Archiv für Januar 15th, 2014

Mensch ärgere dich

Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, hat neulich auf seiner Facebook-Seite zum Neujahrsempfang der Stadt eingeladen. Normalerweise muss man sich bei der Stadt dafür anmelden. Aber Palmer akzeptierte als Anmeldung auch ein schlichtes “ich komme” auf seiner Facebookseite.

Das klingt spontan nicht nach dem Material, aus dem großen Aufreger sind, nicht einmal in der schwäbischen Provinz. Mit ein bisschen Mühe kann man aber einen draus machen, oder besser: ohne jede Mühe.

So sah das Ergebnis in der “Bild” vom vergangenen Montag aus:

PALMER: Ärger wegen seiner Facebook-Einladung

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer (41) hat mal wieder Ärger wegen seiner Internetaktivitäten. Im November stellte er Falschparker an den Facebook-Pranger, jetzt lädt er auf seiner privaten Seite zu städtischen Veranstaltungen ein. (…)

Verboten, sagt ein Medienrechtler. Auf seiner privaten Facebook-Seite dürfe er das nicht. Deshalb hat jetzt sogar die Kommunalaufsicht eine Stellungnahme von der Stadtverwaltung verlangt.

Den Namen des Medienrechtlers nennt “Bild” nicht. Genauso wenig wie die Quelle, aus der sie nicht nur dessen Urteil, sondern auch alle weiteren Informationen in ihrem Text abgeschrieben hat, bis hin zur Schlusspointe, dass Palmer die Karten angeblich nur über eine offizielle, städtische Facebook-Seite anbieten dürfe, dafür aber das Geld fehle. Das alles stand zwei Tage vorher im “Schwäbischen Tagblatt”.

Was dort nicht stand und mangels eigener Recherche auch zwei Tage später in der “Bild”-Zeitung fehlte: Das Regierungspräsidium hat zwar nach dem Anruf der “Tagblatt”-Journalistin den Fall prüfen lassen. Es ist aber längst zu einem Ergebnis gekommen. Bereits am Freitag vergangener Woche entschied es, dass kein Rechtsvorstoß vorliegt. Der Pressesprecher der Behörde teilte uns auf Anfrage mit: Die Stadt Tübingen habe versichert, dass die Leute, die sich über die Facebook-Seite Palmers anmelden, nicht bevorzugt werden, sondern ihre Anmeldungen nur im offiziellen Verfahren der Stadt mit berücksichtigt werden.

Palmers “Ärger” bestand also im Wesentlichen aus, dass die “Bild”-Zeitung ihm recherchefrei unterstellte, “Ärger” zu haben.

Mit Dank an Sandra M.!

Call-a-Journalist, Kinderreporter, Tiere

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Sozialbetrüger’ oder ‘Neue Nachbarn’?”
(blog.geh-deinen-weg.org, Clara Herdeanu)
Die Linguistin Clara Herdeanu fällt bei der Lektüre von Bild.de “die vielen negativ konnotierten – d.h. wertenden – Wörter auf, die für den Sachverhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Akteursgruppe der Rumänen und Bulgaren verwendet werden”: “Es wird somit durch sprachliche Mittel versucht, negative Deutungen über die neuen Zuwanderer im Diskurs dominant zu setzen. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt dazu, diese negativen Deutungen auf die aus Rumänien und Bulgarien stammenden Menschen zu übertragen und sie somit an sich als negativ zu beurteilen.”

2. “Logo-Kinderreporter fragen die Chefs von Bild, Zeit und FAZ”
(youtube.com, Video, 6:19 Minuten)
Kai Diekmann (Bild), Giovanni di Lorenzo (Zeit) und Frank Schirrmacher (FAZ) geben Kinderreportern Auskunft.

3. “In eigener Sache: Call-a-Journalist: Ihr ruft, wir berichten!”
(hh-mittendrin.de, Dominik Brueck)
Die App “Call-a-Journalist” ruft den Reporter an den Ort des Geschehens. Siehe dazu auch dieses Interview mit Dominik Brueck (lokalblogger.de, Video, 24 Minuten).

4. “Wie schlimm ist Wissenschafts-PR im Journalismus-Pelz?”
(wissenskueche.de, Brynja Adam-Radmanic)
Brynja Adam-Radmanic stellt Wissenschafts-PR und Journalismus einander gegenüber und zieht folgendes Fazit: “Im Kerngebiet des Erklärens von wissenschaftlichen Inhalten und Methoden liefern Pressemitteilungen oft hochwertige Information. In allen Gebieten, die darüber hinaus gehen, kann und darf Wissenschafts-PR den Journalismus aber niemals ersetzen.”

5. “EXPOSING ONLINE FAKES AND FRAUDS OF THE CRYPTOZOOLOGICAL KIND – A SHUKERNATURE TOP TEN LISTING”
(karlshuker.blogspot.de, englisch)
Zoologe Karl Shuker überprüft die Herkunft und den Wahrheitsgehalt von Bildern, die ungewöhnliche Tiere zeigen, so eine Eule in Regenbogenfarben oder eine siebenköpfige Kobra.

6. “Neue Narrative”
(friedemannkarig.de)
Friedemann Karig erinnert an die Haltung der Bevölkerung in der Überwachungsdebatte: “40% der Deutschen finden staatliche Überwachung explizit gut. Nur 47% fühlen sich dadurch eingeschränkt. 48% haben ‘nichts zu verbergen’. 76% sehen keine ‘persönlichen Nachteile’ darin. Unter den 13 wichtigsten politischen Problemen taucht Überwachung nicht auf.” Und fragt: “Was ist die große, wirkmächtige Killer-Geschichte, die wir gegen Überwachung erzählen müssen?”