Bild  

Pleite-Journalisten

Ganz spurlos geht die Kritik einiger Medien und Politiker an der “Bild”-Hetzkampagne gegen Griechenland nicht vorbei. Zumindest erachteten es die beiden Redakteure Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer, die sich regelmäßig mit den “Pleite-Griechen” befassen, für notwendig, sich zu rechtfertigen.

Statt Selbstkritik zu üben, wie es in diesem Fall berechtigt wäre, holten die beiden vergangene Woche aber lieber zum Rundumschlag aus, bei dem das “leider” in der Überschrift vor Schadenfreude nur so trieft:

Griechen-Krise: BILD hatte leider recht

Anhand von neun äußerst willkürlich gewählten “Bild”-Aussagen über Griechenland aus dem Jahr 2010 versuchen Blome und Ronzheimer die Hetze zu rechtfertigen.

Und was soll man sagen? Natürlich hatte “Bild” nicht recht, aber die Aufzählung passt perfekt ins Bild der ganzen verlogenen Kampagne.

“Bild” zum Thema Privatisierungen:

“Verkauft doch eure Inseln!” schreibt BILD im März 2010.

Bundestagspräsident Norbert Lammert meint daraufhin, sich beim griechischen Parlamentspräsidenten entschuldigen zu müssen. (…)

Im Mai 2011 schreibt der britische “Economist” über den damaligen BILD-Bericht: “Damals klang es nach krassem Populismus. Heute ist es die Aussage der europäischen Finanzminister.”

Damals wie heute ist diese Forderung von “Bild” krasser Populismus — zumal die volle Schlagzeile lautete: “Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen …und die Akropolis gleich mit” (letztere Forderung wiederholte “Bild” zur Sicherheit vor zwei Wochen). Man stelle sich den Aufschrei hierzulande vor, wenn Deutschland aufgefordert würde, Teile des eigenen Staatsgebietes oder ein Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor zu verkaufen.

Michalis Pantelouris bringt es in einem Kommentar in seinem Blog “Print Würgt” auf den Punkt:

Für Griechen, die Deutsche noch als Besatzer kennen, ist das emotional hochbelastet, und das zu recht.

“Bild” weiter:

Tatsächlich hat Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen öffentlich kritisiert, dass Griechenland noch “für keinen Euro privatisiert hat”.

Nun will Griechenland im Höchsttempo 50 Mrd. Euro Staatsbesitz verkaufen (privatisieren): Beteiligungen an Konzernen – und Immobilien aus Staatsbesitz.

Nur weil Asmussen das sagt, ist es noch lange nicht richtig. Es mag dem Staatssekretär vielleicht nicht schnell genug gehen, aber seit Beginn der Krise wird in Griechenland privatisiert, was das Zeug hält, wovon auch deutsche Firmen wie etwa die Telekom profitieren.

“Bild” zum Thema Austritt aus der Eurozone:

“Tretet aus, Ihr Griechen!”, kommentiert BILD im April 2010.

Die Idee wird heftig attackiert. (…)

Ein Jahr später sieht es anders aus. In einem vertraulichen Papier des Bundesfinanzministeriums wird die Austritts-Variante ernsthaft diskutiert.

Viele Wirtschaftsexperten sind dafür, u. a. Ifo-Chef Sinn sagt: “Der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel.”

Dass “Bild” alles daran setzt, um Stimmung für einen Austritt oder gar Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu machen, hat BILDblog erst kürzlich aufgezeigt. Aber: Auch wenn “Bild” etwas anderes behauptet, sind sich nahezu alle Wirtschaftsexperten einig, dass ein Austritt Griechenlands nicht in Frage kommt. Auch Ifo-Chef Sinn betonte hinsichtlich seiner Äußerung, der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel:

Dies sei aber keine Empfehlung gewesen, präzisiert er nun, er habe lediglich die Möglichkeiten aufgezählt; die Journalisten neigten dazu, Dinge zu überspitzen.

“Bild” zum Thema Pleite:

“Ihr Pleite-Griechen”, so nennt BILD im Frühjahr 2010 das Land, das um EU-Milliarden bitten muss.

Das will die griechische Regierung natürlich nicht wahrhaben. (…)

Heute klingt das ganz anders, dramatisch.

Finanzminister Giorgos Papakonstantinou warnte Anfang der Woche vor einem Ausbleiben weiterer Kredit-Milliarden: “Wenn das Geld bis Ende Juli nicht kommt, müssen wir die Rollläden runterlassen. Der Staat wird dann alle Zahlungen einstellen.” Das nennt man Staatspleite.

Auch wenn “Bild” das offensichtlich anders sieht: Das Problem bei einer Formulierung wie “Pleite-Griechen” ist weniger die Frage, ob Griechenland letztlich irgendwann wirklich pleite ist, sondern die Tatsache, dass es sich um eine verallgemeinernde Beleidigung handelt, bei der ein komplettes Volk stigmatisiert wird — und zwar immer und immer wieder. Eine Suche auf Bild.de ergibt 125 verschiedene Artikel, in denen der Begriff “Pleite-Griechen” verwendet wird.

Zudem fehlt der Hinweis, dass Griechenland bis heute in jedem einzelnen Fall jeden einzelnen Kredit pünktlich bedient hat und dass Deutschland sowie deutsche Banken durch Kredite und Investitionen in Griechenland bislang nur Geld verdient haben. Das nennt man eben nicht Staatspleite.

“Bild” zum Thema Misswirtschaft:

“So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”, lautet Anfang März 2010 der Titel einer Auflistung von Steuerhinterziehungen, Korruption, Privilegien, die exemplarisch für Griechenlands Strukturkrise stehen.

Viele Politiker in Deutschland halten das für überzogen. SPD-Chef Sigmar Gabriel: “Es ist ein Unding, dass die Politik auf die Anti-Griechenland-Kampagne der BILD-Zeitung nicht reagiert hat, die Kanzlerin und der Außenminister vorweg.”

Gabriel reagierte damals nicht darauf, dass “Bild” griechische Missstände anprangerte, sondern er kritisierte Politiker von Union und FDP, die “Sprüche wie ‘Kein Cent den Griechen’ oder den Vorschlag, die Griechen sollen ihre Inseln verkaufen” von “Bild” übernommen hätten.

“Bild” weiter:

Ein Jahr später sind nicht wenige der kostspieligen Privilegien und Sonderleistungen für Staatsbedienstete (jeder 4. Arbeitnehmer) zumindest offiziell zusammengestrichen.

Der Schuldenberg des Landes ist dennoch schneller gewachsen als befürchtet. Die Strukturkrise Griechenlands ist nicht überwunden.

Inwiefern “Bild” in diesem Fall “leider recht” hatte oder nicht, ist irgendwie nicht erkennbar. Dass es in Griechenland gerade zu Beginn der Schuldenkrise viele Missstände gab, hat weder Gabriel noch sonst jemand bestritten. Kritikwürdig ist jedoch, wie “Bild” einzelne Probleme herausgreift und aus diesen heraus eine allgemeine mit Gier gepaarte griechische Sparunfähigkeit konstruiert (“… lesen Sie mal, was die sich alles leisten”). Darüber, dass die OECD Griechenland erst vor kurzem bescheinigte, so konsequent zu sparen wie kein anderes Land, haben bislang übrigens weder Blome noch Ronzheimer berichtet.

“Bild” zur Zukunft Griechenlands:

Griechenland ist ein “Fass ohne Boden”, schreibt BILD im Mai 2010.

Doch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hält dagegen: Er erwarte nicht, dass Griechenland über die jetzt beschlossenen (110 Mrd. Euro) Kredite hinaus weitere Finanzhilfen benötigt, sagte er in den ARD-“Tagesthemen”.

Inzwischen wird unter den EU-Finanzministern offen ein neues EU-Kreditpaket von zusätzlich 60 Mrd. Euro diskutiert.

“Bild” hat tatsächlich recht damit, dass die erste Finanzhilfe von 110 Milliarden Euro nicht ausreicht. Der Begriff “Fass ohne Boden” suggeriert jedoch, dass dieses Geld einfach verloren ist. Einmal mehr unterschlägt die Zeitung, dass Griechenland bislang alle Kredite bedient hat und dass Deutschland an dem “Fass ohne Boden” bis heute in Form von Zinsen fleißig mitverdient.

“Bild” über die Rückzahlungsfähigkeit Griechenlands:

“Sehen wir unser Geld jemals wieder?”, fragt BILD im April 2010. (…)

Premierminister Georgios Papandreou antwortet selbstbewusst: “Wir werden jeden Cent zurückzahlen.”

Doch es kommt anders. IWF, EU-Kommission und Europäische Zentralbank ziehen die sog. “Schuldentragfähigkeit” Griechenlands immer stärker in Zweifel.

Und noch mal: Bislang hat Griechenland jeden Cent zurückgezahlt. Ob das auch in Zukunft so sein wird, lässt sich schwer sagen, aber bislang ist “Bild” auch hier wieder im Unrecht.

“Bild” zur Effektivität der Finanzhilfen:

“Kann unser Geld die Griechen überhaupt noch retten?”, lautet eine andere BILD-Frage im Mai 2010.

Wieder hagelt es Kritik. (…)

Ein Jahr später ist allerdings klar, dass Griechenlands Anstrengungen nicht ausreichen.

Hier lohnt es sich, den besagten Artikel noch einmal zu lesen. Anders als von Blome und Ronzheimer dargestellt, wurde genau dieser Bericht von niemandem kritisiert: Er war nämlich einer der wenigen einigermaßen objektiven und unaufgeregten. Die Frage, ob “unser Geld” die Griechen überhaupt noch retten kann, hatte “Bild” ausnahmsweise völlig korrekt beantwortet:

Das kann niemand sagen.

“Bild” über das Verhältnis zur Politik der Bundesregierung:

“Verkauft uns nicht für dumm!”, fordert BILD von der Regierung in einem Kommentar Anfang Mai 2010.

Zuvor hatte u. a. Kanzlerin Merkel das Hilfspaket für Griechenland im Bundestag als  “alternativlos” dargestellt.

Mit den jetzt diskutierten verschiedenen Formen von Umschuldung bzw. Schuldenerlass wird aber klar, dass es doch Alternativen gibt – und von Anfang an gab.

Dieser Punkt geht anstandslos an Nikolaus Blome, der neben einem Euro-Austritt auch die Umschuldung und einen Schuldenerlass gefordert hatte — letzteren allerdings erst Mitte Mai 2011.

Der letzte Punkt und irgendwie auch das Fazit von “Bild” lautet:

“Griechenland versinkt im Chaos”, schreiben BILD-Reporter im Sommer 2010 nach einer Recherche-Reise.

In Deutschland will das niemand hören. Der Ex-Wirtschaftsweise Bert Rürup z. B. sagt: “Ich halte die Griechen in ihrer Mehrheit für einsichtig und lernfähig.”

Doch die Krise scheint das Land zu zerreißen.

Die “Recherche-Reise”, von der hier die Rede ist, diente allerdings nur bedingt dazu, die Hintergründe der griechischen Schuldenkrise zu recherchieren. Im Mittelpunkt standen stattdessen hämische Kommentare und plakative Aktionen wie diese:

Pleite-Griechen Hier feiern sie ihre Finanz-Spritze

Tschüs, Euro! BILD gibt den Pleite-Griechen die Drachmen zurück Aus Athen berichten Paul Ronzheimer und George Kalozois

Mit der Drachmen-Rückgabeaktion, die man schwer mit Journalismus verwechseln kann, brüstete sich Ronzheimer noch ein halbes Jahr später. Wie traurig es aussieht, wenn die Ereignisse einen solchen Schaumschläger dazu zwingen, doch einmal ernsthaft zu berichten, sehen Sie hier: Chaos in Griechenland – BILD-Reporter berichtet aus Athen

Bei einer solchen Ansammlung von willkürlichen Behauptungen, Lügen, Halbwahrheiten und Eitelkeiten fällt ein Fazit schwer. Am besten trifft es wohl auch hier Michalis Pantelouris, der schreibt:

Insgesamt: Bild hatte nicht recht und hat nicht recht. Stattdessen haben sie eine Kampagne an der Grenze zur Volksverhetzung gefahren (Michael Spreng), und ich möchte hinzufügen, dass nicht immer klar war, auf welcher Seite der Grenze.

Marcell D’Avis, Stefan Aust, Egon Erwin Kisch

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Kachelmann war ein exzellentes Objekt”
(heute.de, Panja Schollbach)
Michael Haller beobachtet einen “starken Trend zur Selbstkommerzialisierung” im Journalismus: “Im Mittelpunkt der Berichte steht nicht mehr das Aufklärungsinteresse, sondern der Verkauf. Das Bedenkliche ist, dass der Journalismus – vom ‘Spiegel’ über die People-Magazine bis hin zur ‘Bild’-Zeitung und anderen Boulevardmedien – vor allem an vermeintlichen Intimgeschichten, also am Voyeurismus interessiert war.”

2. “Schwarze Socken und rote Rübenschweine”
(berlinonline.de, Stefan Aust)
Stefan Aust blickt zurück auf seine Tätigkeit beim ARD-Magazin “Panorama”: “Irgendwie war ja damals alles politisch. Und Qualität war bei uns schon, wenn ein Beitrag möglichst kontrovers war. Interviewpartner wurden so ausgewählt, dass sie die Meinung des Autors wiedergaben. Im Zweifel ist ja für jede Position ein eloquenter Kronzeuge aufzutreiben.”

3. “Über Kisch und Kitsch”
(journalist.de, Ralf Geißler und Matthias Daniel)
Claudius Seidl (“Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung”) und Stefan Willeke (“Die Zeit”) sprechen über die Verleihung des Henri-Nannen-Preises. Und über Egon Erwin Kisch: “Kisch war ein sozialistischer Märchenonkel, mit Verlaub. Ein Mann mit einem durch und durch ideologischen Weltbild. Der wusste schon, was er von den Leuten zu halten hat, lange bevor er mit ihnen gesprochen hatte.”

4. “Maischbergers Grafiken”
(fernsehkritik.tv, Video)
Fernsehkritik.tv analysiert eine in der ARD-Talkshow “Menschen bei Maischberger” präsentierte Grafik, die “uns zeigt, dass besonders Rentner unter der Inflation leiden”. “Diese Grafik ist im Grunde nur dazu geeignet, Rentnern Angst zu machen, dass sie bald kein oder immer weniger Geld mehr bekommen vom Staat.”

5. “Die Standard-Antwort-E-Mail für unbeantwortete E-Mails”
(137b.org, zeitweise)

6. “Das real existierende 1&1-Aushängeschild”
(ftd.de, Georg Dahm und Thomas Wendel)
Ein Besuch bei Marcell D’Avis, “Leiter Kundenzufriedenheit” des Internetdienstleisters 1&1, in Montabaur.

Rüple Nachrede

Der brasilianische Abwehrspieler Rafinha wechselt vom FC Genua zum FC Bayern München.

Doch wer ist dieser Rafinha überhaupt? Bild.de erklärt es uns:

Während seiner Zeit auf Schalke (2005 bis 2010) wurde Rafinha als “Rüpel” und “schlimmster Profi der Liga” tituliert, zur Symbolfigur eines egoistischen Haufens stilisiert.

Dass er zu den Eifrigsten im Training gehörte, einen außergewöhnlichen Ehrgeiz hat und seit Jahren mit seiner dynamischen Spielweise zu den Stammkräften in seinen Teams gehörte, wurde darüber vergessen.

Und wer ha… Ach, Sie wissen ja eh, was jetzt kommt:

Manager Müller plötzlich knallhart: Geldstrafe für Rüpel Rafinha
(16. Februar 2009)

Rafinha Papa! Wird Schalkes Rüpel jetzt ganz lieb?
(18. Februar 2009)

Urlaub in Brasilien verlängert: Rafinha: Nächste Extrawurst für Schalkes Problem-Brasilianer
(11. September 2009)

Stinkstiefel-Abschied: Rafinha tritt gegen Schalke nach
(8. August 2010)

Der “schlimmste Profi der Liga” kam nicht von Bild.de — das war das “Bild”-Schwesterblatt “B.Z.”:

Draufgänger Rafinha: Der schlimmste Profi der Liga

Mit Dank an Stefan J. und Frederik Sch.

Flieger, grüß mir die Pinguine

Boulevardjournalismus besteht im wesentlichen daraus, unspektakuläre Geschichten spektakulär zu verpacken. Manchmal passiert es aber, dass auch ohnehin schon spektakuläre Geschichten noch spektakulärer verpackt werden — und dann meist völlig lächerlich wirken.

Die australische “Sunday Herald Sun” berichtete gestern über einen Vorfall, der sich im vergangenen Dezember zugetragen hatte: Ein Pilot in Ausbildung hatte an Bord seiner einmotorigen Maschine das Bewusstsein verloren und bewusstlos ca. 250 Kilometer zurückgelegt.

“Etwa 55 Minuten später kam er wieder zu Bewusstsein, über dem Wasser und unklar über seine Position”, führt der Bericht aus.

Tatsächlich hatte das Flugzeug Parafield komplett verfehlt und war auf seinem Weg hinaus aufs offene Meer der Großen Australischen Bucht, nachdem es Aldinga südlich von Adelaide verfehlt hatte.

(Übersetzung von uns.)

Mithilfe der Flugsicherung von Adelaide fand der Pilot seinen Weg zurück zu seinem Zielflughafen in Parafield.

Die “Sunday Herald Sun” zitiert einen Fluglehrer mit den Worten, der junge Mann habe nur noch Benzin für 60 Minuten an Bord gehabt und wäre dann einfach irgendwo ins Meer gestürzt.

Klingt doch schon ganz spektakulär, oder?

Nicht spektakulär genug für die Deutsche Presseagentur (dpa). Die dachte sich wahrscheinlich, dass sich eh kein Schwein mit den geographischen Gegebenheiten Südaustraliens auskennt, und wählte für ihre Überschrift einen etwas bekannteren Wegpunkt:

Pilot bewusstlos – Maschine steuerte auf Antarktis zu

Nun kommt nach dem offenen Ozean – nach viiieeel offenem Ozean – tatsächlich irgendwann die Antarktis. Verlängert man die eingeschlagene Flugroute aber einfach immer weiter, dann trifft sie eher auf das südliche Afrika, als auf die Antarktis. So lange wäre die Maschine aber eh nie in der Luft geblieben. Gute Gründe für die “Sunday Herald Sun”, die Antarktis mit keinem Wort zu erwähnen — wenn ein Pilot auf dem Weg von Berlin nach Hamburg bewusstlos würde und erst über der Elbmündung wieder zu sich käme, würde ja auch niemand schreiben, seine Maschine habe auf Grönland zugesteuert.

Australien: Pilot bewusstlos – Maschine steuert auf Antarktis zu

Bild.de ging (wie üblich) noch einen Schritt weiter und behauptete, der Pilot sei “Hunderte Kilometer aufs Meer hinaus Richtung Antarktis” geflogen, obwohl er die allermeisten der 250 bewusstlos geflogenen Kilometer über massivem australischen Festland zurückgelegt hatte.

Und weiter:

Offenbar schlief er ein, doch die Maschine flog in den nächsten 55 Minuten einfach weiter – 250 Kilometer weit Richtung Antarktis.

Oder bis zur Unendlichkeit. Und noch viel weiter.

Mit Dank an Basti, Jochen H. und Tom.

Der Bock ist immer der Gärtner

Vergangene Woche hat sich Bild.de ein Glashaus gebaut:

10 falsch verwendete Wörter: "Mit Fremdwörtern können Sie mir nicht imprägnieren!"

“Sprach-Trainer” Andreas Busch durfte erklären, was für “fiese Sprach-Fallen” es so gibt. Es folgte gar eine Auflistung der “10 am häufigsten falsch verwendeten Wörter” (wie auch immer man die ermitteln will).

Anatol Stefanowitsch, Professor für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg und Betreiber des Sprachblogs, hat sich auf unsere Bitte hin durch die Tipps von Bild.de gekämpft.

Ausführlichere sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu den “Sprach-Fallen” wird er im Laufe dieser Woche bei sich im Blog veröffentlichen.

Vorher dokumentiert er bei uns, wie sich Bild.de (nicht) an die eigenen Ratschläge hält:

Theater, Panorama, Überwachung

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Mediale Vorverurteilung”
(dradio.de, Brigitte Baetz)
Vor der erstinstanzlichen Urteilsverkündung im Prozess gegen Jörg Kachelmann stellt Brigitte Baetz fest: “Die Medien übernehmen immer mehr die Rolle eines modernen Prangers. Der Grundsatz, dass jeder zunächst als unschuldig zu gelten hat, scheint in der Berichterstattung immer öfter in den Hintergrund zu rücken.” Berichte in der NZZ und der FAZ stellen Vergleiche zum Theater an.

2. “Ex-‘Handelsblatt Online’-Chefredakteur räumt Plagiate ein”
(sueddeutsche.de, Marc Felix Serrao)
Sven Scheffler, bisheriger Chefredakteur von handelsblatt.de, hat “mitunter ganze Absätze kopiert”. “Warum er abgeschrieben habe, wisse er beim besten Willen nicht mehr: ‘Das war ein Riesenfehler. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte.’ Er wisse nur, dass er an dem Tag unter enormem Zeitdruck gestanden habe.”

3. “Mal ehrlich, ‘Frankfurter Allgemeine Zeitung’!”
(titanic-magazin.de)
Die Titanic entdeckt eine Bildbeschriftung auf faz.net, die so auch in der Wikipedia zu finden ist. “Die Texte zum zweiten, dritten und vierten Foto der Klickstrecke stehen ja – genau so bei Wikipedia! Bis auf einige kosmetische Änderungen sogar wortwörtlich!”

4. “Tabloid complains about ‘perving’ over Pippa”
(tabloid-watch.blogspot.com, MacGuffin, englisch)
Die Zeile “Sick Germans target royal sister” auf der Titelseite von “Daily Star Sunday” – und was “Bild” damit zu tun hat.

5. 50 Jahre Panorama
(daserste.ndr.de/panorama)
Die ARD-Sendung “Panorama” macht zum 50. Geburtstag Sendungen im Archiv zugänglich. Zu sehen sind nun Berichte wie “Klauen, lügen, schikanieren – Boulevardreporter auf Bilderjagd” (1997), “Piep, peep und Provokation – Wie Kultstars gemacht werden” (1998) oder “Blablabla vom Boulevard – Bild-Kampagne diffamiert Politiker und Parlamente” (2003).

6. “Die Anti-Terror-Lüge”
(gutjahr.biz, Richard Gutjahr)
Richard Gutjahr prüft die Anlässe für Telekommunikationsüberwachung 2009.

Wir basteln uns eine Anti-Lierhaus-Empfehlung

Am Sonntagmorgen meldete der “Spiegel”, dass das oberste Aufsichtsgremium der ARD empfehle, Monica Lierhaus als Botschafterin der ARD-Fernsehlotterie abzulösen. Inzwischen will er das offenbar nicht mehr behaupten.

In der Vorabmeldung des “Spiegel” und in der gedruckten Ausgabe lautet die Meldung noch so:

Das oberste Aufsichtsgremium der ARD empfiehlt, die Fernsehmoderatorin Monica Lierhaus als Werbebotschafterin bei der Fernsehlotterie auszuwechseln. Statt der Moderatorin solle man ein ebenso bekanntes Gesicht finden, das sich allerdings ohne Gage für diese Werbung zur Verfügung stelle, hieß es bei einer Sitzung der Gremienvorsitzendenkonferenz in Stuttgart. (…)

Der “Spiegel” erwähnt erstaunlicherweise nicht, wann diese Sitzung stattgefunden hat: bereits vor acht Wochen, Anfang April. Durch den Verzicht auf jede Zeitangabe kann man die angebliche Empfehlung auch als Reaktion der Gremienvorsitzenden auf den ersten Fernsehauftritt von Lierhaus am vorletzten Sonntag missverstehen.

Das scheint aber nicht die einzige Verkürzung und Zuspitzung zu sein, die der “Spiegel” vorgenommen hat. Nach mehreren Dementis Beteiligter veröffentlichte “Spiegel Online” am Sonntagnachmittag eine neue Version eines Artikels zum Thema, die — ohne das kenntlich zu machen — in einigen Punkten von der bisherigen Darstellung abweicht:

Artikel von 08:02 Uhr Artikel von 16:49 Uhr
Hohe Gage
ARD-Gremien wollen Lierhaus austauschen
Hohe Gage
ARD-Aufseher wollen Lierhaus austauschen
450.000 Euro bekommt Monica Lierhaus als Botschafterin der ARD-Fernsehlotterie – das hat für viele gekündigte Abos und auch intern für Unmut gesorgt. Nun wollen Aufseher in der ARD Lierhaus nach Informationen des SPIEGEL gegen ein “bekanntes Gesicht” austauschen – und künftig ohne Gage auskommen. 450.000 Euro bekommt Monica Lierhaus als Botschafterin der ARD-Fernsehlotterie – das hat intern für Unmut und viele gekündigte Abos gesorgt. Mitglieder eines Aufsichtsgremiums der ARD wollen Lierhaus nach SPIEGEL-Informationen nun gegen ein “bekanntes Gesicht” austauschen lassen.
Stuttgart – Das oberste Aufsichtsgremium der ARD empfiehlt, Moderatorin Monica Lierhaus als Werbebotschafterin bei der Fernsehlotterie auszuwechseln. Statt Lierhaus solle man ein ebenso bekanntes Gesicht finden, das sich allerdings ohne Gage für diese Werbung zur Verfügung stelle, hieß es bei einer Sitzung der Gremienvorsitzendenkonferenz in Stuttgart. (…) Stuttgart – Statt Lierhaus solle man als Botschafterin der ARD-Fernsehlotterie ein ebenso bekanntes Gesicht finden, das sich allerdings ohne Gage für diese Werbung zur Verfügung stelle, heißt es in einem Protokoll des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), in dem auch über Inhalte einer Sitzung der Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK) Anfang April in Stuttgart berichtet wird. Das Dokument liegt dem SPIEGEL vor. (…)
Einen formalen Beschluss des Gremiums in der Causa Lierhaus gab es indes nicht. (…)

Ausgerechnet von der “Bild”-Zeitung muss das Nachrichtenmagazin sich heute fragen lassen:

SCHREIBT “DER SPIEGEL” DIE WAHRHEIT ÜBER DIE BELIEBTE MODERATORIN?

Die Frage ist berechtigt.

Nachtrag, 6. Juni. In seiner aktuellen Ausgabe hat der “Spiegel” folgende “Korrektur” veröffentlicht:

Der SPIEGEL hatte berichtet, dass die Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK), das oberste Kontrollgremium der ARD, empfohlen habe, Monica Lierhaus als Werbebotschafterin bei der Fernsehlotterie auszuwechseln, und sich dabei auf das Protokoll einer Sitzung des MDR-Rundfunkrats bezogen, in dem dies so stand. Eine derartige formale Empfehlung der GVK hat es nicht gegeben. Allerdings wurde die Causa Lierhaus in der GVK Anfang April hitzig diskutiert. Im GVK-Protokoll ist von einem “erheblichen Unwillen der Gremien” die Rede. Nötigenfalls seien “Konsequenzen zu ziehen”.

AFP, dapd, dpa  etc.

Panikmache in deutschen Landen

Das Darmbakterium EHEC sorgt in der Bevölkerung für Unruhe: Franz Josef Wagner schrieb gestern an die “lieben Gurken, Tomaten, Kopfsalate” und stellte fest, dass “alles, was früher gesund war”, heute “nicht mehr gesund” sei, und bei “Spiegel Online” erklärte ein Gemüsehändler:

Händler im Ehec-Stress: "Ich werde wie ein Mörder behandelt, weil ich Gurken verkaufe"

Am Mittwochabend hatte die Deutsche Presseagentur (dpa) getickert:

Auch für die Fachleute vom Robert Koch-Institut erhellt sich das Bild erst langsam. Aufgrund einer unter Hochdruck erstellten Studie greifen die Experten jetzt zum Hammer: Vorsorglich sollte man auf rohe Tomaten, Salatgurken und Blattsalate aus Norddeutschland komplett verzichten.

Doch der “Hammer” hing woanders: in seiner Pressemitteilung hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) erklärt:

Vor dem Hintergrund des noch anhaltenden, gravierenden Ausbruchsgeschehens mit zum teil schweren gesundheitlichen Folgen empfehlen RKI und BfR über die üblichen Hygieneregeln im Umgang mit Obst und Gemüse hinaus, vorsorglich bis auf weiteres Tomaten, Salatgurken und Blattsalate insbesondere in Norddeutschland nicht roh zu verzehren.

Also keine Warnung vor Gemüse aus Norddeutschland, sondern “insbesondere in Norddeutschland” — ein Unterschied, wie ob man vor Touristen aus einem bestimmten Land warnt oder vor Urlaub ebenda.

Das BKI hatte sogar noch erklärt, dass die Studie “nur bedingt Aussagewert für andere betroffene Orte” habe, da sie nur in Hamburg durchgeführt worden war. Das hatte sogar die dpa irgendwie verstanden:

(…) Aussagewert hat die Studie vor allem für Hamburg. Doch der Rat zum Komplettverzicht im Norden im Rohzustand trifft Millionen Menschen, Bauern und Händler.

Haben Sie’s gemerkt? Jetzt war plötzlich vom Komplettverzicht im Norden die Rede.

Doch in einer zweiten Kurzmeldung (“EHEC: Warnung vor Salat, Gurken und rohen Tomaten aus dem Norden”) warnte das RKI laut dpa plötzlich vor dem Gemüse “insbesondere aus Norddeutschland”. Und da es Agenturen wie AFP und dapd auch nicht so genau genommen hatten, rollte die Lawine los:

EHEC: Keine Tomaten, kein Salat aus Norddeutschland. Wo kommt der EHEC-Keim her? Erste Experten raten davon ab, Tomaten, Gurken und Salat aus Norddeutschland zu essen. Für die Gemüsehändler ist die Warnung ein Desaster.

Salat, Gurken und Tomaten: Experten warnen vor rohem Gemüse aus Norddeutschland

RKI warnt vor Salat, Gurken und Tomaten aus Norddeutschland: Das Robert Koch-Institut warnt davor, rohe Tomaten, Salatgurken und Blattsalate aus Norddeutschland zu essen. Die EHEC-Erkrankten in einer Studie hätten diese Gemüsesorten deutlich häufiger gegessen als gesunde Vergleichspersonen, teilte das Institut in Berlin mit.

EHEC: Warnung vor Salat, Gurken und Tomaten aus Norddeutschland

Darmkeim Ehec: Warnung vor Gemüse aus Norddeutschland

Salat, Gurken und Tomaten: Experten warnen vor rohem Gemüse aus Norddeutschland

Auch in der 20-Uhr-“Tagesschau” sprach Marc Bator am Mittwoch von einer Warnung vor “Salaten, Salatgurken und Tomaten, insbesondere aus Norddeutschland”, während sich “Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke nicht so recht entscheiden wollte, ob es nun um Gemüse aus oder in Norddeutschland ginge. Wichtiger als der richtige Sachverhalt war ihm offenbar die richtige Reihenfolge der Meldungen in seiner Sendung.

Rund eine Stunde später versuchte die dpa mit einer weiteren Meldung, den Fehler unauffällig zu korrigieren. Doch die “Warnung vor Salat, Gurken und rohen Tomaten im Norden” interessierte da schon niemanden mehr. Auch AFP und dapd schwenkten irgendwann unauffällig auf die Formulierung “in Norddeutschland” um.

Am Donnerstag aber wählte die dpa eine ganz besondere Art der Korrektur und veröffentlichte am Nachmittag unter der Überschrift “EHEC-Warnung galt für den Norden, nicht für Gemüse aus dem Norden” eine Meldung, die dpa-Chef Wolfgang Büchner höchstselbst als Autor auswies.

Darin hieß es:

Auf Grundlage dieser Pressemitteilung des RKI berichteten zahlreiche Medien, das Institut warne vor Gemüse aus Norddeutschland. Auch die dpa sendete am Mittwochabend eine Eilmeldung mit der “Überschrift RKI warnt vor Salat, Gurken und Tomaten aus Norddeutschland”. Diese Formulierung war unscharf, weil sie als Aussage über der genaue Herkunft des Gemüses verstanden werden konnte. Es sollte damit aber lediglich eine Aussage über die regionale Begrenzung der Warnung getroffen werden. Die Formulierung “Gemüse aus Norddeutschland” wurde und wird in der weiteren dpa-Berichterstattung nicht mehr verwendet.

Da die dpa ihre Artikel in den Redaktionssystemen ihrer Kunden aus technischen Gründen nur am Veröffentlichungstag selbst korrigieren kann, die Ursprungsmeldung aber schon vom Vortag war, schrieb die dpa erklärend dazu:

Damit wird die dpa 1812 vom 25. Mai präzisiert. Damit ist klargestellt, dass das RKI nicht ausdrücklich vor Gemüse aus Norddeutschland gewarnt hatte, sondern vor dem Verzehr roher Tomaten, Salatgurken und Blattsalate “insbesondere in Norddeutschland”.

Zu der eigentlich fälligen Welle von Korrekturen oder “Präzisionen” auf den News-Seiten führte dieser Hinweis aber nicht.

Mit Dank an Gert M., Marcus W. und Jo A.

Killerkeime, Handschellen, Franz Josef Wagner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Alarm im Darm des Journalismus”
(taz.de, Michael Ringel)
“Ganz Deutschland” fürchtet sich vor EHEC? Michael Ringel zweifelt daran. Und erinnert sich an den Norovirus. “Noro klang wie Dr. No und war der Darmschrecken, bevor Ehec auftauchte. Noro kostete bislang weitaus mehr Menschen das Leben als Ehec, aber in unseren aufgeregten Zeiten braucht es eben immer neue Säue, die das Mediendorf in Atem halten.”

2. “Angriff der Killerkeime”
(fagri.de)
Ein Tod durch EHEC ist im Vergleich zu anderen Todesarten eher unwahrscheinlich. Trotzdem fürchten sich die Menschen. “Ein Grund dafür ist, dass der Mensch nicht die Größe der Gefahr selbst wertet, sondern wie andere darauf reagieren. Wenn nun aber die Medien durch die Bank auf ihren Titelseiten suggerieren: ‘Wir haben ein Problem!’ wird dies zum allgemeinen Konsens.”

3. “Facie prima”
(ad-sinistram.blogspot.com, Roberto J. De Lapuente )
Viele Medien zeigen Dominique Strauss-Kahn in Handschellen. Roberto J. De Lapuente fragt, was dagegen spricht, ein neutrales Foto zu verwenden: “Solche Fotos sind ein Affront gegen die Unschuldsvermutung und untergraben den fairen Verlauf des Rechtsstaates. Selbst wenn eine mögliche Unschuld am Ende herauskäme, die Bilder brennen sich ein.”

4. “Der rasende Regierungssprecher”
(zeit.de, Steffen Seibert)
@RegSprecher Steffen Seibert schreibt seine Erfahrungen mit Twitter und Twitter-Nutzern auf: “Der dogmatische Teil der Twittergemeinde, und der meldet sich gerne bei mir, erregt sich ebenso lustvoll über abweichendes Verhalten wie manch Schrebergärtner über Wildwuchs in der Parzelle nebenan.”

5. “Blogs als Quelle für traditionelle Medien: Keine Lust mehr, euer Fußvolk zu sein”
(basicthinking.de, Jürgen Vielmeier)
Jürgen Vielmeier stellt fest, dass viele traditionelle Medien Blogger nicht richtig zitieren.

6. “BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner und seine Mutter”
(mediensalat.info, Ralf Marder)

Bild  

Dieser doofe Datenschutz!

Man kann es nicht oft genug betonen: Die meisten Grundrechte und Gesetze sind den Leuten bei “Bild” scheißegal.

In ihrer Hannoveraner Ausgabe fragte “Bild” gestern, ob die Polizei Daten von Handys und Computern nutzen dürfe, um Verbrecher oder Terroristen zu fassen.

Doch die Frage war wohl eher theoretisch zu verstehen, wie ein Blick auf die Überschrift beweist:

CDU-Minister klagen an: 43 Sex-Schweine kommen davon ...​weil FDP auf Datenschutz pocht

Niedersachsens CDU-Innenminister Uwe Schünemann, seit jeher glühender Verehrer der Vorratsdatenspeicherung, und sein Justizminister haben – obwohl gar nicht zuständig – eine “Formulierungshilfe” an Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gesandt, mit der sie diese auffordern, die Vorratsdatenspeicherung endlich in überarbeiteter Form wieder einzuführen.

Eine Aktion, mit der sie bei “Bild” punkten konnten: Die Zeitung bezeichnet das Vorgehen als “Ohrfeige für die FDP!”

Das Bundesverfassungsgericht hatte vor mehr als einem Jahr eine Neuregelung für das Speichern zentraler Daten gefordert. Passiert ist in Berlin seither nichts.

Diese Sätze sind perfide formuliert, legen sie doch nahe, dass das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert habe, endlich ein Gesetz zu erlassen, das die Vorratsdatenspeicherung erlaubt. Dabei hatte das Gericht entschieden, dass es dem Gesetzentwurf der schwarz-roten Bundesregierung an Verhältnismäßigkeit gemangelt habe und in dieser Form mit dem Fernmeldegeheimnis nicht vereinbar sei.

Nun lag es bei der Bundesregierung, genauer: der Justizministerin, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, der mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Der Nutzen einer solchen Vorratsdatenspeicherung wurde schon früh von Gutachtern in Zweifel gezogen, eine Analyse des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung ergab zudem, dass die Vorratsdatenspeicherung die Aufklärung schwerer Straftaten nicht habe verbessern können, während sie in Kraft war.

Ob die von Schünemann zitierten 43 Fälle von Kinderpornografie, “wo wir keine Möglichkeiten hatten, die Täter zu kriegen”, mithilfe der Vorratsdatenspeicherung tatsächlich aufgeklärt worden wären (und ob das einen solchen Eingriff in die Grundrechte wert wäre), kann also niemand mit letzter Gewissheit sagen.

Mit Dank an Lieven R.

Blättern:  1 ... 627 628 629 ... 1159