Gestern hat der Bundestag die sogenannte bundesweite Corona-Notbremse beschlossen. Oder wie die “Bild”-Redaktion heute auf Seite 1 titelt:
Stimmt auch noch der Bundesrat zu, sollen vorerst verschiedene neue Regelungen gelten: Liegt in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Sieben-Tage-Inzidenz über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, gilt beispielsweise eine nächtliche Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr (alleine joggen oder spazierengehen ist bis 24 Uhr erlaubt). Ab einer Inzidenz von 150 müssen Läden schließen und dürfen nur noch das Abholen vorbestellter Waren anbieten (ausgeschlossen sind Geschäfte des täglichen Bedarfs, etwa Supermärkte). Steigt der Inzidenzwert über 165, müssen Schulen dichtmachen und vom Präsenz- in den Distanzunterricht wechseln.
Laut Julian Reichelt ist das alles ein Geschenk …
In seinem Kommentar schreibt der “Bild”-Chef:
An diesen Tag werden wir uns leider noch lange erinnern. Der 21. April wird in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem die demokratisch gewählte Regierung eines freiheitsliebenden Landes beschlossen hat, dass sie die Bürger einsperren kann. (…)
Während in England Menschen vor den Pubs Schlange stehen, sperrt unsere Regierung einen Landkreis mit 50000 Menschen ein, wenn in einer Woche 50 von ihnen positiv auf Corona getestet werden. Das ist nichts anderes als eine Strafmaßnahme gegen die Bevölkerung für eine an vielen Punkten gescheiterte Regierungspolitik.
Dass Reichelt sich die Menschenschlangen vor englischen Pubs als Gegenbeispiel rauspickt, ist etwas grotesk. Es zeigt, dass er entweder keine Ahnung hat, was zuvor in England los war; oder dass er Ahnung davon hat, sich aber absichtlich dumm stellt. In England galt wochenlang ein strikter Lockdown. Nun sind die Corona-Maßnahmen in verschiedenen Ländern nicht bis ins letzte Detail zu vergleichen, weil verschiedene Regierungen verschiedene Schwerpunkte setzen. Aber in wichtigen, grundlegenden Punkten war der Lockdown in England deutlich härter als die gestern im Bundestag beschlossene Notbremse: In England wurde nicht unterschieden zwischen verschiedenen Regionen oder Landkreisen – der Lockdown galt landesweit. Eine Ausgangssperre galt nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Geschäfte, die nicht für den täglichen Bedarf nötig sind, mussten dichtmachen – unabhängig vom regionalen Inzidenzwert. Die Schulen wurden geschlossen – ebenfalls unabhängig von der lokal vorherrschenden Inzidenz. Die “FAZ” zitierte Premierminister Boris Johnson, der bei der Verkündung der Maßnahmen Anfang Januar sagte:
“Sie dürfen Ihr Haus nur aus begrenzten, gesetzlich festgeschriebenen Gründen verlassen, etwa um das Notwendigste einzukaufen, um zur Arbeit zu gehen, wenn Sie auf keinen Fall von zuhause aus arbeiten können, um sich körperlich zu betätigen, um zum Arzt zu gehen oder um sich einer gewaltvollen Situation zuhause zu entziehen.” Die Maßnahmen sollen überwacht und Verletzungen mit Bußgeldern geahndet werden.
Nachdem der Inzidenzwert in England – wohl auch dank der strikten Lockdown-Maßnahmen neben der gut laufenden Impf-Kampagne – deutlich gesunken ist, werden diese Regeln nun Stück für Stück gelockert. Unter anderem dürfen Pubs wieder ausschenken. Wenn Julian Reichelt also England als Gegenbeispiel nennt und die Möglichkeit, vor Pubs/Eckkneipen ein Bier zu trinken, offenbar als Ziel sieht – plädiert er dann nicht eigentlich für härtere Maßnahmen nach englischem Vorbild?
Auf jeden Fall liegt er mit seiner Überschrift “Ein Geschenk für Extremisten” nicht falsch – bezogen auf seinen eigenen Kommentar. Der wird in den Sozialen Netzwerken reichlich rumgereicht. Die Accounts und Gruppen, die ihn teilen, heißen unter anderem: “AfD-FanCLUB”, “AfD bürgernah, aktuell zum Mitreden”, “AfD 51% – das ist unser Ziel !!!”, “Freunde der AfD!”, “AfD – Kreisverband Reutlingen”, “Unterstützer der AfD!”, “AfD jetzt erst recht !”.