind schien aber keinen Redakteur zu stören. Auch dass all das schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist scheint in den Redaktionen entweder unbekannt zu sein oder wurde dort als unwichtig empfunden – stattdessen wird unverändert der Eindruck erweckt, es handele sich um eine neue Erkenntnis.”

4. “Kuckuckskinder sind In”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Während “Grazia” erkennt, dass es sich bei mit Jennifer Lopez abgebildeten Kindern um Doubles handelt, machen “In” und “InTouch” glauben, es handle sich um ihre eigenen Kinder. “Wahrheitsgehalt? Gleich null.”

5. “Den Bock zum Apple gemacht”
(fernsehkritik.tv)
Ein über die Webcam beobachtetes Mädchen wird bei RTL mit einem Apple MacBook Pro gefilmt: “RTL hat hier offenbar dem Mädchen ein falsches Laptop hingestellt – nur warum?”

6. “Konjunktur aus der Kristallkugel”
(politplatschquatsch.com, panzerbummi)
“Ostdeutsche Wirtschaft holt auf” (welt.de, 14.7.) vs. “Wirtschaftswachstum: Osten fällt wieder zurück” (fr-online.de, 15.7.)

Journalisten: Ein Berufsstand meldet sich krank

“Die Welt” berichtet in ihrer heutigen Ausgabe:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Diese Behauptung ist insofern falsch, als es in den Statistiken gar nicht um die Sollarbeitszeit geht, sondern um den Anteil der Pflichtversicherten, die am 1. eines Monats krankgeschrieben sind.

Autor Christoph B. Schiltz hätte gewarnt sein müssen. Etwa durch den Hinweis, den das Bundesgesundheitsministerium deutlich sichtbar im Vorlauf seines Berichts untergebracht hatte:

Krankenstand = Arbeitsunfähig kranke Pflichtmitglieder in % der Pflichtmitglieder ohne Rentner, Studenten, Jugendlichen und Behinderten, Wehr-, Zivil- und Dienstleistende bei der Bundespolizei, landwirtschaftliche Unternehmer, Alg II- sowie Vorruhestandsgeldempfänger / Stichtag jeweils 1. des Monats

Oder durch die Pressemitteilung, die das Ministerium im Vorjahr veröffentlichen musste, um den Schaden einzudämmen, den Schiltz angerichtet hatte, weil er (damals schon wiederholt) den gleichen Fehler gemacht hatte — und der natürlich von anderen Medien munter weiterverbreitet wurde.

Auch die anderen Medien hätten also gewarnt sein können, als die Vorabmeldung der “Welt” bei ihnen einging. Sie waren es nicht:

Im Durchschnitt hätten die Arbeitnehmer 3,58 Prozent der Soll-Arbeitszeit gefehlt, berichtete die Zeitung “Die Welt” vorab aus ihrer Montagausgabe unter Berufung auf neueste Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(Reuters)

Die Arbeitnehmer fehlten einem Bericht der Zeitung «Die Welt» zufolge in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit). Das Blatt beruft sich auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(AFP)

Die Krankenstände in den deutschen Betrieben sind nach einem Bericht der Zeitung «Die Welt» in den ersten sechs Monaten 2010 auf den höchsten Halbjahresstand seit fünf Jahren geklettert. Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(dpa)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es.
(epd)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies berichtet die Tageszeitung “Die Welt” (Montagausgabe) unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).
(AP)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es unter Berufung auf Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(FAZ.net)

Die Arbeitnehmer fehlten zwischen Januar und Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit, berichtet die Zeitung unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums, die die Krankenstände aller gesetzlich versicherten Arbeitnehmer umfassen.
(“Spiegel Online”)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(Bild.de)

Die Arbeitnehmer fehlten von Januar bis Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.

Das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit), wie die Zeitung “Die Welt” unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) berichtet.
(“RP Online”)

Besonders bemerkenswert daran: Die ominösen Statistiken, “die der WELT vorliegen” und auf die sich “das Blatt beruft”, sind schon länger für jeden zugänglich auf der Webseite des Gesundheitsministeriums einzusehen (PDF). Ein halbwegs erfahrener Computernutzer braucht fünf Sekunden um festzustellen, dass das Wort “Sollarbeitszeit” im ganzen Dokument nicht ein einziges Mal auftaucht.

Immerhin tagesschau.de hat es geschafft, die Statistik richtig zu lesen — und lässt einen Ministeriums-Sprecher gleich die begrenzte Aussagekraft der Statistik kommentieren.

Das Ministerium selbst sah sich abermals gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, die die Interpretationen des Herrn Schiltz in ihre Schranken weist. Inzwischen sei man ein wenig resigniert: “Das passiert jedes Mal”, beklagte sich eine Sprecherin auf unsere Anfrage hin.

Seit dem Vormittag kursieren jetzt auch einzelne korrekte Meldungen der Nachrichtenagenturen. Offiziell korrigiert wurden die alten Versionen aber alle nicht.

Mit Dank an Matthias B.

Nachtrag, 22.40 Uhr: “Spiegel Online” hat den Fehler korrigiert und den Artikel mit einem Hinweis versehen — zumindest den diesjährigen Artikel, wenn auch nicht den von 2009.

2. Nachtrag, 20. Juli: dpa hat inzwischen eine Korrektur seiner ursprünglichen Meldung verschickt.

Mehr zu Christoph B. Schiltz und seiner jahrzehntelangen eigenwilligen Statistikinterpretation:

Wenn in China ein Sack Dollar umfällt

Dass China nicht mehr dieses verschlossene, kommunistische Rätselreich am Ende der Welt, sondern eine veritable Wirtschaftsmacht ist, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Wie wirtschaftsmächtig China aber ist, darüber herrscht nun umso mehr Rätselraten — zumindest in der Bild.de-Redaktion.

Unter der Überschrift “Angst vor der Supermacht” behauptet Bild.de zu erklären, wie abhängig Deutschland von China mittlerweile sein soll. Dabei bricht Bild.de nicht nur die Kennzahlen der Exportwirtschaft auf eine sehr konfuse und unnötig bedrohliche Formel herunter (“Noch steigen die Zahlen. Die bange Frage: Wie lange noch?”), sondern beweist auch ein gerüttelt Maß an Inkompetenz und Ahnungslosigkeit.

Bild.de schreibt etwa:

China hat mittlerweile Währungsreserven in Höhe von 1,91 Billionen Euro angehäuft – ein gigantischer Euro-Schatz!

Fangen wir mit dem an, was stimmt: Ja, China hält Währungsreserven im Wert von 1900 Milliarden Euro, eine tatsächlich extrem große Summe.

Aber: Was China tatsächlich in den Händen hält sind weitgehend Dollar, nämlich mindestens 60 Prozent von diesen grob 1,9 Billionen Euro (wie man auch einer Pressemeldung der chinesischen Regierung aus dem Jahr 2008 entnehmen kann).

Selbst wenn man also davon ausgeht, dass China die restlichen 40 Prozent samt und sonders in Euro hält (was unwahrscheinlich ist), dann hätte sich Inga Frenser von Bild.de noch um satte 1000 Milliarden Euro verrechnet — aber um so ein Billiönchen kann man sich ja schon mal vertun, wenn man über Wirtschaftspolitik schreibt, klar.

Aber nicht nur die Mathematik von Frau Frenser ist wenig überzeugend, auch ihre Prognosen entbehren jeder Grundlage. In ihrem Beitrag für Bild.de schreibt sie nämlich über die vermuteten Euro-Reserven der Chinesen weiterhin:

Wenn sie den (den “gigantischen Euro-Schatz”, Anm. BILDblog) verkaufen, würde der Euro brutal abstürzen. Das wissen auch die Chinesen…

Sie haben einen gigantischen Faustpfand in der Hand, sollte es zum Streit mit den Europäern kommen. Oder gar zu einem Handelskrieg.

Das ist grundsätzlich natürlich richtig: Lösen die Chinesen ihre Reserven schlagartig auf, fallen die Kurse der betroffenen Währungen, also vor allem der Kurs des Dollars, aber auch der Kurs des Euro.

Aber welche Konsequenzen hätte das? Die chinesische Währung, Renminbi oder Yuan genannt, würde sofort deutlich an Wert zulegen, was chinesische Produkte für den Export unvergleichlich teurer machen würde. Die Nachfrage an chinesischen Produkten würden also nachlassen, es käme kein ausländisches Kapital mehr nach China und die fast vollständig auf Export ausgerichtete Wirtschaft Chinas würde ihrer Grundlage entzogen und zu Grunde gehen.

Das bedeutet alles nicht, dass man Chinas Wirtschaftspolitik nicht doch für bedrohlich halten kann — aber eben aus anderen Gründen. Wie hatte der chinesische Premierminister Wen Jiabao etwas früher im Text sehr richtig gesagt:

“Wir sitzen im gleichen Boot”, betonte Jiabao freundlich.

Mit Dank an Michael S. und Christoph G.!

Leserreporter, Kachelmann, Futurezone

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Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Raumschiff Berlin”
(tagesspiegel.de, Ernst Elitz)
Ernst Elitz glaubt, dass Blogger zur “wahren Konkurrenz” der Hauptstadtjournalisten werden. Der “angeblich so hektische Hauptstadtjournalismus” sei nämlich “manchmal ziemlich verschlafen”. “Die Konsequenz müsste lauten: Werdet schneller und macht euch bissiger Konkurrenz.”

2. “Bild: 2,3 Millionen Euro für Leserreporter”
(meedia.de, Daniel Bouhs)
Daniel Bouhs schreibt über die “Bild”-Leserreporter: “Wie ein Sprecher des Axel-Springer-Verlages MEEDIA auf Anfrage mitteilte, liefen seit dem Start der Aktion im Jahr 2006 bis dato nämlich schier unfassbare 685.595 Fotos in der Redaktion der Bild ein, von denen 13.514 ins Blatt wanderten, also immerhin etwa zwei aus einhundert Bildern.”

3. “Warum fangen wir nicht bei uns an?”
(faz.net, Mark Siemons)
Die Studie “Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien” der Heinrich-Böll-Stiftung löst in China eine Debatte aus. “Die chinesischsprachige Parteizeitung ‘Global Times’ nahm die als notwendig vorausgesetzte Parteilichkeit der Nachrichten sogar als Lizenz zum freien Erfinden und zitierte aus dem Berliner ‘Tagesspiegel’ Sätze, die dort gar nicht standen.”

4. “Freundliche Übernahme”
(timklimes.de, 11. Juli 2010)
Tim Klimes vergleicht eine RTL-Pressemitteilung mit einer dpa-Nachricht. Thema: Eine aus der Doku-Soap “Bauer sucht Frau” resultierende Hochzeit.

5. “Ein Fall für Krake Paul”
(blog.persoenlich.com, Matthias Ackeret)
Für Matthias Ackeret fusst “die ganze Kachelmann-Story lediglich auf zwei Facts”: “dem Kürzestauftritt von Kachelmann vor dem Gefangenentransporter (‘ich bin unschuldig’) und einem Gutachten der Bremer Psychologin Luise Greuel, das von beiden Parteien beliebig interpretiert wird. Gesprochen hat sie mit Kachelmann nie. Auch das vermeintliche Opfer hat sich bis jetzt öffentlich noch nicht geäussert, so wenig wie die angeblichen Heerscharen der Kachelmann-Freundinnen, die den Mythos des hemmungslosen Casanova begründen.”

6. “Veräußerung der ORF-Futurezone”
(beschaffung.orf.at)
“Bis längstens 15.9.2010” beabsichtigt der ORF, das hauseigene IT- und Technologieportal “www.futurezone.at” zu veräußern. “Abgabe der Interessenbekundung bis längstens 30.7.2010, 12.00 Uhr (Einlangen aller Unterlagen).”

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Zu den wichtigsten Handwerkszeugen im Onlinejournalismus zählt die Copy-and-paste-Funktion. Auch wir können gar nicht oft genug zitieren, was in der sogenannten “Hamburger Erklärung” steht, die im Vergangenen Jahr von zahlreichen großen Verlagen, darunter die Axel Springer AG, verabschiedet wurde:

Im Internet darf es keine rechtsfreien Zonen geben. Gesetzgeber und Regierung auf nationaler wie internationaler Ebene sollten die geistige Wertschöpfung von Urhebern und Werkmittlern besser schützen. Ungenehmigte Nutzung fremden geistigen Eigentums muss verboten bleiben.

Am Freitag veröffentlichte das Computer-Magazin mac-essentials.de eine Ankündigung zu einer überraschend anberaumten Pressekonferenz des Computer-Herstellers Apple.

Eine erstaunlich ähnliche Meldung erschien kurz darauf bei Bild.de:

Artikel auf bild.de
Artikel bei Mac Essentials
Heute Abend ab 19 Uhr MESZ läuft eine kurzfristig einberufene Apple-Pressekonferenz am Firmensitz im kalifornischen Cupertino. Erwartet wird eine Stellungnahme zu den Berichten über Signalverluste und Gesprächsabbrüche beim iPhone 4. Zum ersten Mal nimmt Apple zu einem Produktproblem Stellung. Heute abend um 19 Uhr beginnt die überraschend einberufene Apple-Pressekonferenz am Firmensitz in Cupertino. Erwartet wird eine Stellungnahme zu den anhaltenden Berichten über Signalverluste und Gesprächsabbrüche beim iPhone 4.
Ob und in welchem Umfang ein Rückruf der bereits verkauften Geräte stattfindet, ist bisher unklar. Das Wall Street Journal und die New York Times haben Informationen erhalten, nach denen es keinen Rückruf geben soll. Ursache der Probleme sei das Zusammenspiel aus Kommunikations-Software und Antenne, das mittels eines Software-Updates reparierbar sei. Ob und in welchem Umfang ein Rückruf der bereits verkauften Geräte stattfindet, ist völlig unklar. Sowohl Wall Street Journal als auch New York Times haben Informationen erhalten, nach denen es keinen Rückruf geben soll: Ursache der Probleme sei ein komplexes Zusammenspiel aus Kommunikations-Software und Antenne, das mittels eines Software-Updates reparierbar sei.
Ob sich Steve Jobs der Presse stellt, ist noch nicht sicher, angesichts der internationalen Aufmerksamkeit aber wahrscheinlich. […] Ob Steve Jobs sich der Presse stellt, ist ebenfalls nicht bekannt, angesichts der internationalen Aufmerksamkeit aber wahrscheinlich.
Die Wall Street scheint dagegen an einen “freiwilligen” Rückruf zu glauben — iPhones mit nachweisbaren Defekten würden ausgetauscht, sofern der Besitzer ein neues Gerät haben will. Damit werde Apple sein Gesicht wahren und Geld sparen, so der Analyst Mike Abramsky von RBC Capital Markets. Die Wall Street scheint dagegen an einen »freiwilligen« Rückruf zu glauben – iPhones mit nachweisbaren Defekten würden dabei ausgetauscht, sofern der Besitzer ein neues Gerät will. Damit werde Apple sein Gesicht wahren und Geld sparen, meint z.B. Analyst Mike Abramsky von RBC Capital Markets:
Zwischen 130 und 525 Millionen Dollar könnte dieser “freiwillige Rückruf” kosten — deutlich weniger als die von anderen Analysten geschätzten Kosten von 1,5 Milliarden Dollar für einen kompletten Rückruf. zwischen 131 und 525 Millionen Dollar würde dieser “freiwillige” Rückruf kosten – deutlich weniger als die von anderen Analysten geschätzen Kosten von 1,5 Milliarden Dollar für einen kompletten Rückruf.

Der Text, der bei Bild.de als Anmoderation für den Liveticker von der Pressekonferenz diente, war schon bald darauf verschwunden (im Google Cache ist er noch vorhanden) — kurz nachdem Mac Essentials in seinem eigenen Liveticker auf den Content-Klau hingewiesen hatte.

Mehr zum Thema:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Den Tag zur Nacht machen

Bild.de hat mal wieder ein Video im Internet geklaut gefunden:

Mann fällt vom Cabrio.

Ein Mann fällt hinten vom Cabrio und der Bild.de-Sprecher sagt in seiner unnachahmlich knödeligen Art:

Lustiger WM-Autokorso-Tollpatsch nach dem Deutschland-Sieg im Spiel um Platz 3.

Irre Rolle rückwärts beim Auto-Korso: Nach dem Sieg im Spiel um Platz 3 stand Deutschland kopf – manche mehr, als ihnen lieb war. Wie dieses Video vom Auto-Korso in Hamburg zeigt.Erstaunlich, dass es nach dem Spiel, das am vergangenen Samstag gegen 22.20 Uhr endete, in Hamburg noch taghell war, oder?

Nein. Denn das Video entstand – natürlich – nicht nach dem Spiel um Platz 3, sondern ein Woche zuvor nach dem deutschen Viertelfinal-Sieg gegen Argentinien, der bereits um kurz vor 18 Uhr in trockenen Tüchern war.

Und natürlich zeigt das “irre Video-Fundstück” nicht erst “jetzt”, “was beim Auto-Korso im Siegesrausch so alles schief gehen kann”: Seit dem 8. Juli – zwei Tage vor dem Spiel um Platz 3 – kann man das Video bereits auf Facebook bewundern und kommentieren.

Nachtrag, 17. Juli: Bild.de hat den Off-Kommentar neu einsprechen lassen. Jetzt ist korrekt vom “Viertelfinal-Sieg gegen Argentinien” die Rede.

“Schwein” nicht länger tatverdächtig

Hat dieses Schwein den Mann an der A5 ermordet?

Unter dieser Überschrift berichtete “Bild” vor zehn Tagen über einen Mann, der verdächtigt wurde, einen Mann auf einem Autobahnparkplatz erschossen zu haben. “Schwein” nannte ihn die Zeitung, weil er sich mal bei einer öffentlichen Veranstaltung in einem Schweinchen-Kostüm hatte fotografieren lassen (BILDblog berichtete).

Gestern gab das Polizeipräsidium Südhessen bekannt, dass der Mann und ein weiterer Tatverdächtiger aus der Untersuchungshaft entlassen wurden. Der dringende Tatverdacht habe sich bei weiteren polizeilichen Ermittlungen nicht bestätigt. Und das, obwohl die Beweislage “laut Fahndern erdrückend” gewesen sei, wie Bild.de damals berichtete.

Und obwohl Bild.de heute im dpa-Newsticker über die Freilassung der zwei nicht näher genannten Männer berichtet, wird diese Meldung nicht mit dem Ursprungsartikel in Zusammenhang gesetzt, der unverändert online ist. Zwar ist das Foto des Mannes dort – anders als in der gedruckten “Bild” – verpixelt, aber dafür stehen dort so viele Informationen über den Mann (Beruf, Familienstand, Ehrenämter und Hobbies), dass es für sein Umfeld ein Leichtes sein dürfte, ihn zu identifizieren.

Mit Dank an spot.

Ein Sturz mit Folgen

Die Geschichte war schon ein bisschen konfus, als sie am Dienstag auf der Website des ORF auftauchte. Zusammenfassen kann man die Geschichte wohl so: Sanitäter waren zu einem 75-jährigen Mann im österreichischen Steinabrückl gerufen worden. Weil der Mann unter akuter Atemnot litt, wurde er auf der Trage nicht angegurtet, weswegen er wohl seitlich von der Trage gerutscht sei, aber noch aufgefangen werden konnte. Der Mann, dessen Zustand schon vor Eintreffen der Rettungskräfte labil gewesen sei, ist dann anschließend im Krankenhaus gestorben.

Obwohl der ORF selbst schreibt, dass erst eine Obduktion klären solle, ob der Mann an den Folgen des Sturzes “oder wegen anderer Umstände” gestorben sei, lockt einen die Überschrift erst mal auf die falsche Fährte:

Patient von Trage gerutscht und gestorben

Bei der “Kronen Zeitung” verzichteten die Sanitäter “offensichtlich in der Eile und im Bestreben, möglichst rasch zu helfen” darauf, den Mann anzuschnallen — außerdem war der Mann dort “von der Trage gepurzelt” und über ein “Stiegengeländer” (Treppengeländer) gestürzt.

Gleichzeitig wusste die “Krone” zu berichten:

Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt habe laut ORF eine Vorabinformation bestätigt, wonach der Sturz nicht in kausalem Zusammenhang mit dem Tod des Mannes stehen soll

Das deckt sich in etwa mit dem, was der ORF heute noch einmal berichtet:

Ob Anklage erhoben wird, hängt nun vom Obduktionsergebnis ab, das die Todesursache klären soll.

Der Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Wr. Neustadt bestätigt eine erste Vorabinformation, wonach der Sturz nicht in kausalem Zusammenhang mit dem Tod des Mannes stehen soll.

Das alles war “Bild” wohl noch nicht dramatisch genug, weswegen die Zeitung gestern verkündete:

Patient stirbt nach Sturz von Sanitäter-Trage

Doch die Notärzte hatten vergessen, den Mann festzuschnallen. Er fiel von der Trage, stürzte über ein Treppengeländer ein Stockwerk tief. Er war sofort tot.

Mit Dank auch an Basti.

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