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4. “Lobbyisten erfolgreich: Leistungsschutzrecht soll kommen” (lobbycontrol.de)
Hintergründe zur Lobbyarbeit der Presseverlage Burda und Springer, die das Leistungsschutzrecht für Presseverleger erfolgreich in die Regierungskoalition getragen hat.
5. “Die Achse des Boulevards” (nzz.ch, Rainer Stadler und Beat Gygi)
Die Boulevard-Aktivitäten der Verlage Axel Springer und Ringier in Osteuropa. “Nun arbeiten Ringier und Springer daran, ihre starke Stellung im Pressesektor auf den Online-Markt auszuweiten.”
Wenn Sie finden, dass die 89-jährige Martha Stewart vor drei Monaten noch verdammt jung für ihr Alter aussah, dann haben Sie recht — auf ‘ne Art.
Das Foto bei Bild.de zeigt nämlich nicht die jetzt verstorbene Schauspielerin Martha Stewart, sondern die TV-Köchin, Wohnungseinrichterin und Multi-Millionärin Martha Stewart. Die ist erst 70 Jahre alt, auch wenn sie nicht wirklich danach aussieht.
* * *
Eine andere Verwechslung haben sie bei Bild.de im Laufe der Nacht noch bemerkt: Um den “Hooligan-Überfall auf der Autobahn” bebildern zu können, hatte die Redaktion malwieder auf die Künste der “‘Bild’-Zeichnerin” Nora Nowatzyk zurückgegriffen, die offenbar im Eifer des Gefechts auf einen Bus von gewalttätigen “Fans” des 1. FC Köln das Logo des 1. FC Kaiserslautern montiert hatte:
Inzwischen ist die Grafik auf Bild.de mit dem Köln-Logo zu sehen, die Redaktion schreibt dazu:
Anmerkung der Redaktion: Durch einen technischen Fehler ist über Nacht irrtümlich eine falsche Grafik mit dem Wappen des 1. FC Kaiserslautern angezeigt worden. Wir bitten unsere User und den 1. FC Kaiserslautern um Entschuldigung.
Mit Dank an N.F. und Tobias R., sowie an Till S., DerPhi, Oliver W. und swg.
Nachtrag, 22.20 Uhr: Bild.de zeigt jetzt die richtige Martha Stewart — und weist sogar auf die vorherige Verwechslung hin:
Anm. der Red.: Leider hatten wir die Meldung in einer ersten Version falsch bebildert. Wir haben den Fehler behoben und bitten um Ihr Verständnis.
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2. “Leistungsschutzrecht: Ich bin reich. Reich!” (netzfundbuero.de, Tom Hillenbrand)
“Heute ist ein guter Tag. Warum? Weil ich stinkend reich werde. Nicht durch meine Krimis, auch nicht durch meine journalistische Arbeit – beides brotlose Kunst. Sondern wegen diesem neuen Leistungsschutzrecht.”
3. “Verblendung gepaart mit Eitelkeit” (taz.de, Rafik Schami)
Schriftsteller Rafik Schami greift die “Prominenz-Journalisten” Jürgen Todenhöfer und Peter Scholl-Latour scharf an. “Autoren wie Jürgen Todenhöfer oder Peter Scholl-Latour finden den Absatz ihrer bedenklichen Sympathien für Mörder wie Assad nicht etwa auf den Seiten der Bild-Zeitung. Sie sitzen bei ARD, FAZ, FAS und Die Zeit in der ersten Reihe. Und sind sie einmal da, werden sie von hunderten kleineren Medien zitiert. (…) Die Prominenz-Journalisten spielen eine widerliche Rolle. Sie verleumden Tote und Lebende, um den Diktator zu decken.”
5. “Debatte über Frauenquote” (spiegel.de, Jan Fleischhauer)
“Meinetwegen können sie die Quote sofort einführen, schon damit uns solche Titelgeschichten, wie sie diese Woche der ‘Stern’ präsentiert, in Zukunft erspart bleiben. Drei erfolgreiche Journalistinnen reden mit vier noch erfolgreicheren Frauen darüber, wie toll es ist, als Frau erfolgreich zu sein. Das Ganze ist von so bestürzender Einfalt, dass ich beim Lesen kurzzeitig den Verdacht hatte, es müsse sich um ein besonders perfides Manöver handeln, Frauen lächerlich zu machen. Man stelle sich nur für einen Moment vor, drei Auto-Journalisten würden vier Auto-Manager unter der Überschrift ‘Yes he can’ dazu befragen, wie es ihnen nur gelungen ist, eine so tolle Karriere zu machen.”
6. “Heil Hoffler!” (blogs.taz.de/hitlerblog, Daniel Erk)
“Hasselhoff schockt im Hitler-Kostüm”, schreibt die “B.Z.” über einen Auftritt von David Hasselhoff in London.
Die Katholische Nachrichtenagentur KNA hatte es besonders eilig. Keine zehn Minuten, nachdem die “Bild”-Zeitung in ihrer Online-Ausgabe über eine ihr exklusiv vorliegende Studie des Bundeninnenministeriums berichtet hatte, verbreitete die KNA in einer eigenen Meldung die “Bild”-Behauptungen ungeprüft weiter.
Die Agentur verfügte zu diesem Zeitpunkt allem Anschein nach über keinerlei eigene Informationen, was die Studie “Lebenswelten junger Muslime” herausgefunden hatte oder auch nur, was genau ihr Gegenstand war. Die KNA-Meldung beruht vollständig und ausschließlich aus dem, was die “Bild”-Zeitung behauptete, und macht es sich zu eigen, bis hin zur Überschrift: “Studie: Viele junge Muslime sind gegen Integration”
Dies ist die Geschichte, wie “Bild” vorab die Studie über “Lebenswelten junger Muslime in Deutschland” zugespielt wurde, wie das Blatt sie nutzte, um Stimmung gegen Muslime in Deutschland zu machen, und wie andere Medien dabei zu Komplizen wurden. Ein Lehrstück.
Wolfgang Frindte, einer der Autoren der Studie, formulierte im Nachhinein seine Fassungslosigkeit über die Rezeption der Untersuchung so:
Manche Journalisten suchen sich bei komplexen Dingen das heraus, was spannend ist und in die Philosophie des Mediums passt. In unserem Team hat es nach der Veröffentlichung in einer Boulevardzeitung große Entrüstung gegeben, sogar Verzweiflung. Da wurde ein Detail der Studie auf eine Weise in die Öffentlichkeit getragen, dass sich die von uns befragten Muslime missbraucht fühlen könnten — das ist traurig. Und wir haben uns in den vergangenen drei Tagen ziemlich alleingelassen gefühlt.
Der Psychologe Peter Holtz, ebenfalls einer der Autoren der Studie, schildert auf “Spiegel Online”, wie er drei Jahre lang Gespräche mit jungen Musliminnen und Muslimen führte, und wie skeptisch die ihm teilweise gegenüber traten.
Ein jüngerer Diskussionsteilnehmer sagte (…): “Egal was Ihr wollt und egal was Ihr macht, letztendlich heißt es doch wieder so und so viele Muslime sind radikal und wollen sich nicht integrieren.” Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde es für mich auch zum Ziel, diesen Menschen, über die in Deutschland so viel geredet wird und mit denen so wenig geredet wird, durch meine Arbeit eine Stimme zu geben.
Er hat dieses Ziel nicht erreicht. Es kam die “Bild”-Zeitung dazwischen. Jemand hatte ihr die Studie schon vorab zugesteckt. Bild.de machte aus ihr eine “Schock-Studie”. Und “Bild” am nächsten Tag die Schlagzeile:
“Bild” behauptete:
Gut 20 Prozent aller Muslime in Deutschland lehnen eine Integration ab. Besonders radikal sind junge Muslime ohne deutschen Pass.
Das ergibt eine Studie des Bundesinnenministeriums, die BILD exklusiv vorliegt. Laut der Untersuchung lehnt jeder vierte nichtdeutsche Muslim Integration ab, ist tendenziell gewaltbereit und stellt westliche Werte in Frage.
In den nächsten Stunden übernahmen die Nachrichtenagenturen den verzerrten “Bild”-Blick auf die Studie.
dpa:
Jeder vierte nichtdeutsche Muslim lehnt Integration ab
dapd:
Studie: Ein Viertel aller junger Muslime nicht integrationswillig
AFP:
Ein Viertel aller jungen Muslime ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist einer Studie im Regierungsauftrag zufolge latent gewaltbereit und nicht an Integration in Deutschland interessiert.
Später am Abend war die Studie immer noch nicht öffentlich. Die “Schock-Studien”-Interpretation von “Bild” bildete weiter die alleinige Grundlage für die Auseinandersetzung mit ihr. Die Agentur dpa verbreitete, dass der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der “Neuen Osnabrücker Zeitung” gesagt habe, die hohe Zahl nicht integrierter und auch nicht integrationswilliger Muslime sei “erschreckend”.
Die evangelische Agentur epd kam spät, war aber auch nicht schlauer, als sie am Donnerstagmorgen meldete:
Rund ein Fünftel der Muslime will sich offenbar nicht in Deutschland integrieren. Das geht laut “Bild”-Zeitung (Donnerstagsausgabe) aus einer noch unveröffentlichten Studie des Bundesinnenministeriums hervor.
Erst um 12:21 Uhr brachte sie eine längere Meldung, die sich erstmals von der “Bild”-Perspektive löst und differenziert über die Studienergebnisse berichtet:
Studie: Mehrheit deutscher Muslime für Integration – Teil junger Muslime hat jedoch radikale Einstellungen
In der Meldung findet sich auch der folgende Absatz, der angesichts der gerade demonstrierten medialen Reflexe besonders bemerkenswert ist:
Gemein ist den in Deutschland lebenden Generationen von Muslimen laut einer Auswertung von Interviews, dass sie eine Pauschalverurteilung der Muslime als Terroristen und eine vorschnelle Verknüpfung des Islam mit dem Terrorismus erleben. Eine stark negative Rolle wird demnach auch den Medien zugeschrieben, die aus Sicht der Befragten oft negativ und undifferenziert berichteten. Insgesamt fühlen Muslime sich in Deutschland wohl, auch wenn sie die deutsche Bevölkerung oft als distanziert und abweisend erlebten.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hatte inzwischen die Studie selbst vorgestellt, so dass sich die Gelegenheit zu einem differenzierteren, nicht von “Bild” verzerrten Blick auf ihre Ergebnisse ergab. Genau umgekehrt stellte es dpa in einer Meldung vom Donnerstagnachmittag dar und behauptete:
Kaum ist die Studie des Bundesinnenministeriums über junge Muslime bekanntgeworden, sieht sich Ressortchef Friedrich veranlasst, sie zu relativieren: Kein Generalverdacht gegen junge Andersgläubige.
So ist das also für dpa: Das “Bild”-Zerrbild der Studie ist die Wahrheit, und der genaue Blick auf die Studie ist eine Relativierung ihrer Ergebnisse.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warnte ebenfalls am Donnerstagnachmittag vor verkürzten Interpretationen:
“Ich warne davor, aus einer wissenschaftlichen Studie nur Schlagzeilen zu produzieren. (…) Wir sollten die Vorurteile der Vergangenheit und althergebrachte Reflexe endlich hinter uns lassen. Wir brauchen keine Debatte, die ein Zerrbild des Einwanderungslandes Deutschland vermittelt.”
“Bild” fühlte sich — sicher nicht zu unrecht — gemeint und machte Leutheusser-Schnarrenberger dafür am Freitag zum “Verlierer des Tages” (Ausriss rechts).
Am selben Tag zeigte die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, was man überraschendes entdecken kann, wenn man die Studie tatsächlich liest. Auf Seite 399 betonen die Forscher den Zusammenhang: Wer sich als nichtintegrierbar wahrgenommen fühle, fühle sich auch nichtintegrierbar. Und auf Seite 277 steht folgender Warnhinweis:
Was für ein Schock: Die Zahlen der “Schock-Studie” über junge Muslime sind nicht repräsentativ.
Aber noch einmal zurück zum Mittwochnachmittag, als Bild.de zum ersten Mal über die Untersuchung berichtete. Der Innenminister hatte der “Bild”-Zeitung für ihre Vorabveröffentlichung ein Zitat gegeben, das deren Interpretation als “Schock-Studie” stützte und ergänzte:
“Deutschland achtet die Herkunft und kulturelle Identität seiner Zuwanderer. Aber wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten.”
Am Donnerstagabend stellte sich Friedrich im “heute journal” den Fragen von Marietta Slomka:
Friedrich: Die Studie hat 760 Seiten und sagt auf 760 Seiten, dass es um sehr viele komplexe Fragestellungen geht. Und es wäre sicher falsch, eine spezielle Randerscheinung rauszugreifen.
Slomka: Aber genau das ist jetzt natürlich geschehen, weil Sie oder Ihr Sprecher oder sonst jemand in Ihrem Ministerium diese Studie vorab, bevor sie veröffentlicht wurde, an die “Bild”-Zeitung weitergegeben hat. Daraus wurde dann prompt eine “Schock-Studie”.
Friedrich: Also, diese Studie ist nicht aus meinem Haus herausgegeben worden. Sie ist heute veröffentlicht worden. Sie ist heute auch ins Internet gestellt worden. Und kann von jedem eingesehen werden.
Slomka: Nachmittags. Die “Bild”-Zeitung hatte sie schon gestern.
Friedrich: Ja, das weiß ich nicht, müssen Sie die “Bild”-Zeitung fragen, woher sie sie hat. Von mir nicht. (…)
Slomka: Aber auch Sie haben sich in den Zitaten, die Sie abgegeben haben, gegenüber der “Bild”-Zeitung, sehr stark auf diese eine Untergruppe konzentriert, die nicht integrationswillligen Muslimen. Die werden dadurch in den Fokus gerückt. Was nicht gesagt wird, und worauf nicht die Betonung liegt, ist, dass die allermeisten Muslime zum Beispiel strikt gegen islamistischen Terrorismus sind und sich alle sehr unter Generalverdacht fühlen. Wird das nicht durch eine solche Veröffentlichung in der Form eher noch wieder verstärkt?
Man könnte das als rhetorische Frage betrachen.
PS (Nachtrag, 16:40): Auch Marietta Slomka wurde wegen ihrer Kritik von “Bild” zum “Verlierer des Tages” erklärt:
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1. “Die Bild-Zeitung zerstört Europa” (handelsblatt.com, Marek Dutschke)
Marek Dutschke über “Bild” und Europa: “Hierzulande wird uns ständig gesagt, insbesondere von der Bild-Zeitung, dass die Menschen in Griechenland, Irland, Spanien, Italien und Portugal nicht genug arbeiten, zu viel Geld ausgeben und deshalb selbst an ihrer verzweifelten Lage schuld sind. Die sollen erstmal lernen, richtig zu arbeiten und ordentlich zu sparen. Diese Narrative ist unverantwortlich und schlichtweg falsch. Nebenbei bedient sie gängige Klischees über faule Südeuropäer, die nur in der Sonne liegen.”
3. “Ich fordere nichts von Männern. Was ich stattdessen tue.” (antjeschrupp.com)
Antje Schrupp meldet sich auf die Forderung einer Frauenquote in deutschen Redaktionen: “Ich fordere von Chefredakteuren, Intendanten und Verlegern rein gar nichts. Ich glaube nämlich nicht, dass sie in der Lage sind, gesellschaftliche Probleme zu lösen oder dass sie dazu beitragen können, meinen Wunsch nach einer Welt mit mehr öffentlichem Einfluss von Frauen zu verwirklichen. Ich fordere von ihnen nichts, sondern ich trage mit ihnen einen politischen Konflikt aus. In diesem Konflikt bin ich die Handelnde, nicht die Bittende.” Siehe dazu auch Torsten Haeffner auf medienwoche.ch: “Hätten Frauen das Recht, Quoten im Journalismus oder in anderen Berufen durchzusetzen, dann stünde das gleiche Recht auch beispielsweise Ausländern, Christen, Muslimen etc. zu.”
4. “Adressenhandel in Deutschland: Die Privilegierten” (gutjahr.biz)
Richard Gutjahr fragt: Warum liest man in deutschen Medien so selten Artikel zum Thema Adresshandel Deutscher Firmen? “Die Antwort ist so primitiv wie einfach: Weil die deutschen Medienhäuser selbst Teil dieses Systems sind. Das Kundenregister des größten Datenhändlers des Landes liest sich wie das Who-is-Who der deutschen Medienszene.”
5. “Christian Kracht: Imperium” (begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Gregor Keuschnig bespricht das neue Buch von Christian Kracht und fasst die Debatte darüber zusammen: “Hyperaktive Zeitgenossen, die mit moralinsaurem Betroffenheitsgeifer Literaturkritik immer mehr zur Literatenkritik verkommen lassen. Und dann diejenigen, die sich im Gegenzug mit der übertriebenen Lobhudelei dieses eher mittelmäßigen Büchleins als Salon-Avantgardisten billig profilieren können. Beide Seiten missbrauchen den Gegenstand ihrer Betrachtung für ihre schnöde Selbstdarstellung. Das Buch wird gut verkauft werden und Christian Kracht vermutlich bis auf alle Zeiten ein Attribut wie ‘umstritten’ oder ‘problematisch’ bekommen. Damit zieht dann die Karawane weiter. Bis zum nächsten Skandal. Es ist zum Kotzen.”
Bei einem sogenannten Spiegeltest wird überprüft, ob ein Lebewesen sich in seinem Spiegelbild selbst erkennt. Damit soll die Existenz eines Selbstbewusstseins nachgewiesen werden. Menschenaffen und Delfine bestehen diesen Test beispielsweise, Menschenkinder erkennen sich üblicherweise im zweiten Lebensjahr.
Es ist mindestens zweifelhaft, dass alle Mitarbeiter von “Bild” oder Bild.de den Spiegeltest bestehen würden. Nur so kann man anprangern, dass “Google Street View” wildfremde Menschen für jeden erkennbar im Internet zeigt, indem man diese wildfremden Menschen für jeden erkennbar im Internet zeigt. Nur so kann man seiner Empörung darüber, dass Menschen im Fernsehen gedemütigt werden, Ausdruck verleihen, indem man Videosdavon zeigt.
In der heutigen “Bild am Sonntag” und auf Bild.de gibt es das Foto einer “dramatischen Rettungsaktion in der chinesischen Stadt Changsha”. Es zeigt eine Frau, die “aus dem 33. Stock eines Wohnblocks springen will”, und sechs Chinesen, die “sofort zur Stelle” sind, “um die lebensmüde Dame zu retten”.
Mit Ziffern auf dem Foto erklärt “Bild am Sonntag”, wer darauf genau zu sehen ist, und welche Funktion diese Menschen ausüben.
Und so geht unsere letzte Geschichte heute gut aus: Die Frau wird gerettet.
Natürlich hat ein Roman auch immer einen Bösewicht: Diese Rolle übernimmt ein Zuschauer (5), der nicht hilft, sondern die Szene lediglich mit dem Handy fotografiert.
Welche Rolle oder Bezeichnung die Person verdient hat, die die Situation von einer anderen Position aus fotografiert und die Bilder an Nachrichtenagenturen (und letztlich auch an “Bild am Sonntag”) verkauft hat, schreibt die Zeitung leider nicht. Häufig nennt sie Leute, die ähnliches machen, aber schlicht “Leser-Reporter”.
Mit Dank an Robert W., Andreas H., Vuffi R. und Heinz B.
Gestern war der “Bild”-Redakteur Paul Ronzheimer zu Gast bei Maybritt Illner. Ronzheimer ist 26 Jahre alt und macht seit zwei Jahren im Blatt Stimmung gegen die Griechen. Das Online-Angebot der “Stern” nennt ihn einen “zuverlässigen Brandbeschleuniger im griechisch-deutschen Missverhältnis”.
Im April 2010 verteilte der Deutsche auf dem Omonia-Platz in Athen Drachmen an die Griechen: “BILD gibt den Pleite-Griechen die Drachmen zurück.” In der Talkrunde wurde er als Kenner der griechischen Gefühlslage behandelt.
Zu Beginn fragte Maybrit Illner ihn:
Hat Ihre Zeitung, hat die “Bild”-Zeitung, die Stimmung, die es zwischen beiden Ländern momentan gibt, nämlich zwischen Deutschland und Griecheland, zusätzlich vergift, weil neben solchen Gigs [wie der Drachmen-Verteilaktion] tatsächlich auch ziemlich viele Überschriften zu lesen waren, die da hießen: “Pleite-Griechen”, “Bettler-Griechen”… Haben Sie im wahrsten Sinne des Wortes da ganze Arbeit geleistet?
Ronzheimers Antwort:
Nein, also, ich glaube nicht, dass die Berichterstattung einer Zeitung und auch nicht der “Bild”-Zeitung die Stimmung zwischen Ländern vergiften kann.
PS: Am Ende der Sendung stand ein Mann aus dem Publikum auf und steckte Ronzheimer ein Geldbündel zu. “Damit er mal bessere Reportagen schreibt.”
Nachtrag/Korrektur, 8. März. Es handelte sich nicht um ein Geldbündel, sondern einen Zehn-Euro-Schein.
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2. “Man kann jedem nachweisen, er sei Nazisympathisant” (zeit.de, Harald Martenstein)
Mit einem gewissen Maß an argumentativer Entschlossenheit könne man jeder in Deutschland lebenden Person nachweisen, er oder sie sei ein Nazi-Sympathisant, glaubt Harald Martenstein. Er versucht sich an Richard von Weizsäcker, Alice Schwarzer und Roberto Blanco.
3. “Innenminister Friedrich gibt den Scharfmacher” (sueddeutsche.de, Roland Preuß)
Die 762-seitige Studie “Lebenswelten junger Muslime in Deutschland” (PDF-Datei) wird noch vor Erscheinen “Bild” zugänglich gemacht. “Wer eine solch brisante Studie exklusiv an die Bild-Zeitung weiterreicht, damit die ihre tägliche Krawallzeile hat (wie dies offenbar geschehen ist), der setzt nicht auf eine nüchterne Debatte über bessere Integration und Sicherheit.” Siehe dazu auch “Stunde der Angstmacher” (spiegel.de, Anna Reimann und Oliver Trenkamp).
4. “Utopischer Charme” (freitag.de, Wolfgang Michal)
Wolfgang Michal porträtiert Jens Berger von spiegelfechter.com: “Noch heute ist mir schleierhaft, wie er dieses Arbeitspensum schafft. Berger ersetzt spielend das Politik- und das Wirtschaftsressort einer mittleren Wochenzeitung, und das, obwohl er nur ‘zehn oder zwölf Stunden täglich’ an seinem Rechner sitzt.”
5. “Eine Woche ohne Netz – so lebt es sich in der Offline-Welt” (derwesten.de, Dennis Betzholz)
“Ich bin abgeschottet von der Flut an Informationen, suche im zerfledderten Straßenatlas die Wegbeschreibung zum Termin, schreibe erstmals einen Artikel auf der Schreibmaschine und nerve mit dem lauten Klacken der Tasten das gesamte Großraumbüro. Der Computer, ja das Internet, fehlt mir sehr.”
6. “Im Newsroom: Horror und Terror!*” (workzeitung.ch, Niklaus Ramseyer)
Die Gewerkschaftszeitung “Work” berichtet aus dem Newsroom der “Blick”-Gruppe. “‘Ich höre!’ So schnauzte der Chef seinen Untergebenen grusslos an, ohne ihn auch nur anzusehen. Der Mann, der nur etwas fragen wollte, kam sich vor wie auf einem preussischen Kasernenhof. Kolleginnen des derart Abgeputzten klagen ihrerseits, rüder ‘Kasernenhofton’ verbreite miese Stimmung. Aber der kaltschnäuzige Chef ist kein deutscher General, sondern ein deutscher Chefredaktor in Zürich.”
Die Plattenfirma von Matthias Reim hat gestern Mittag Spekulationen über eine Herz-OP des Schlagersängers zurückgewiesen (BILDblog berichtete).
In die Welt gesetzt hatte diese Spekulationen die “Bild”-Zeitung — und auch, wenn man auf der Journalistenschule lernt, dass eine Quelle keine Quelle sei, hatten sich andere Medien zu diesem Zeitpunkt schon an die Weiterverbreitung der “Bild”-Version der Ereignisse gemacht.
“Focus Online” verkündete unter Berufung auf “Bild”:
Der Artikel wurde inzwischen unauffällig und halbherzig überarbeitet, so dass er nun folgenden Widerspruch enthält:
Auch dass der Sänger bis Ende März pausieren müsse, sei nicht korrekt. “Die damals aus Gesundheitsgründen verschobenen Konzerte sind schon lange nachgeholt, und inzwischen gab Matthias Reim noch drei weitere Konzerte. Von einer Pause bis Ende März war also nie die Rede”, so das Reim-Management. (…)
Die Konzerte wolle er aber nachholen, hatte Reim der “Bild-Zeitung” erklärt.
Unter dem Foto steht weiterhin:
Zurzeit erholt sich der Sänger von einer schweren Herzoperation.
Die Website der “Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung” hatte berichtet:
Schlagerstar Matthias Reim ist nach einem Zeitungsbericht am Herzen operiert worden. “Ich rauche jetzt weniger und versuche, alles ein bisschen ruhiger anzugehen”, sagte Reim der “Bild”-Zeitung.
Der Artikel ist inzwischen offline, hna.de hat einen Artikel zum Dementi veröffentlicht, in dem sogar Georg Friedrich Reim (“der Vater von Matthias Reim und ehemaliger Schulleiter am Homberger Gymnasium”) zu Wort kommt.
Unbeeindruckt von den Aussagen von Reims Umfeld behauptet das ARD-Boulevardmagazin “Brisant” auch weiterhin auf seiner Website:
(Das Fragezeichen in der Überschrift dient nur als dekoratives Element: Der Text lässt wenig Zweifel zu, dass Reim “sechs Stunden” in einer “Hamburger Spezialklinik am Herzen operiert” wurde.)
Die Deutsche Presseagentur (dpa) brachte in ihrer Meldung zwar das Dementi, entschied sich aber für einen kreativen Einstieg:
Schlagersänger Matthias Reim (54, “Verdammt, ich lieb dich”) macht wieder Schlagzeilen mit seiner Gesundheit. Nach seinem Zusammenbruch rund um Weihnachten musste er wegen Herzproblemen in einer Klinik behandelt werden. Allerdings sei er nicht am Herzen operiert worden, teilte seine Plattenfirma EMI Music am Mittwoch mit und dementierte damit einen entsprechenden Bericht der “Bild”-Zeitung. Dem Sänger gehe es gut, er müsse auch anders als berichtet nicht bis Ende März pausieren – tatsächlich stehen Mitte März zwei Konzerte im Tourplan, die nicht abgesagt sind.
Der Auslöser dieser “Schlagzeilen”, die Matthias Reim “wieder mit seiner Gesundheit macht”, nämlich die “Bild”-Zeitung, hat die Behauptungen weder in der heutigen Ausgabe noch auf Bild.de korrigiert.
Am Montag hatte sich “Bild” darüber empört, dass ein Mann, der gestanden hat, seine zwei Monate alte Tochter “totgeprügelt” zu haben, “trotzdem” nicht in Untersuchungshaft genommen wurde (BILDblog berichtete).
Wieder hat ein deutsches Gericht eine Entscheidung getroffen, die uns fassungslos macht:
Sie versuchte es mit der ihr eigenen Form von Einfühlungsvermögen:
Was geht in einem Richter vor, der so einen Beschluss fasst? Oder ihn vielleicht fassen muss, weil unsere Gesetze dies so vorsehen?
Ja, unsere Gesetze sehen vor, dass niemand ohne Verurteilung in einem Gerichtsprozess weggesperrt werden darf — außer, es sprechen gute Gründe wie Flucht- oder Wiederholungsgefahr dafür. Unvorstellbar für eine Law-and-Order-Aktivistin wie Stephanie Jungholt:
Egal, ob Fluchtgefahr besteht oder nicht, egal, ob einer eine schwere Kindheit hatte – es muss endlich Schluss sein mit dieser unerträglichen Kuschel-Justiz!
Wer einen Menschen grausam tötet, gehört weggesperrt! Punkt, aus.
Nur dann können wir Vertrauen in unsere Justiz haben.
Schon Dienstag Mittag konnten sie bei Bild.de dann das vermelden, was sie offensichtlich für einen Erfolg ihrerseits hielten:
Und die gedruckte “Bild” feierte geistern:
Die Zeitung schrieb:
Im Polizeiverhör gestand er die Tat, trotzdem schickte der Haftrichter ihn in die Freiheit. Begründung: Es bestehe keine Fluchtgefahr. Diese Entscheidung sorgte deutschlandweit für Entsetzen. BILD forderte: Sperrt ihn wieder ein!
Für juristisch unkundige Leser musste das klingen, als hätte die Sache für den Mann mit seiner Freilassung ausgestanden sein können. In Wahrheit erwarten ihn in einem Gerichtsprozess wegen Körperverletzung mit Todesfolge mindestens drei Jahre Haft.
Die Pressestelle des zuständigen Amtsgerichts Magdeburg erklärt uns die Entscheidung, den Mann jetzt doch in Untersuchungshaft zu nehmen, auf Anfrage so:
Im vorliegenden Fall hatte auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ein anderer Richter über die Frage der Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu entscheiden. Dieser hat wiederum in richterlicher Unabhängigkeit eine Prognoseentscheidung über die Frage der Fluchtgefahr des Beschuldigten getroffen und den Sachverhalt anders bewertet.
Für beide Einschätzungen sprachen gute Argumente. Die Möglichkeit divergierender Entscheidungen macht gerade die Unabhängigkeit der Richter bei der Beurteilung von Lebenssachverhalten deutlich.
Unsere Frage, ob die Berichterstattung bzw. die “bundesweite Empörung” bei der neuerlichen Entscheidung eine Rolle gespielt hätten, wie “Bild” suggeriert, beantwortet das Gericht so:
Ich hoffe, dass Ihre Frage, ob die gerichtliche Entscheidung etwas mit der Berichterstattung der Medien oder gar der Bild Zeitung oder der Empörung der Öffentlichkeit zu tun hat, nicht wirklich ernst gemeint ist.
Richter entscheiden in Deutschland unter dem Schutz der Verfassung unabhängig und sind nur dem Gesetz unterworfen. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist die Grundlage unseres Rechtsstaates.
Aus diesem Grunde kann es immer Gerichtsentscheidungen geben, die in der Öffentlichkeit unpopulär sein mögen und es kann auch immer divergierende Entscheidungen geben.