Archiv für November 4th, 2022

“Bild” packt auch die Bundespolizei-Zahlen auf den Tisch, die laut Bundespolizei gar nicht von der Bundespolizei stammen

“Alle Zahlen auf den Tisch!”, forderte gestern “Bild”-Autor Frank Schneider in seinem Kommentar. Es geht ihm um die Zahlen der illegalen Einreisen nach Deutschland, und Schneider meint, dass das Bundesinnenministerium und Ministerin Nancy Faeser versuchen, “Zahlen zu schönen, zu verschleiern. Oder kleinzurechnen.”

Ja, “alle Zahlen auf den Tisch” ist tatsächlich eine gute Idee im Sinne der Transparenz und Aufklärung, wenn man vorher nicht Statistiken durcheinander mischt, die nicht vergleichbar sind, unergründliche Zahlen dazwischenwirft und das fehlerhafte Ergebnis dann der eigenen Leserschaft als potenziellen Skandal verkauft:

Ausriss Bild-Titelseite - Rund 40000 illegale Einreisende weggeschummelt? Frau Faeser, erklären Sie uns das bitte mal!
Ausriss Bild-Zeitung - Statistik der Ministerin weist zehntausende Migranten zu wenig aus - Schummelt Faeser sich die Flüchtlings-Zahlen schön?

Das ist die “Bild”-Berichterstattung, die gestern neben Schneiders Kommentar erschienen ist. Zusammen mit Zara Riffler und Peter Tiede schreibt Schneider:

Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, rast seit Monaten rauf! […]

Doch die zuständige Innenministerin ignoriert die hohen Zahlen der Bundespolizei offenbar. BILD erfuhr: Nancy Faeser (52, SPD) weist intern viel weniger aufgegriffene illegal-eingereiste Migranten aus.

► Laut “Migrationsanalyse-Bericht” ihres Ressorts wurden im September 12 701 illegal Eingereiste von Bundespolizisten aufgegriffen. Die Bundespolizei hat dagegen andere Zahlen: 20 000. […]

Fest steht: Seit Januar sind laut Faeser-Statistik insgesamt rund 57 000 Migranten eingereist. Laut Bundespolizei gut 100 000. Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Es handelt sich also um drei verschiedene Statistiken, die “Bild” nennt: Da wäre einmal eine aus Nancy Faesers Innenministerium, eine, die von der Bundespolizei stammen soll, und eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). “Bild” verrührt alle zu einem schnaubenden Aufreger.

Am ehesten passen noch die Statistiken zusammen, die “Bild” dem Innenministerium und der Bundespolizei zuschreibt. In beiden soll es um von der Bundespolizei aufgegriffene illegal Eingereiste gehen. Schneider, Riffler und Tiede nehmen sich schlicht die eine und die andere Zahl und rechnen sie gegeneinander auf: Statistik der Bundespolizei (“gut 100 000”) minus Statistik des Innenministeriums (“57 000”) gleich “Bild”-Schlagzeile (“Rund 40 000 illegale Einreisende weggeschummelt?”).

Das Problem dabei: Die Zahlen, die “Bild” der Bundespolizei zuschreibt, sollen nicht von der Bundespolizei stammen. Eine Sprecherin des Innenministeriums, dem die Bundespolizei untergeordnet ist, teilte uns gestern auf Nachfrage mit:

Die heute von der BILD-Zeitung genannten Zahlen, welche dort der Bundespolizei zugeordnet werden, stammen nicht von der Bundespolizei und sind nicht nachvollziehbar. Wir können diese Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen.

57.647 sei die korrekte von der Bundespolizei festgestellte Gesamtzahl unerlaubter Einreisen von Januar bis einschließlich September 2022, so die Sprecherin.

Die Bundespolizei sah sich gestern genötigt, eine Pressemitteilung mit der Überschrift “Unerlaubte Einreisen – Bundespolizei ordnet öffentlich kursierende Zahlenangaben ein” zu veröffentlichten. Auch sie nennt 57.647 illegale Einreisen von Januar bis September 2022 (beziehungsweise 71.011, wenn man die gerade veröffentlichte, aber noch nicht qualitätsgesicherte Zahl aus dem Oktober dieses Jahres hinzunimmt). Bundespolizeipräsident Dieter Romann sagt in der Mitteilung mit Blick auf die Arbeit der Beamtinnen und Beamten:

Nicht dienlich ist dabei, die Lauterkeit und Transparenz ihrer Arbeit in Zweifel zu ziehen. Auch die Zahlentransparenz bleibt selbstverständlich unverändert bestehen.

Nur, um das noch einmal zu verdeutlichen: “Die hohen Zahlen der Bundespolizei”, die Innenministerin Nancy Faeser laut “Bild”-Artikel “offenbar” ignoriere und die sie laut “Bild”-Kommentator Frank Schneider schöne, verschleiere oder kleinrechne, stammen laut Bundespolizei gar nicht von der Bundpolizei.

Aber woher dann? Woher haben Schneider, Riffler und Tiede die Zahlen? Unsere Anfrage dazu beim “Bild”-Sprecher blieb bislang unbeantwortet.*

Was im Zusammenhang mit den Zahlen zu illegal Eingereisten übrigens nicht unwesentlich ist: 1. Menschen können illegal nach Deutschland einreisen, von der Polizei aufgegriffen werden und damit in die Statistik eingehen, ohne die Absicht zu haben, einen Asylantrag zu stellen. 2. Kann es zu einer Mehrfachersfassung derselben illegal eingereisten Person kommen, weil die entsprechende Polizei-Statistik keine personenbezogenen Daten umfasst. Aber das nur nebenbei.

Es gibt dann ja noch eine weitere Statistik, die der “Bild”-Artikel ins Verwirrspiel bringt:

Beim zuständigen Flüchtlingsamt BAMF stellten bis Ende September offiziell sogar 154 557 Personen einen Asylantrag.

Diese Zahl ist im Zusammenhang mit der illegalen Einreise nach Deutschland ziemlich ungeeignet. Zuallererst ist sie zu hoch, wenn es um Personen gehen soll, die dieses Jahr nach Deutschland gekommen sind: Bei den 154.557 Anträgen 2022 handelt es sich nämlich um Erst- und Folgeanträge. Nimmt man nur die Erstanträge in diesem Jahr (bis einschließlich September), sind es laut BAMF 134.908 (PDF). Was “Bild” darüber hinaus nicht erläutert: Auch Menschen, die legal nach Deutschland eingereist sind, können einen Asylantrag stellen und damit in der Statistik landen. Und: Bekommt eine Asylbewerberin in Deutschland ein Kind, landet auch dieses mit einem Asylantrag in der Statistik – ganz ohne legale oder illegale Einreise. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt dazu:

Reist ein minderjähriges lediges Kind nachträglich ins Bundesgebiet ein oder wird es nach der Asylantragstellung der Eltern hier geboren, haben die Eltern, von denen noch mindestens ein Elternteil im Asylverfahren ist, oder die Ausländerbehörde das Bundesamt von der Geburt zu informieren. Damit gilt der Asylantrag des Kindes ebenfalls als gestellt. […]

Ist der Antrag der Eltern bereits entschieden, wenn ihr Kind geboren wird oder nachträglich einreist, müssen sie für das Kind einen gesonderten Asylantrag stellen.

Das Durcheinanderwerfen von Statistiken, das Hinzuziehen von Zahlen, bei denen niemand weiß, woher sie stammen, das falsche Skandalisieren zeigt Wirkung. Gestern Nachmittag schrieb die AfD bei Twitter:

#Faeser rechnet sich die alarmierenden Zahlen der nach #Deutschland strömenden #Zuwanderer schön. So gibt ihr Ministerium viel geringere Zahlen an, als tatsächlich gezählt werden.

Die “Bild”-Redaktion hat mit ihrem Artikel offenbar die Zielgruppe erreicht.

*Nachtrag, 18:40 Uhr: Der “Bild”-Sprecher hat inzwischen auf unsere Anfrage, woher die Zahlen stammen, geantwortet:

Es handelt sich bei den von BILD genannten Vergleichszahlen um Daten der Bundespolizei. Diese hat BILD unter Beachtung des Quellenschutzes öffentlich gemacht. Diese beinhalten nicht nur die offiziell genannten Zahlen der Bundespolizeiinspektionen direkt an der Grenze, sondern auch die illegalen Migranten, die später in den Zügen und/oder im Inland aufgegriffen werden. Die offizielle Meldung der Bundespolizei wie auch die offiziellen Zahlen des BAMF bestätigen diese kleingerechnete Diskrepanz nur.

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Schwarzer Twitter-Freitag, Feel-Good-Movie?, “Spiegel”-Kampagne

1. Twitter beginnt heute mit Massenentlassungen
(br.de, Marcus Schuler)
Für viele der rund 7.500 Twitter-Beschäftigten dürfte der heutige Freitag ein rabenschwarzer Tag werden. Denn heute sollen sie erfahren, ob sie ihren Job verlieren oder behalten. Die Maßnahme sei notwendig, “um den Erfolg des Unternehmens auch in Zukunft sicherzustellen”, so ein firmeninternes Memo. Das Firmengebäude von Twitter am Hauptsitz in San Francisco sei heute geschlossen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien aufgefordert worden, nicht ins Büro zu kommen, die Firmenausweise hätten ihre Gültigkeit verloren.

2. “Falter” legte Hellers Anwälten die Recherchen vorab vor
(derstandard.at)
Diese Woche berichtete der österreichische “Falter” über einen Kunstskandal der besonderen Art: Eine Wiener Galerie habe einen drei Millionen Dollar teuren Rahmen des berühmten Künstlers Jean-Michel Basquiat angeboten. Bei dem Verkäufer habe es sich um den bekannten Allround-Künstler André Heller gehandelt. Doch eben jener Heller soll das angebliche Basquiat-Werk selbst zusammengebastelt haben. Nun schließt sich eine Diskussion an, ob die “Falter”-Redaktion den Anwälten Hellers im Vorfeld der Artikel-Veröffentlichung zu weit entgegengekommen ist.

3. “Bei der sechsten Mail-Anfrage kommt die Depression”
(journalist.de, Annkathrin Weis)
Larena Klöckner wusste bereits vor ihrem Einstieg in die Ausbildung zur Journalistin, dass sie Depressionen hat, und hat sich trotzdem für den Beruf entschieden. Im Interview mit dem “journalist” erzählt sie von den Auswirkungen auf ihren Arbeitsalltag und der Resonanz auf ihren Beitrag bei “Übermedien”, in dem sie erstmals von ihren Depressionen berichtet hatte.
Hinweis: Solltest Du Depressionen oder Suizid-Gedanken haben, dann gibt es Menschen, die Dir helfen können, aus dieser Krise herauszufinden. Eine erste schnelle und unkomplizierte Hilfe bekommst Du etwa bei der “TelefonSeelsorge”, die Du kostenlos per Mail, Chat oder Telefon (0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222) erreichen kannst.

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4. Himmler will 100 Millionen Euro im Programm umschichten
(dwdl.de, Alexander Krei)
ZDF-Intendant Norbert Himmler hat auf die jüngsten Äußerungen von ARD-Chef Tom Buhrow reagiert. Dieser hatte kürzlich eine Reform der Öffentlich-Rechtlichen gefordert und die Existenz der zwei Sender infrage gestellt. Beim Pressegespräch in Berlin habe es vom ZDF-Intendanten nun Contra für den ARD-Chef gegeben.

5. Ein Feel-Good-Movie für serbische Nationalisten
(hessenschau.de, Danijel Majić)
Dem serbischen Regisseur Boris Malagurski wird vorgeworfen, in seinem bisherigen Werk nationalistische Propaganda verbreitet und den Völkermord in Srebrenica verharmlost zu haben. Daher regte sich gegen seinen neuesten Film (“Republika Srpska – Kampf für die Freiheit”) Widerstand. Europweit hätten Kinos den Film aus dem Programm genommen. In Frankfurt sei er dennoch zu sehen gewesen. Danijel Majić schildert die Hintergründe und ordnet den Fall sowie Malagurskis neuen Film ein.

6. Sagen, was nicht ist
(uebermedien.de, Olivia Samnick)
Der “Spiegel” hat eine neue Werbeaktion gestartet, in der Falschausssagen plakativ hervorgehoben werden. Olivia Samnick hält diese offensichtlich provokativ gemeinte Plakatkampagne für bedenklich: “Falschaussagen wirken – auch dann, wenn man ihnen widerspricht. Sie setzen sich in unseren Köpfen fest. Fake News haben eine brachiale Kraft und sind, wenn sie einmal im Umlauf sind, kaum zu stoppen. Wie schwer sich eine Richtigstellung nach einer Falschinformation tut, sollte den meisten Medien mittlerweile bekannt sein – gerade im Social Web, wo die ‘Spiegel’-Kampagne auch ihre Kreise ziehen wird.”