Archiv für Juli 11th, 2016

Der Tod eines Toreros in Zeitlupe

Am vergangenen Samstag starb bei einem Stierkampf in Spanien ein Torero. In der Arena von Teruel stach ein Stier dem 29-jährigen Matador Victor Barrio mit einem Horn in die Brust. Manche Portale berichten, dass dabei Barrios Herz verletzt worden sei, andere schreiben, Lunge und Halsschlagader seien getroffen worden. Jedenfalls starb Victor Barrio an den Folgen seiner Verletzung noch vor Ort — alles gut dokumentiert, da der Stierkampf live von einem spanischen TV-Sender übertragen wurde.

Der letzte Todesfall eines Stierkämpfers in einer Arena liegt bereits 31 Jahre zurück. Und so erhoben manche Nachrichtenseiten den Unfall vom Samstag direkt zum Jahrhundertereignis:


(“Kölnische Rundschau”)


(n-tv.de)


(“Mitteldeutsche Zeitung”)

(Schade, liebe Jahrhundertjournalisten, leider habt ihr die große Chance vertan, aus Victor Barrios Tod gleich ein Jahrtausendereignis zu machen.)

Als wäre das — in Kombination mit mehr oder weniger detaillierten Beschreibungen des Vorfalls und Fotos vom verletzten, leblosen Victor Barrio — nicht schon Sensation genug, wollten manche Redaktionen ihrer Leserschaft nicht die Möglichkeit nehmen, einem Menschen beim Sterben zugucken zu können.

“N24” zeigt beispielsweise in einem Video in Zeitlupe, wie der Stier Barrio aufspießt. Genauso die “BZ”. Die “Huffington Post” bindet Aufnahmen von Victor Barrios Tod gleich in zwei Artikeln ein und will nicht darauf verzichten, in einem der Texte noch einmal extra auf das Material hinzuweisen, damit auch ja niemand etwas verpasst:

Eine Sequenz des Videos zeigt Barrio in Großaufnahme, bereits am Boden liegend, noch leicht zuckend. Es ist extrem würdelos. Diese Szene haben die russischen Propagandisten von “Sputnik” ebenfalls veröffentlicht. (Auf Links zu und Screenshots von den Videos haben wir bewusst verzichtet.)

Und auch Bild.de zeigt Victor Barrio beim Sterben. Auf der Startseite hat das Portal mit diesem Teaser für den Artikel geworben:

(Unkenntlichmachung durch uns.)

Dank der Taktlosigkeit einiger deutscher Redaktionen, können das nun auch alle anderen von zu Hause aus am Computer.

Mit Dank an Daniel W.!

Kummerreportagen, Mördergage, Talkshowzirkus

1. Tom Kummers unlautere Textcollagen
(nzz.ch, Boas Ruh)
Der Schweizer Journalist Tom Kummer wurde lange Zeit für seine exklusiven Interviews mit illustren Promis gefeiert. Umso größer war das Entsetzen, als sich im Jahr 2000 herausstellte, dass Kummer viele seiner Interviews frei zusammenfantasiert oder aus vorhandenem Material zusammengebaut hatte. Das mediale Beben war erheblich: Die verantwortlichen Chefredakteure des SZ-Magazins wurden gefeuert. Kummer selbst verklärte seinen Betrug gerne zur Kunstform. 2005 verpatzte Kummer seine zweite Chance mit einer weiteren Täuschung, wie der “Spiegel” schrieb. Nun fand Kummer für seine Texte erneut Abnehmer. Medien wie “reportagen” oder die “Weltwoche” haben anscheinend ungeprüft Reportagen des notorischen Wiederholungstäters veröffentlicht. Die “NZZ” hat die Kummer-Reportagen untersucht und festgestellt, dass sie zwar nicht komplett zusammenfantasiert, aber eine Melange aus abgekupferten Texten anderer Autoren sind.

2. Das Gegenteil von Lügenpresse
(derstandard.at, Noura Maan, Fabian Schmid)
Die rechte Pegida-Bewegung bedient sich besonders gerne der sozialen Netzwerke, um ihre Inhalte zu vermitteln und neue Anhänger zu requirieren. Noura Maan und Fabian Schmid haben das Social-Media-Verhalten der Bewegung untersucht und sich unter anderem angeschaut, welche Links von Pegida auf Facebook geteilt werden. Eine spannende Analyse, die möglich wurde durch eine Kooperation mit Wissenschaftlern des Alexander-von-Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft in Berlin im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojekts zu “Wissenschaft und Datenjournalismus”.

3. Krankenpfleger Niels H.: TV-Produktionsfirma zahlte Serienmörder 5000 Euro Honorar
(spiegel.de)
Der Krankenpfleger Niels H. hat Patienten mit Medikamenten in einen lebensbedrohlichen Zustand gebracht, um sie danach zu reanimieren und sich selbst als Retter zu gerieren. Für ein im WDR ausgestrahltes Interview soll der mittlerweile wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilte Mann einen Betrag von 5.000 Euro erhalten haben. Der WDR hat nach Bekanntwerden der Vorwürfe die Sendung für die weitere Ausstrahlung gesperrt.

4. “Nicht in Ordnung, nur weil man es immer macht”
(lto.de, Constantin Baron van Lijnden)
Die “Sächsische Zeitung” hat angekündigt, in Zukunft stets die Nationalität von Straftätern nennen zu wollen – auch, wenn es Deutsche sind. Dies kollidiert jedoch wahrscheinlich mit Richtlinie 12.1 des Pressekodex. Danach ist eine derartige Nennung nur zulässig, wenn ein begründbarer Sachbezug zu der Meldung besteht. Die “Legal Tribune Online” hat den Presserats-Geschäftsführer im Interview gefragt, ob der Presserat bald reihenweise Artikel der Sächsischen Zeitung beanstanden wird.

5. nr-Jahreskonferenz 2016
(netzwerkrecherche.org)
Der Verein “Netzwerk Recherche” ist ein Journalistenzusammenschluss, der nach eigenen Angaben für die Interessen jener Kollegen eintritt, die oft gegen Widerstände in Verlagen und Sendern intensive Recherche durchsetzen wollen. Am Wochenende hat man sich zur Tagung getroffen. Ein Team angehender Journalisten hat das Geschehen in einem ausführlichen Live-Blogbeitrag dokumentiert und zahlreiche Abstracts, Videobeiträge und Tweets der Veranstaltung zusammengestellt.

6. Lasst sie reden
(taz.de,Philipp Daum)
Steffen Bothe hat ein etwas anderes Hobby. In den letzten 20 Jahren hat er nach eigener Schätzung etwa 800 Talkshows besucht. “taz”-Autor Philipp Daum hat sich mit dem TV-Dauergast zum Fernseh-Marathon getroffen: Vier Talkshows in drei Tagen, zusammen wurden es 13,5 Stunden in Fernsehstudios.