Auf dem Boulevard wird schon Salz gestreut

So lag “Bild” gestern in Berlin am Kiosk:

So zeigt sich ein Berliner Abgeordneter im Internet

Im Inneren erklärte die Zeitung dann, wer der Abgeordnete ist (Simon Weiß von der Piratenpartei) und was er da auf dem Foto macht:

Ein junger Mann beugt sich über eine Linie weißes Pulver. An seine Nase hält er eine Papierrolle. Und deutet an, die weiße Substanz hochzuziehen als wäre es Kokain. Daneben steht ein Salzstreuer. Das Foto zeigt Pirat Simon Weiß (26), der im Abgeordnetenhaus sitzt. Er hat es über den Internetdienst Twitter veröffentlicht.

Bei Bild.de ging die Geschichte erst nach einer Drehung an der Meta-Schraube online und klang dann so:

Seine Idee: ein bisschen Drogen-Provokation. Wie originell!

Auf seinem Twitter-Account hat er ein neues Profilfoto eingestellt. Zu sehen: Simon Weiß, wie er seinen Kopf über eine Tischplatte beugt, mit der linken Hand hält er sich das linke Nasenloch zu, an das rechte Nasenloch drückt er eine Papierrolle, deutet an, eine helle Substanz hochzuziehen als wäre es Kokain. Links im Bild: ein Salzstreuer. Ha-ha!

Die Salz-Schnupf-Experten von Bild.de finden das offenbar nicht lustig:

Lustig hin, lustig her, Fakt ist: Der Landespolitiker täuscht eine Straftat vor.

Denn der Konsum von harten Drogen ist in Deutschland verboten!

Das stimmt so nicht: Der reine Konsum von Kokain ist in Deutschland nicht verboten, wohl aber der Besitz, die Herstellung oder der Handel (der Konsum ohne vorherigen Besitz ist natürlich ein wenig knifflig). Und unter “Vortäuschen einer Straftat” versteht man die Anzeige einer nicht begangenen Straftat wider besseres Wissen.

Simon Weiß zeigte sich angesichts der großen “Bild”-Geschichte über seine Person auf Twitter recht entspannt und wollte die Aktion als “privat betriebene Satire” verstanden wissen. Dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, der bei Bild.de erklärt hatte, dass seines Erachtens “durch das Foto der Konsum von harten Drogen verharmlost wird”, warf Weiß vor, den “Stichwortgeber” für das “Hetzblatt” “Bild” zu “spielen”. Abschließend verwies er auf die Fotografin des Salzbildes, die “Bild” nach eigenen Angaben darauf hingewiesen hatte, dass die Zeitung das Foto nicht ohne weiteres hätte abdrucken dürfen.

Mit Dank an Brainfucker, Markus M. und Sebastian C.

Familien im Brennpunkt, Redezeit, Zitate

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Boah, voll krass: Brennpunkt Drehbuch”
(fernsehkritik.tv, Fernsehkritiker)
Das Drehbuch “Gutmütiger Teenie-Vater wird von dreister Ex-Freundin ausgenutzt” der RTL-Pseudo-Doku-Soap “Familien im Brennpunkt”.

2. “Begrenzte Redezeit für Frankreichs Politiker”
(wissen.dradio.de, Audio, 8:34 Minuten)
Die Behörde Conseil Superieur du l’Audiovisuel (CSA) wacht in Frankreich darüber, dass Regierung, Opposition und die restlichen Parteien am Radio und Fernsehen sekundengenau die ihnen zustehende Redezeit erhalten. “Wer grob und wiederholt gegen die Auflagen verstösst, zahlt oder verliert gar seine Sendelizenz.”

3. “Realitätsverlust in der PR-Branche”
(saschalobo.com)
Sascha Lobo schreibt über PR-Leute, die sich über das Desinteresse an ihrer Arbeit beklagen. “Statt nämlich zuzugeben, dass sie es nicht schaffen, Journalisten (und die Öffentlichkeit) für ihre Themen zu interessieren, klagen sie über ‘desinteressierte Journalisten’. Das ist Realitätsverdrehung, ja, Realitätsumdrehung der kontraproduktivsten Sorte.”

4. “Nazi-DVD – Mediengeschäft mit rechtem Terror”
(ndr.de, Video, 4:45 Minuten)
Nach Zapp-Informationen kaufte “Der Spiegel” das Bekennervideo der Mordserie an Kleinunternehmern exklusiv vom Antifaschistischen Pressearchiv. Inzwischen sind weitere Kopien aufgetaucht.

5. “Beziehung”
(el-futbol.de, Sidan)
Sidan denkt nach über das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken.

6. “Citogenesis”
(xkcd.com, englisch)
Woher die Zitate kommen.

Bild  

Pleite-Griechen loben Hetz-Reporter

Paul Ronzheimer ist der “Pleite-Griechen”-Beauftragte von “Bild”. Er “gab den Pleite-Griechen die Drachmen zurück”, beklagte, dass griechische Medien “mächtig Stimmung gegen Berlin” machten, und wurde für seine Griechenland-Berichterstattung mit dem “Herbert Quandt Medien-Preis” ausgezeichnet.

Schon früh hatte Ronzheimer “die Anti-Stimmung vieler Griechen zu spüren” bekommen, aber jetzt ist alles anders:

Ich, der BILD-Reporter, bin seit Ausbruch der Krise vor fast zwei Jahren insgesamt mehrere Monate im Land unterwegs gewesen, schrieb Klartext über die Zustände. BILD wurde fast täglich zum Thema in den griechischen Medien, im populären TV-Talk von Tatiana Stefanidou (Marktanteil 20 %) war ich 45 Minuten lang Gast. Zu Beginn der Krise wurde BILD mit Hass überzogen – heute bekommen wir Zustimmung!

Es folgen sechs überwiegend positive Zuschriften, die Ronzheimer von Griechen bekommen hat.

Oder in den Worten von Paul Ronzheimer:

Lesen Sie, was die Pleite-Griechen jetzt dem BILD-Reporter schreiben.

Die Kommentatoren bei Bild.de waren offenbar nicht ganz so begeistert von Ronzheimers Arbeit:

bild ist das letzte schmierfinkenblatt! bild lügt, betrügt, betreibt propaganda, schürt ängste und stimmungen, erpresst, und... wahrscheinlich wurde falsch übersetzt, anders ist für mich, diese positive Beurteilung der "BILD", nicht ganz vorstellbar. Was liegt auf der Treppe und Lügt......? na klar die Bild. Ich lese den Spiegel,Bild, natürlich den Kicker , und Janes D... mehr... STOP-die dumme Propaganda gegen die Griechen ! Bild = Das größte Lügenblatt überhaupt. Populistisch, christlich, vernunftsbeleidigend!

Aber “Bild” wäre nicht “Bild”, wenn nicht auch beim Abfeiern der eigenen Arbeit noch etwas schief gegangen wäre:

"Krieg mit den Brandstiftern von BILD" lautete diese Schlagzeile

Das stimmte so offenbar nicht, wie Bild.de überraschend klarstellte:

"Die Propaganda von BILD wirkt nicht", heißt es in dieser Überschrift. Anmerkung der Red: Durch eine Bild-Verwechslung stand ursprünglich eine falsche Übersetzung "Krieg mit den Brandstiftern von BILD" unter dem Foto. Dieses Zitat kommt in einem anderen Text über die BILD-Berichterstattung vor.

Mehr zu Paul Ronzheimers TV-Auftritt:

Mit Dank auch an Dimitrios P., Tobias P., Stephan U. und Paul Z.

Döner, Leidenschaft, Abrüstung

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Alles Döner oder was?”
(hagalil.com, Ramona Ambs)
Ramona Ambs fragt sich, warum deutsche Medien die Mordserie gegen acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer “Döner-Morde” tauften. Siehe dazu auch die Herkunft des Worts Döner: “von türkisch: dönmek = sich drehend”.

2. “Gastarbeiter und Döner-Morde”
(dasnuf.de)
Keine Döner wurden getötet, sondern Menschen, bemerkt auch dasnuf: “Sprache beeinflusst das Denken und umgekehrt, das ist nicht erst seit George Orwell bekannt. Ich fände es schön, wenn man sich das von Zeit zu Zeit mal bewusst macht und auch einzelne Formulierungen prüft.”

3. “Nazis, Bild und Kinderschänder”
(hollow-willow.de, Maja Ilisch)
Auf Bild.de ist nachzulesen, wie Nazis im Netz angeblich erkannt werden können.

4. “Plädoyer für Abrüstung”
(medienspiegel.ch, Hanspeter Spörri)
Der “Blick” und die Petarden: Hanspeter Spörri plädiert für eine sprachliche Abrüstung und erinnert daran, dass Journalisten keine Richter, sondern Berichterstatter sind. “Wir haben zwar das Privileg, unserem Ärger auch einmal öffentlich Luft zu verschaffen. Aber wir tragen Verantwortung, haben sozusagen eine Fürsorgepflicht für diejenigen, deren Bild oder Name wir in die Öffentlichkeit tragen.”

5. “Schlüsselfaktor Leidenschaft”
(vocer.org, Sylvia Egli von Matt)
Sylvia Egli von Matt, Direktorin der Schweizer Journalistenschule MAZ, wirbt für Journalisten mit Leidenschaft: “In schwierigen, unsicheren Zeiten gilt eine Art Darwinismus. Überlebenschancen hat wohl nur, wer stark ist, wer die Leidenschaft, den absoluten Willen hat, Journalist, Journalistin zu sein und Strapazen auf sich zu nehmen.”

6. “The Express and the weather”
(tabloid-watch.blogspot.com, MacGuffin, englisch)

Bild, RTL  etc.

Kachelmann-Paparazzo verliert doppelt

Hier sehen wir Jörg Völkerling bei der Arbeit:

Der Mann ist Journalist und Fotograf. Hier sitzt er im Frühling 2011 in der Nähe der Wohnung von Jörg Kachelmann und wartet auf eine neue Gelegenheit, den Wetter-Moderator vor die Kamera zu bekommen.

Das ist ihm schon einmal auf spektakuläre Weise gelungen. Im April vergangenen Jahres hatte Völkerling von der “Bild am Sonntag” den Auftrag bekommen, den damaligen Untersuchungshäftling Kachelmann in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Mannheim zu zeigen. Er baute seine Foto- und Videoausrüstung in der Küche eines Gebäudes auf, das sich gegenüber der Justizvollzugsanstalt Mannheim befindet. Von dort aus gelang es ihm — bevor er erwischt und der Wohnung verwiesen wurde — Kachelmann beim Hofgang zu fotografieren. Die Aufnahmen wurden von “Bild”, Bild.de, RTL und dem Online-Auftritt des Schweizer “Blick” veröffentlicht.

Nun ist Völkerling ein Mensch, der durchaus anerkennt, dass es so etwas wie Persönlichkeitsrechte gibt. Er meint nicht, dass man einfach jeden fotografieren und die Bilder dann veröffentlichen darf. Das Foto von ihm im Auto, zum Beispiel, hätte Kachelmann nicht über Twitter verbreiten dürfen, meint er.

Das Bild von Kachelmann beim Hofgang hingegen sei zulässig, denn Kachelmann sei außerordentlich prominent und nehme öffentlich zu sozialen Problemen Stellung. Dass er sich als Häftling in einer Justizvollzugsanstalt befunden habe, sei ein Vorgang der Zeitgeschichte, der durch die Fotos dokumentiert werde. Die Bilder ermöglichten es dem Leser, sich über die Unterbringung Kachelmanns eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem habe sich Kachelmann selbst hinterher öffentlich zu den Haftumständen geäußert — warum sollte man dann nicht Fotos, die diese Umstände dokumentieren, veröffentlichen dürfen?

Das Landgericht Köln widersprach Völkerlings Vorstellungen vom Persönlichkeitsrecht jetzt gleich doppelt: Er durfte Kachelmann nicht fotografieren. Kachelmann ihn schon.

Das Gericht urteilte, Kachelmann habe sich

in einem abgeschiedenen, jedenfalls der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum [befunden] und musste nicht damit rechnen, dass Lichtbilder von ihm angefertigt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst durch seine Inhaftierung keine Möglichkeit hatte, sich weiter in einen privaten Raum zurückzuziehen. Vielmehr war er aufgrund der Umstände gezwungen, den Gefängnishof zu nutzen. (…) Dieser Bereich ist (…) als Rückzugsbereich anzusehen, der im Rahmen der Bildberichterstattung den Einblicken Dritter grundsätzlich zu entziehen ist, zumal auch der Nachrichtenwert der Lichtbilder von untergeordneter Bedeutung ist.

Das Gericht gab der Klage Kachelmanns statt, Völkerling die Verbreitung der Fotos, die ihn nach seiner Ansicht stigmatisierten und vorverurteilten, zu untersagen. Es bestätigte eine entsprechende einstweilige Verfügung (BILDblog berichtete).

Die Gegenklage, mit der Völkerling Kachelmann das Foto von sich verbieten lassen wollte, wies das Gericht hingegen zurück. Das Bild sei “von zeitgeschichtlichem Interesse”:

Der Umgang der Medien mit Prominenten, insbesondere die Art und Weise wie die Berichterstattung über Prominente und die Bebilderung derselben erfolgt, ist bereits grundsätzlich von gesellschaftlicher Relevanz und von öffentlichem Interesse, da der Umgang miteinander die gesellschaftlichen Grundlagen berührt. Dieses öffentliche Interesse ist im vorliegenden Fall zudem noch dadurch gesteigert, dass die Berichterstattung über den Kläger, das gegen diesen geführte Strafverfahren aber auch der Umgang der Medien hiermit, ein wesentliches Thema der Jahre 2010 und 2011 war und großen öffentlichen Widerhall gefunden hat. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse daran zu erfahren, wie diese Berichterstattung zustande kommt. Der Beklagte, wenn auch selbst nicht bekannt, war in seiner Eigenschaft als Journalist und Fotograf – wie auch die Klage zeigt –  an dieser vielfach persönlichkeitsrechtsverletzenden (Bild-) Berichterstattung über den Kläger beteiligt. Dies und seine Arbeitsweise wird durch die streitgegenständliche zeitnah veröffentlichte Fotografie dokumentiert, die geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung über die Umstände von Medienberichterstattung zu erbringen.

Völkerling, der keine Unterlassungserklärung unterschreiben wollte und gegen die einstweilige Verfügung Berufung eingelegt hatte, muss die Kosten des Verfahrens tragen.

Landgericht Köln, 28 O 225/11

Korrektur, 14:45 Uhr. Ursprünglich hatten wir Völkering statt Völkerling geschrieben.

Mainstream, Bambi, Welt Kompakt

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Sog der Masse”
(zeit.de, Harald Martenstein)
Harald Martenstein denkt ausführlich über den Mainstream nach: “In den fünfziger Jahren, in denen ich geboren wurde, dachte fast jeder, dass Deutschland die im Krieg verlorenen Ostgebiete auf keinen Fall aufgeben dürfe, dass Frauen nur in Ausnahmefällen arbeiten gehen sollten, dass Homosexualität eine Perversion sei, über die man am besten nicht spricht, dass es tausend wichtigere Dinge gebe als Umweltschutz. Heute denkt fast jeder in diesen Fragen ungefähr das Gegenteil. Auch ich denke das Gegenteil. (…) Jemand, der wirklich ein Querdenker ist, müsste heutzutage vielleicht für die Wiedereinführung der Monarchie eintreten. Er müsste an den heiligen Idealen der sozialen Gerechtigkeit, am Atomausstieg und an der Emanzipation zweifeln. Mit anderen Worten, er müsste bereit sein, sich vom Schwarm zu einem gefährlichen Irren stempeln zu lassen.”

2. “Post an Wagner”
(zuspieler.de, Sebastian Wenzel)
Sebastian Wenzel antwortet auf den Brief “Lieber Poker-Weltmeister” von Franz Josef Wagner.

3. “Medien nutzen Twitter immer noch als Linkschleuder”
(faz-community.faz.net, Holger Schmidt)
Eine Auswertung von Twitter-Konten deutscher Medienmarken: “Inzwischen gibt es Redakteure, die mehr Follower haben als ihre Medienhäuser, weil sie sich auf den Austausch mit den Nutzern einlassen.”

4. “Schafft den Bambi endlich ab!”
(haz.de, Imre Grimm)
Ein Plädoyer für die Abschaffung des Medienpreises Bambi: “Und der ‘Bambi’ ist nicht allein. Die ‘Goldene Kamera’ von Springers ‘Hörzu’, der ‘Deutsche Fernsehpreis’; sie alle wirken wie aus der Zeit gefallen, versackt in der Irrelevanz, doch man macht unverdrossen weiter, als sei für alle Zeiten 1988.”

5. “Ich glaube, der Tagesspiegel sucht demnächst nen neuen Layouter. :D”
(yfrog.com, Foto)

6. Werbung für “Welt Kompakt”
(katzundgoldt.de, Cartoon)

Lynchvorlage (2)

Im Juli hatte “Bild” groß über einen Mann berichtet, der ein siebenjähriges Mädchen in Thüringen sexuell missbraucht und getötet hatte. Im Rahmen ihrer Berichterstattung bezeichnete die Zeitung den geständigen mutmaßlichen Täter als “Schwein” und zitierte einen BKA-Beamten mit den Worten “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”

Wie um es den genügend Anderen im Knast einfacher zu machen, hatte “Bild” den Fall mit einem großen, unverfremdeten Foto des Mannes illustriert (BILDblog berichtete):

Das ist Mary-Janes Mörder: Er hat sie missbraucht, gewürgt und warf sie lebend in den Bach

Wir haben uns beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung von “Bild” und Bild.de beschwert. Wie in solchen Fällen üblich nahm die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG dazu Stellung und erklärte unter anderem, es entspräche der ständigen Spruchpraxis des Deutschen Presserats, dass bei vorliegendem Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. (Der Presserat merkt dazu an, dass sich das Justiziariat dabei “auf den einzigen Fall mit diesem Tenor” berufe.)

Die Bezeichnung “Schwein” drücke nach Ansicht der Axel Springer AG aus, was der “weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung” über den Mann und die ihm zur Last gelegten Taten denke. Wer das Vertrauen und die Unterlegenheit eines Kindes ausnutze, um es sexuell zu misshandeln und es dann qualvoll umzubringen, sei nach herrschender Ansicht als “Schwein” zu bezeichnen. Auch die Einordnung als “beruflich und privat ein ewiger Verlierer” sei zulässig, da der mutmaßliche Täter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sein Leben nicht “auf die Reihe” bekommen habe, wie der Verlag weiter ausführte.

Den Abdruck des Fotos rechtfertigten die Springer-Juristen so:

Schon die Tatsache, dass jemand ein siebenjähriges Mädchen sexuell misshandele und sie danach ermorde, sei so außergewöhnlich, dass damit eine Fotoveröffentlichung gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei. Ein Großteil der deutschen Tagespresse haben über den Fall Mary-Jane berichtet.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte

Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ließ sich von dieser Begründung nicht beeindrucken und kam zu der Überzeugung, dass die Beiträge von “Bild” und Bild.de die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzten und damit gegen Ziffer 8 in Verbindung mit Richtlinie 8.1 (s. Kasten) des Pressekodex verstoße.

Die identifizierbare Abbildung des Täters ist aus Sicht des Beschwerdeausschusses “ethisch nicht vertretbar”. Ein Tatverdächtiger könne ausnahmsweise abgebildet werden, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liege oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen werde. Eine solche Ausnahme sei im konkreten Fall aber nicht gegeben, “Bild” hätte auch ohne Abbildung der Person oder mit ausreichend unkenntlich gemachten Bildern umfassend über den Fall berichten können.

Einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex, die zur Achtung der Menschenwürde mahnt, konnte der Beschwerdeausschuss jedoch nicht feststellen. Durch die Verwendung der Bezeichnung “Schwein” werde deutlich, “dass die Tat von der Redaktion als Schweinerei verstanden werde”. Sie bringe mit “bildhafter Sprache” eine zulässige Bewertung zum Ausdruck.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die letzten Ausführungen sind bemerkenswert, hatte der Presserat den Begriff “Schwein” (anders als etwa den Begriff “Bestie”) oder “Dreckschwein” doch bisher meist als Verletzung der Menschenwürde angesehen.

Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den Verstoß gegen Ziffer 8 aber als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.

Wolfgang Niedecken erklagt sich Respekt (2)

Der nicht einmal halbherzige Versuch, die Privatsphäre von Wolfgang Niedecken und seiner Familie zu respektieren, hat “Bild” schon zwei Einstweilige Verfügungen eingebracht (BILDblog berichtete). Vergangenen Donnerstag kam eine dritte hinzu.

Die Anwälte des BAP-Sängers schreiben auf ihrer Internetseite, es sei Bild.de jetzt verboten …

  • ein Foto zu verbreiten, das Niedeckens Kinder bei einem Krankenhausbesuch zeige,
  • den angeblichen Verlauf eines Schlaganfalltests zu veröffentlichen: Bild.de hatte geschrieben, Niedecken habe auf die Bitte eines Arztes, die Wochentage aufzuzählen, einen Arm gehoben. Diese Behauptung sei laut Niedeckens Anwälten “frei erfunden”.
  • Details über die Krankenhausbehandlung Niedeckens zu verbreiten,
  • sowie Details zu geplanten Nachbehandlungen zu veröffentlichen.

Weiter heißt es, Wolfgang Niedecken und seine Familie bäten erneut darum, die von Bild.de verbreiteten Behauptungen, die zum Teil frei erfunden seien, nicht zu übernehmen.

Zwangsverheiratung, Morddrohung, Jungsheft

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Weltrekord: EMI hat 1,3 Millionen Alben mit jeweils nur einem Song”
(blog.lukas-boehnlein.de, Lukas Böhnlein)
Lukas Böhnlein vergleicht Online-Artikel “über den Verkauf des EMI Tonträgergeschäftes und des EMI Musikverlages”.

2. “Banken-Werbung in DuMont-Medien”
(taz.de, Steffen Grimberg)
Redakteursvertreter des Verlags M. DuMont Schauberg wenden sich gegen eine Beilage, “die von der hauseigenen Wirtschaftsredaktion geschrieben werden soll”. “Besonders erzürnt die Redakteursvertreter, dass offenbar außerhalb der Beilage im normalen redaktionellen Teil von Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau ‘ein großes Interview’ mit dem Deutsche-Bank-Manager Kevin Parker geplant ist, der den Preis gemeinsam mit DuMont-Vertretern übergeben soll.”

3. “Die Zwangsehe in deutschen Köpfen”
(cicero.de, Woody Mues)
Wie Medien die Studie “Zwangsverheiratung in Deutschland” (PDF-Datei) aufnehmen: “BILD etwa schrieb ‘2008 wurden in Deutschland 3.443 Fälle von Zwangsverheiratungen registriert’. Tatsächlich jedoch haben in diesem Jahr 3.443 Menschen eine Beratung zum Thema Zwangsheirat wahrgenommen”.

4. “Wie man in den Wald ruft …”
(medienwoche.ch, Nick Lüthi)
“Blick”-Mitarbeiter erhalten Morddrohungen und werden mit einer Plakatkampagne konfrontiert: “Hier folgt eine Hetzkampagne auf die andere Hetzkampagne – jene gegen die Blick-Journalisten als Reaktion auf die Kampagne gegen den ‘Petarden-Trottel’.”

5. “Der Klügere tritt nach”
(fernsehkritik.tv, Video)
Fernsehkritik.tv macht sich Gedanken über die ARD-Sendung “Der klügste Deutsche” (Website), insbesondere über das Televoting, mit dem am Ende ein Gewinner bestimmt wurde.

6. “Ich möchte die süssen Kerle nackt sehen”
(sonntagszeitung.ch, Martina Bortolani)
Martina Bortolani spricht mit Elke Kuhlen, Herausgeberin von “Jungsheft” und “Giddyheft”: “Ich finde, dass die Darstellung von Sexualität nicht gross bearbeitet werden sollte, weil sie im realen Erlebnis auch nicht perfekt ist. Das macht den Sex ja auch reizvoll.”

Prince Charming

Prinz Harry, Dritter der britischen Thronfolge und von den Boulevard-Medien gern als arger Hallodri beschrieben, weilt ob seiner Pilotenausbildung derzeit im Städtchen Gila Bend in Arizona.

Die britische “Daily Mail”, als Quelle für seriöse Berichterstattung in etwa so tauglich wie die gesammelten Grimm’schen Märchen, berichtete vergangene Woche, der Prinz sei dort etwas reserviert empfangen worden:

Ron Henry, Bürgermeister der 1.700-Seelen-Gemeinde, in der viele Einwohner streng gläubige Christen sind, sagt, Harry solle aufpassen, da ihm sein Ruf als Frauenheld vorauseilt.

“Hier gibt es bestimmt einige Väter, die zu extremen Mitteln greifen würden, um ihre Töchter zu beschützen”, sagte Mr. Henry, 64. “Einige der Väter würden nicht zimperlich mit einem Prinz umspringen, der sich des Nachts vergnügt.”

(Übersetzung von uns.)

Mal mit, mal ohne Nennung der Quelle “Daily Mail” hat sich diese Geschichte in den vergangenen Tagen auch in deutschsprachigen Medien verbreitet — zugegebenermaßen vor allem in solchen, die mit der Seriosität von Grimms Märchen nicht wirklich mithalten können: RTL.de, “Focus Online”, blick.ch, mopo.de oder der “Berliner Kurier” hatten darüber berichtet.

Die Geschichte verliert allerdings ein wenig dadurch, dass die Stadtverwaltung von Gila Bend schon am Tag, als der Artikel in der “Daily Mail” erschienen war, die angeblichen Zitate des Bürgermeisters brüsk zurückgewiesen hatte:

Unglücklicherweise hat die “Daily Mail” am 7. November 2011 eine schäbige und erfundene Geschichte aufgeschrieben. Bürgermeister Henry erklärte: “Ich bin tief betrübt, dass die “Daily Mail” Bemerkungen nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen, sondern auch vollständig erdichtet hat. Tatsächlich waren die negativen Bemerkungen die Worte des Reporters, der sich entschieden hat, eine Geschichte lieber aufzubauschen und zu erfinden, als die Wahrheit zu berichten. Ich würde niemals solche seltsamen Äußerungen machen. Wir haben enormen Respekt und Verehrung für Prinz Harry und die königliche Familie. Wir sind aufgeregt, stolz und geehrt, ihn in unserer Gemeinde zu haben, und wir werden alles dafür tun, dass sein Aufenthalt so angenehm wie möglich wird.”

(Übersetzung von uns.)

Mit Dank an Konstantin K.

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