Einfach mal das Gehirn lüften

“Aktuelle Nachrichten” verspricht Bild.de auf seiner Startseite. Wenn sich aber die Chance bietet, den zwischenzeitlich deformierten Kopf eines Schwerverletzten zu zeigen und als “Alien-Schädel” zu bezeichnen, dann dürfen sie auch schon einmal eine ganze Woche alt sein.

Unter einem Bild des bemitleidenswerten Skateboardunfallopfers Kyle Johnson kann man lesen:

Kyle Johnson: Ärzte entnahmen ihm Teile des Gehirns und setzten es später wieder ein. So sah er in der Zwischenzeit aus

Hätte die Person, die diese Bildunterschrift verfasst hat, allerdings den dazugehörigen Artikel oder wenigstens die Überschrift “Lebensgefahr! Ärzte frieren Teile von Kyles Schädel ein” gelesen, dann wüsste sie, dass das ziemlicher Unfug ist. Die Ärzte haben nämlich mitnichten Teile des Gehirns des Patienten entnommen, sondern, wie bei einer dekompressiven Kraniektomie üblich, Teile des Schädels.

Dazu, Teile des Gehirns zu entnehmen und dann wieder erfolgreich einzusetzen, wären höchstens die vorher angesprochenen Aliens imstande.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Nachtrag, 11.51 Uhr: So schnell kann’s gehen. Bild.de hat das Gehirn unauffällig verschwinden lassen:

Kyle Johnson: Ärzte entnahmen ihm Teile der Schädeldecke – und setzten sie später wieder ein

Nachtrag, 26. August: BILDblog-Leser Lutz B. hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass in einer früheren Version des Artikels noch durchweg die Rede davon war, dass man dem Mann Teile des Gehirns entfernt habe. Die Bildunterschrift wurde bei der Korrektur schlicht übersehen. Und tatsächlich: Im Cache von Google findet man diese Version noch, in der es etwa heißt:

Die Ärzte entschieden sich zu einer riskanten OP: Sie schnitten Teile von Kyles Gehirn weg, froren es ein – und setzen es ihm Wochen später wieder ein. (…) Als seine Hirnschwellung zurückging, setzen die Ärzte ihm die eingefrorenen Hirnteile wieder ein.

Die einzigen, die es also letztendlich wirklich geschafft haben, ein Gehirn erfolgreich zu entfernen, waren die Leute von Bild.de. Respekt!

BLM, Ferguson, Sarrazin

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Bedauerliches Büroversehen”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Volker Nünning)
Die Bayerische Landesmedienanstalt BLM verpasst es, “einen Bußgeldbetrag von insgesamt 115 000 Euro” einzuziehen. Auch Stefan Niggemeier berichtet.

2. “Das Landgericht am Ende des Universums”
(heise.de/tp, Markus Kompa)
Markus Kompa denkt über ein Urteil des Hamburger Landgerichts gegen die “Superillu” nach, das der Zeitschrift verbietet, eine Verletzung von Michael Ballack in einer Schlagzeile mit dem “Karriereende” in Verbindung zu bringen. “Selbst das Landgericht Hamburg hielt die Karriereende-Headline ausdrücklich für eine Prognose – aber angesichts der mitschwingenden Behauptung eines Karriereendes eben doch für eine beweisbedürftige Tatsachenbehauptung.”

3. “Der Presseboykott des Sir Alex Ferguson”
(11freunde.de, Tilo Mahn)
Die Vereine der Premier League überlegen sich die Einführung von Geldstrafen für Trainer, die keine Interviews gewähren. “Der englischen Rundfunkanstalt BBC verweigert der Trainer von Manchester United seit fast sechs Jahren jedes Interview, was auch in der neuen Saison für Diskussionen sorgt.”

4. “Sarrazin: ‘Deutschland wird immer ärmer und dümmer!'”
(nachdenkseiten.de, Wolfgang Lieb)
Wolfgang Lieb begutachtet die “knallharte Analyse” von Thilo Sarrazin in “Bild”.

5. “die völlig neuen, anderen twittercharts”
(popkulturjunkie.de, Jens Schröder)
Die “100 von Twitter-Nutzern meistverlinkten deutschsprachigen Inhalte-Websites”.

6. “Feldversuch: Journalist in Russland”
(mypcaminando.ch, myp)
Es kommt nicht immer gut an, wenn man erzählt, man habe mit Journalismus und Blogs zu tun: “Der eine Russe, der Herr des Hauses ist, wo wir wohnen, legt mit einer Salve von Beschimpfungen auf Russisch los. Verstanden haben wir gar nichts, aber für einen so aggressiven Tonfall und einen gestreckten Mittelfinger ist keine Übersetzung notwendig. Er lässt sich kaum mehr beruhigen.”

Jacobi, Focus, Monopolisten

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Doppelt hält Leser”
(politplatschquatsch.com)
“Bild”-Kolumnist Claus Jacobi erzählt zweimal eine Anekdote, die mit den Worten “Der Kunsthistoriker Emil Schaffner vergaß nie” beginnt und auch bei Google zu finden ist.

2. “Bodycount bei Focus”
(nice-bastard.blogspot.com, Dorin Popa)
Dorin Popa versucht aus dem “Focus”-Impressum herauszulesen, welche Mitarbeiter das Magazin verlassen werden.

3. “Brüder Grimm oder Blogger vs. Journalisten?”
(netzpiloten.de, Jeanette Gruber)
Jeanette Gruber befragt Blogger zu angeblichen Grabenkämpfen mit den klassischen Medien.

4. “In der feedback-Schlaufe”
(wozu-noch-journalismus.mazblog.ch, Valentin Groebner)
Valentin Groebner macht sich Gedanken zur Zukunft des Journalismus: “Mediale Berichterstattung hat die Macht, ihre Gegenstände – das gilt für vergnügte Untergrund-Bands ebenso wie für ‘unberührte’ Ausflugsziele – in eigenartig unechte und grelle Kopien ihrer selbst zu verwandeln. Da ist es mir eigentlich fast lieber, wenn sich die Journalisten vornehmlich mit Selbstaufgeblasenem befassen, da kann nichts kaputtgehen.”

5. “Die Kolonialmächte der Datenwolke”
(carta.info, Christian Stöcker)
Christian Stöcker möchte nicht, dass das Internet “zum lukrativen Spielplatz einiger weniger Monopolisten wird”. “Wünschenswert wäre es, dass auch das Überall-Internet von morgen noch ein freies und damit auch chaotisches Gebilde ist.”

6. “Umgang mit behinderten Menschen: Euer Mitleid kotzt mich an!”
(blindpr.wordpress.com, Heiko Kunert)
Der blinde Heiko Kunert nervt sich über aufgezwungene Hilfe: “Ich bezweifle, dass solche Menschen wirklich nur helfen wollen. Sie verlangen Dankbarkeit für etwas, das ich gar nicht haben will. Ihr Mitleid ist keine Hilfsbereitschaft, ihr Mitleid ist Überheblichkeit. Sie nehmen mich nicht als gleichberechtigten Menschen, sondern als hilfebedürftiges Wesen wahr.”

So dumm ist Bild.de schon heute

Die Zeit verfliegt und die Welt ist ein Karussell. Gerade Lehrer merken das immer wieder, wenn sie sich mit einer neuen Generation von Schülern auseinandersetzen müssen. Aus diesem Grund veröffentlicht das Beloit College in Wisconsin jedes Jahr die Mindset List. Diese launige Zusammenstellung soll die Professoren daran erinnern, dass ihre Studenten in einer anderen Welt aufgewachsen sind als sie selbst.

Klingt nicht aufregend? Kein Problem, Bild.de hat einen Dreh gefunden, wie man das Thema interessanter gestalten kann:

US-Bildungs-Studie So dumm ist die Elite von morgen

Dass die Liste keine “US-Bildungs-Studie” ist — geschenkt. Richtig dumm wird es, wenn Bild.de versucht, die Belege für die Dummheit der US-Studenten zu finden und elf vermeintliche Irrglauben “dokumentiert”:

Frauen dürfen Priester werden.

Diese vermeintliche Dummheit ist ein Fakt. Die römisch-katholische Kirche mag sich immer noch gegen Frauen im Priesteramt stemmen, in der anglikanischen Kirche in den USA ist diese Schlacht jedoch lange entscheiden. Die erste Bischöfin wurde dort bereits vor 21 Jahren geweiht.

Den Kalten Krieg hat es nie gegeben.

Dies wäre wirklich eine geschichtsvergessene Dummheit –steht aber nicht auf der Liste des Beloit College. Hier ist lediglich die Rede davon, dass die Erstsemester sich nie vor einem russischen Raketenangriff auf die USA gefürchtet haben. Und da die meisten der Studienanfänger nach dem Fall des Eisernen Vorhangs geboren wurden, ist dies mehr als verständlich.

Beethoven ist nur ein Filmhund („Ein Hund namens Beethoven“) und kein weltberühmter Komponist.

Dumm nur: Das steht nicht in der “Mindset List”. Hier heißt es lediglich: “Beethoven war schon immer ein guter Hundename”.

Michelangelo ist lediglich ein Computervirus und kein italienischer Künstler.

Auch hier stellte sich Bild.de dumm, denn in der “Mindset List” steht lediglich, dass die Studenten mit dem Computervirus zuerst in Berührung gekommen sind. Was zweifellos humoristisch gemeint ist, da das Schadprogramm in dem Geburtsjahr der meisten Studienanfänger verbreitet wurde.

Songs der Band Nirvana (1987 – 1994) hört man hauptsächlich auf Radiostationen, die Oldies spielen.

Das mag Bild.de wie ein Sakrileg erscheinen und deshalb sah sich die Redaktion genötigt, etwas hinzuzufügen. Im Original steht lediglich, dass Nirvana auf Oldie-Sendern läuft. Und das stimmt zweifellos.

An dieser Stelle ging Bild.de wohl die Fantasie aus und machte mit vermeintlichen Dummheiten der Mindset List vom vergangenen Jahr weiter. Intelligenter wird es damit aber auch nicht.

Mit Dank an Hauke, Alexander S. und die weiteren Hinweisgeber

Posch, Bremer Zeitung, Sonntagszeitung

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Strategische Verarsche der Leser”
(taz.de, Daniela Zinser)
Warum Antje Tiefenthal “Klatschkritik” ins Leben gerufen hat: “Die Idee zum Blog hatte sie schon vor Monaten, als ihr beim Lesen, zur Entspannung, immer öfter handwerkliche Fehler aufgefallen sind. Etwa, dass auf dem Titel Themen versprochen wurden, die hinten kaum eine Kurzmeldung waren. Oder News, die Monate alt sind, wie das Internetportal einer Parfümerie, das nun, im Juli, online sein soll – und es schon seit dem Ende des Vorjahres ist.”

2. “Echt Fake, echt Posch”
(fernsehkritik.tv, Video, insgesamt 45 Minuten)
Der Fernsehkritiker befragt Personen, die sich für die Doku-Formate “Christopher Posch – Ich kämpfe für Ihr Recht!” (RTL) respektive “Die strengsten Eltern der Welt” (Kabel 1) filmen ließen.

3. “Schleichender Tod”
(fr-online.de, Eckhard Stengel)
“Von der traditionsreichen Bremer Zeitung ist nicht viel mehr als der Titel geblieben. Alles andere kommt vom Weser-Kurier.”

4. “Löscht meinen Namen!”
(klartext.ch, Nick Lüthi)
Wer sich nicht mehr im Kontext früherer Berichterstattung lesen möchte, wendet sich an die Medien und ihre Archivare. Nick Lüthi schreibt, wie das Magazin “Klartext” in drei konkreten Fällen verfährt und redet mit dem Geschäftsführer der Schweizer Mediendatenbank (SMD).

5. “Wie Journalisten selber Schlagzeilen machen”
(davidbauer.ch)
David Bauer vergleicht den Kioskaushang der “Sonntagszeitung” mit der im Interview gemachten Aussage. “Korrekt hätte die Schlagzeile lauten müssen: ‘Calmy-Rey stimmt der SonntagsZeitung zu, dass das Geschlecht einer von vielen Faktoren ist, die es bei der Neubesetzung des Bundesrats zu berücksichtigen gilt.’ Newswert? Richtig geraten: Null.”

6. “Austria after Hans Dichand”
(opendemocracy.net, Anton Pelinka, englisch)
Anton Pelinka schätzt die Medienlandschaft in Österreich nach dem Tod von “Krone Zeitung”-Verleger Hans Dichand ein. “When Hans Dichand died on 17 June 2010 at the age of 89, an era in the relationship between media and politics in Austria ended.”

Fakten im Rückwärtsgang

Böse Zungen haben es schon lange kommen sehen: Die Online-Enzyklopädie Wikipedia schrumpft. Das Projekt, das vor nicht einmal zehn Jahren als Hort des Weltwissens gestartet war, hat nun endgültig den Rückwärtsgang eingelegt und vernichtet das sauer erarbeitete Wissen wieder. So zumindest berichtete es die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” am Donnerstag:

In der englischsprachigen Wikipedia, der weltweit größten Gemeinschaft mit über drei Millionen verfassten Beiträgen, ist von einem ernsthaften Autorenschwund die Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte der freien Enzyklopädie werden mehr Beiträge gelöscht als erstellt, berichtet das amerikanische Nachrichtenmagazin “Newsweek” und beruft sich auf Aussagen eines Sprechers der “Wikimedia Foundation”.

Mehr Beiträge gelöscht als neu erstellt? Die schlimmsten Befürchtungen der Wikipedia-Fans werden wahr. Allerdings: Laut Wikipedia-Statistik wächst der Artikelbestand alleine in der englischsprachigen Ausgabe jeden Tag um mehr als 1000 Artikel, die deutschsprachige Wikipedia um immerhin knapp 400 neue Beiträge. Artikellöschungen sind in der Statistik schon berücksichtigt. Wieso behauptet der Sprecher der Wikimedia Foundation also etwas anderes?

Eine Auflösung bietet ein Blick in den Artikel der Newsweek, auf den sich die “FAZ” beruft:

Tausende der Freiwilligen Autoren, die Wikipedia-Artikel schreiben, überprüfen und auf den neusten Stand bringen, haben sich abgemeldet – viele davon für immer. Zum ersten Mal scheinen sich mehr Mitarbeiter von Wikipedia zu verabschieden als neu anzumelden. Die Aktivität auf der Seite stagniere, wie ein Sprecher der Wikimedia Foundation bestätigt. Dies sei ein “wirklich ernsthaftes Problem”.

(Übersetzung von uns)

Das ist zwar auch nicht ganz korrekt; die Meldungen von einem scheinbaren Autorenschwund gibt es seit mindestens zehn Monaten. Von Artikel-Löschungen ist bei “Newsweek” hingegen gar keine Rede.

Vielleicht sollte sich die “Frankfurter Allgemeine” um die verlorenen Wikipedia-Autoren bemühen. Ein paar Fact-Checker haben noch niemandem geschadet.

Nachtrag, 25. August: Inzwischen hat die FAZ den Rückwärtsgang eingelegt und den Beitrag korrigiert:

Richtigstellung vom 23.08.2010: „Newsweek“ berichtete nicht, wie am 19.08.2010 an dieser Stelle veröffentlicht, dass mehr Beiträge gelöscht als neue erstellt werden.

Hetzenjagd auf den “Spiegel”

Auf der Liste der angesehensten Berufe landen Journalisten und Politiker regelmäßig im unteren Drittel. Und auch untereinander scheint man nicht viel voneinander zu halten.

Vor zwei Wochen erhob Mariela Castro, Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung CENESEX auf Kuba in der linken Tageszeitung “Junge Welt” schwere Vorwürfe (die auch wir in “6 vor 9” verlinkt haben): Der “Spiegel” habe ein Interview mit ihr sinnentstellend verändert.

“In der gedruckten Fassung hat die Redak­tion Fragen eingefügt, die sie mir nie gestellt hat. Eine solche Frechheit und ein solches Fehlen von Professionalität habe ich noch nicht erlebt, nicht einmal bei Medien in den USA”, so Castro. (…) Der Spiegel habe sie außerdem falsch zitiert. So habe sie die Gefangenen, die derzeit von der kubanischen Regierung freigelassen werden, ausdrücklich nicht als Terroristen bezeichnet: “Die Terroristen sind andere.” Trotzdem wird ihr dies vom Spiegel in den Mund gelegt.

Für Mariela Castro ist die Hetze gegen ihr Land und sie selbst kein Zufall, sondern Teil der Kampagne gegen den kubanischen Sozialismus.

Nun ist bei so einem Interview in der Regel eine recht überschaubare Anzahl von Personen anwesend, es steht somit schnell Aussage gegen Aussage.

Der “Spiegel”-Redakteur Manfred Ertel, der das Interview mit Frau Castro geführt hatte, erklärte uns aber auf Anfrage:

Die von Ihnen zitierten Interview-Aussagen von Mariela Castro in der “Jungen Welt” sind falsch. Das vom SPIEGEL veröffentlichte Interview mit ihr ist in seiner gedruckten Fassung Zeile für Zeile von Mariela Castro persönlich autorisiert worden – so, wie es im SPIEGEL übrigens gängige Praxis ist.

In der Tat hat der “Spiegel” die Praxis der Autorisierung in den 1960er Jahren eingeführt — und kann sich somit in strittigen Situationen wie dieser darauf berufen, dass der Gesprächspartner das Gespräch vor Abdruck abgesegnet hat.

Warum aber ließ die “Junge Welt” ausgerechnet in einem Artikel, in dem sie vermeintlich unseriösen Journalismus anprangert, die beschuldigten Kollegen nicht zu Wort kommen?

Die Redaktion hat uns (auf unsere zweite Anfrage nach zehn Tagen) dazu folgendes geantwortet:

Aufgrund der damaligen Kürze der Zeit – die Entscheidung, das Thema zum Aufmacher zu machen, wurde sehr kurzfristig getroffen – haben wir eine vorherige Kontaktaufnahme mit dem “Spiegel” versäumt. Sie haben recht, dass dies eine Schwäche unserer Veröffentlichung darstellt. Es hat in der Folge allerdings auch von Seiten dieser Zeitschrift offenbar keinen Bedarf gegeben, die Aussagen von Frau Castro uns gegenüber zu dementieren.

Der letzte Satz ist ein erschütterndes Dokument über das Selbstverständnis des Journalismus in Deutschland: Wenn niemand widerspricht, werden die Vorwürfe schon stimmen. So einfach ist das also.

Kika, Burtscher, Prantl

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Bild-Zeitung’: Von Bibeln bis Dessous”
(sueddeutsche.de, Caspar Busse)
“Wir helfen den Menschen, das Leben zu meistern”, sagt Verlagsgeschäftsführer Ralf Hermanns über die Marke “Bild”.

2. “Ernie & Bert fahren am liebsten Volkswagen”
(medienpiraten.tv, Peer Schader)
Peer Schader war am Berliner Ostbahnhof bei der “Kika-Sommertour”: “Es ist ein merkwürdiges Selbstverständnis, das der Kika pflegt: einerseits herauszustellen, dass sein Programm dank Gebühren ohne Werbung auskommt und andererseits mehrere hundert Quadratmeter seiner ‘Sommer-Tour’ an Werbepartner zu vermieten.”

3. “Vom Machtkampf”
(begleitschreiben.twoday.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig thematisiert die Berichterstattung zur anstehenden Wahl für den Vorsitz der CDU in Nordrhein-Westfalen. “Aus dem vollkommen normalen, demokratischen Vorgang, dass sich für ein Amt mehrere Kandidaten zur Wahl stellen, wird nun ein Skandalon produziert.”

4. “Reden wie Joachim Löw”
(zeit.de, Oliver Fritsch)
Die Fußballberichterstattung soll in der kommenden Bundesliga-Saison eine “neue Hinwendung zum Fachlichen” erfahren. “Voraus sind den deutschen nach wie vor die englischen Medien – und zwar im Fernsehen, in der Zeitung und im Internet.”

5. “Dementieren, vernebeln, ignorieren”
(weltwoche.ch, Alex Baur)
Alex Baur fragt sich, warum das Schweizer Fernsehen keinen Anlass sieht, sich im Fall Barbara Burtscher zu korrigieren. Doch auch Burtscher habe “nie irgendeine Anstrengungen” unternommen, “die Falschmeldungen zu korrigieren (als mal ein Datum eines ihrer Vorträge nicht stimmte, veranlasste sie indes sofort eine Richtigstellung)”.

6. “An den Taten sollt ihr sie messen”
(blog.abgeordnetenwatch.de, Martin Reyher)
“In einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung wirft uns Heribert Prantl heute ‘übertrieben kleinliche Beckmesserei’ im Umgang mit den Nebentätigkeiten von Peer Steinbrück vor. Eine Replik.”

Dumm wie rot

Auf der Suche nach dem sinnlosesten Stück Onlinejournalismus aller Zeiten sind wir möglicherweise fündig geworden. Unscheinbar versteckt mitten in einem Artikel über einen Stier, der bei einer Stierkampf-Veranstaltung ins Publikum gesprungen ist:

Mehrere Menschen in roten Hemden und T-Shirts waren unter den Verletzten, was jedoch kein Beleg für eine bewusste Handlung des Tieres ist.

So steht es bei “Spiegel Online”. Und wenn mehrere Menschen unter den Verletzten gewesen wären, deren Nachnamen mit “M” beginnt, so wäre das sicher genauso wenig ein “Beleg für eine bewusste Handlung des Tieres” gewesen — zumal der Satz nicht gerade sinnvoller wird durch das, was unmittelbar auf ihn folgt:

Wie die meisten Säugetiere haben auch Stiere keine Farbwahrnehmung.

Auf eine verquere Art und Weise ist aber selbst dieser Unfug eine Steigerung gegenüber dem, was “Spiegel Online” ursprünglich über die “dramatischen Szenen”, die auf den Fernsehbildern aus einer spanischen Stierkampfarena zu sehen sind, geschrieben hatte:

Dabei ist deutlich zu sehen, dass das Tier immer wieder Kurs auf Menschen in roten Hemden nahm und Personen in weißer Kleidung verschonte.

“Spiegel Online”, sonst angeblich auf eine Kennzeichnung nachträglicher Textänderungen bedacht, hat sich diesmal für die klammheimliche Überarbeitung entschieden.

Mit Dank an Marvin S., Sandro K. und besonders an Rocky G.

Die Fastronautin

Barbara Burtscher ist Physiklehrerin an der Kantonsschule in Wattwil.

Im Juli 2009 flog sie nach Huntsville, Alabama, um dort “4 Wochen lang im Nasa Education Center und U.S. Space & Rocket Center Lehrer auszubilden und meine Live Sternenhimmel Show zu präsentieren” – sie berichtete in ihrem Blog. Mit “Nasa Education Center” ist das “NASA Marshall Space Flight Center Educator Resource Center” gemeint. Es befindet sich im U.S. Space & Rocket Center, einem Museum.

Im November und Dezember 2009 war sie einige Tage als “Crew Astrophysicist” in der “Mars Desert Research Station” im US-Bundesstaat Utah, worüber sie ausführlich bloggte. Im Wikipedia-Artikel zur Mars Desert Research Station wird darauf hingewiesen, dass Crewmitglieder keine Bezahlung erhalten, aber dafür wertvolle Erfahrungen. Im Anmeldeformular heißt es:

Every participant is expected to pay $1,000 to cover the costs of the 2-week simulation.

(Jeder Teilnehmer muss 1000 Dollar bezahlen, um die Kosten der zweiwöchigen Simulation zu decken.)

Am 25. April 2010 sprang Burtscher über Whiteville, Tennesse, aus dem Flugzeug. Aus rund 10.000 Metern Höhe. Diese zum Beispiel hier angebotenen Sprünge kosten zwischen 375 und 3495 US-Dollar. Auch davon zeugen mehrere Blogeinträge (und Berichte auf 20min.ch und tagblatt.ch).

Und nun ein Blick in die Schweizer Medien.

“Schweizer Illustrierte” vom 10. August 2009:

Auf dem Weg zum Mond

“Die Schweizerin Barbara Burtscher darf jetzt für die Nasa arbeiten”

“Schweizer Illustrierte” vom 14. Dezember 2009:

Unsere Frau auf dem Mars

“Diese Toggenburgerin hat grosse Chancen, Nasa-Astronautin zu werden und auf den Mars zu fliegen.”

20min.ch vom 1. November 2009 (berichtigt am 18. August 2010):

Erste Schweizerin lebt bald in der Mars-Station

“Die junge Schweizer Astrophysikerin Barbara Burtscher wird in der Mars-Station der Nasa leben – als erste Schweizerin überhaupt.”

Blick.ch vom 2. November 2009:

Schweizerin trainiert Marslandung für Nasa

“Barbara Burtscher (24) ist Toggenburgerin, Astrophysikerin – und steht schon mit einem Bein auf dem Mars.” (…)

“Kantonschullehrerin Barbara Burtscher (24) ist auf dem besten Weg, Astronautin zu werden” (…)

“Offenbar ist den Amis aufgefallen, dass da im St. Gallischen ein Raumfahrer-Talent herangewachsen ist.”

Ihre durch die Artikel gewonnene Bekanntheit führte auch zu Einladungen des Schweizer Fernsehens. So war sie am 17. Juni 2010 Talk-Gast bei “Aeschbacher” und zuvor, am 20. Februar 2010, durfte sie in der Kartenspielsendung “Samschtig-Jass” mitspielen. Auf der Website wurde sie als “Astronautin” angekündigt:

Bevor die Astronautin Barbara Burtscher auf die Reise zum Mond oder gar Mars startet, versucht sie sich heute im irdischen Differenzler.

Aktuell steht Barbara Burtscher im Mittelpunkt einer Debatte, die der Artikel “Die eingebildete Astronautin” im “Tages-Anzeiger” ausgelöst hat (der zuvor selbst dreimal über Burtscher berichtet hatte, ohne die Hintergründe zu recherchieren).

Gegen den im Artikel verwendeten Begriff “Hochstaplerin” wehrt sich die Angegriffene in einer Stellungnahme. Auf der Empfangsseite von barbaraburtscher.com heißt es derzeit:

Ich habe mich nie als “Nasa-Astronautin” ausgegeben, wie gewisse Medien jetzt suggerieren wollen. Klar, ich bin begeistert von meiner Sache, die ich stets offen hier dokumentiert habe. Gut möglich, dass sich auch Medien von dieser Begeisterung haben anstecken lassen, was mich natürlich gefreut hat. Dabei habe ich mich stets bemüht, korrekt zu informieren. Wenn trotzdem falsche Eindrücke entstanden sind, so tut mir das leid.

Die erste Publikation mit einem kritischen Blick auf die mediale Astronautinnenkarriere war der “Tages-Anzeiger” nicht. Ende Januar 2010 veröffentlichte das Weblog “Infamy” zwei Beiträge und löschte sie auch gleich wieder, da sich ein Rechtsstreit mit Burtscher anzubahnen drohte.

Bis vor kurzem bezeichnete sich Barbara Burtscher auf ihrer Website als “Astrophysikerin” – was in einigen von den bisher über 60 von ihr gesammelten Medienbeiträgen ungeprüft verbreitet wurde. Derzeit ist sie krankgeschrieben. Doch die vom Rektor der Kantonsschule Wattwil als “gute und beliebte” Lehrerin eingeschätze Frau ist sicher bald zurück.

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