Wie oft steht man nicht in einer kalten, klaren Winternacht am offenen Fenster oder auf der Straße, schaut hinauf in den Sternenhimmel und ruft laut aus: “Und Ihr verdammten Viecher seid Schuld, dass ich ein Rückenleiden habe und kurzsichtig bin!”
Wie bitte, das tun Sie nicht? Nun gut, es wäre auch komplett albern. Aber man kann’s ja mal versuchen. So wie “Bild” beim Versuch, eine wissenschaftliche Studie zu verstehen — vor fast fünf Jahren auf der Titelseite und heute noch einmal bei uns im BILDblog-Adventskalender.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Wenn der Zottel-Lehrer mit der Messie-Mutter…” (spiegel.de, Stefan Niggemeier)
Stefan Niggemeier über von Laiendarstellern gespielte, aber wie Dokumentationen inszenierte TV-Sendungen wie “Verdachtsfälle”, “Betrugsfälle” oder “Die Schulermittler”. “Nur winzige Einblendungen am Anfang und Ende weisen darauf hin, dass alles frei erfunden ist. In der Branche wird das Format Scripted Reality genannt. (…) Vor allem jüngere Kinder und Hauptschüler erkennen laut der Umfrage den fiktiven Charakter der ‘Familien im Brennpunkt’-Folgen nicht. Wer die Sendung häufiger guckt, hält das Gezeigte mit größerer Wahrscheinlichkeit für ‘echt’.”
2. “Wa(h)re Information – interessant geht vor relevant” (netzwerkrecherche.de, PDF-Datei, 1.9 MB)
Auch eine Studie von Fritz Wolf widmet sich der Methode “Scripted Reality”: “Hier ist der Betrug im Namen der Unterhaltung immanent. Die Formate sind zynisch gegenüber den Protagonisten, die für billige Programmware ausgenutzt werden und zynisch gegenüber Zuschauern, die getäuscht werden.”
4. “Der unbekannte Riese” (taz.de, Steffen Grimberg)
Steffen Grimberg betrachtet die aktuelle Struktur der Südwestdeutschen Medien Holding (SWMH): “Formal ist die SWMH allerdings kein geschlossener Block, sondern ein kompliziertes Geflecht aus selbstständigen Verlagen.”
6. “Samuel Schmid wird von Hund verfolgt” (glanzundgloria.sf.tv, Isabelle Mathys und Martina Ziesack)
Der Schweizer Ex-Bundesrat Samuel Schmid hat gar keinen Hund. “‘Die Medien haben dieses Gerücht in die Welt gesetzt – und ich habe es nicht aus der Welt geschafft. Man kann ja nicht dauernd widersprechen’, sagt Samuel Schmid schmunzelnd. Auf die ewig wiederkehrende Frage, wie es nun seinem Hund ginge, antwortete er zeitweise einfach mit ‘gut’.”
In Deutschland gelten sogenannte Gesetze. Die regeln z.B., dass ein Mann, der alkoholisiert einen Autounfall verursacht und dann vom Tatort flieht, eine bestimmte Strafe bekommt. Diese wird auf Grundlage der Gesetze von einem Gericht verhängt.
Zugegeben: Das haben wir schon mal geschrieben. Es war im August, als der “Berliner Kurier” sich zu dieser Kombination von Foto und Überschrift hinreißen ließ.
Wir haben uns über diese Berichterstattung beim Deutschen Presserat beschwert, weil wir darin eine Verletzung der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte des Unfallfahrers sahen und der “Berliner Kurier” sich unserer Ansicht nach in der Überschrift als strafende Instanz inszenierte.
Die Rechtsabteilung des Kuriers erklärte in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Presserat, sie könne keine Verletzung der Persönlichkeitsrechte erkennen, da das Gesicht des Mannes nicht zu erkennen und der Name vollständig geändert worden sei.
Auch werde durch das Foto nicht die Menschenwürde verletzt, da die Veröffentlichung eines Fotos, auf dem ein Mann mit heruntergelassener Hose zu sehen sei, “nicht a priori als menschenverachtend zu bewerten” sei.
Besonders kreativ reagierten die Juristen des “Kurier” auf unseren Vorwurf, die Zeitung geriere sich als “strafende Instanz”, den sie als unbegründet zurückwiesen: Die Formulierung “Zur Strafe zeigt der Kurier den Suffkopf mit heruntergelassener Hose” lasse verschiedene Deutungen zu. Der “verständige Leser” würde sie so auffassen, dass darin keine Anmaßung der Ausübung von Befugnissen der Strafjustiz zu sehen sein, sondern eine “soziale Ächtung von Trunkenheit im Straßenverkehr” zum Ausdruck kommen solle. Der Ton des Artikels sei durch die Verwendung von Wörtern wie “Suffkopp” und “bedröppelt” “eher milde gehalten”. Der Artikel bringe demnach insgesamt zum Ausdruck, dass “Trunkenheit am Steuer gesellschaftlich nicht zu billigen” sei, und stelle insofern “einen Beitrag zur Stärkung des Bewusstseins für Normen und gesellschaftliche Werte” dar und trage “zur öffentlichen Meinungsbildung” bei.
(Falls demnächst irgendeine Bürgerinitiative die Wiedereinführung von Prangern auf deutschen Marktplätzen fordern wollen sollte, möchten wir ihr jetzt schon die Formulierungen der “Kurier”-Rechtsabteilung als Argumentationshilfe ans Herz legen.)
Bei den vermeintlichen Persönlichkeitsrechtsverletzungen schloss sich der Beschwerdeausschuss des Presserats der Meinung des “Kuriers” an und erklärte, dass der Mann nicht identifizierbar sei. Wohl aber werde der unbekannte Mann durch die Abbildung in seiner Menschenwürde verletzt. Auch wenn er offensichtlich Fahrerflucht begangen habe, sei es nicht gerechtfertigt, ihn “in dieser herabwürdigenden Situation” abzubilden.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Deutlicher wurde der Beschwerdeausschuss noch im Bezug auf die Überschrift, die er in Kombination mit dem Foto für geeignet hält, “das Ansehen der Presse in Gefahr” zu bringen. Es sei zwar Aufgabe der Zeitungen, ihre Leser über solche Vorkommnisse zu informieren, allerdings müsse dies “in einer sachlichen Art und Weise” geschehen. Im vorliegenden Fall trete die Redaktion jedoch quasi “als strafende Institution” auf, die den Betroffenen an den Pranger stelle. Dies sei mit dem Ansehen der Presse nicht vereinbar.
Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den “Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze” als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.
Irgendwann muss jedes Kind enttäuscht einsehen, dass es drei Dinge nicht gibt: Weihnachtsmann, Christkind und Lothar Matthäus als Bundesligatrainer.
Bei “Bild” kann es allerdings noch etwas dauern, bis die Redakteure das mit Matthäus eingesehen haben, und so lange kann die Zeitung immer und immer wieder ihren Liebling ins Gespräch bringen. Und wir haben im BILDblog-Adventskalender was zum Lachen.
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1. “Lebenserwartung von Geringverdienern steigt” (demografie-blog.de) Viele Medien verbreiten Inhalte aus einer Pressemitteilung von “Die Linke”: “Nicht nur die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE, die diese Nachricht in die Welt gesetzt hat, sondern auch die Journalisten übersehen dabei, dass sie die Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV), mit denen sie argumentieren, völlig falsch interpretieren. Offenbar versteht niemand, was er da überhaupt schreibt oder sendet.”
2. “Die Presse ist krank – Es lebe die Presse!” (vorwaerts.de, Uwe Knüpfer) Uwe Knüpfer plädiert für eine Bundesstiftung Freie Presse. “Wenn ernsthafter Journalismus nur noch schrumpfende Teilöffentlichkeiten erreicht, wird der mündige Bürger immer seltener. Häufiger tritt auf: der schnell erregte Wutbürger. Der Ansehensverlust des Journalisten korrespondiert mit wachsender Parteien- und Demokratieverdrossenheit.”
3. “Wachsam nach allen Seiten” (taz.de, Simone Schmollack) Jürgen Reents hält die Zeitung “Neues Deutschland”, deren Chefredakteur er ist, nicht für linksextremistisch. “Wir sind nicht linksextremistisch. Es sei denn, Kapitalismus- und Gesellschaftskritik werden schon als Linksextremismus gewertet.”
4. “Auf Distanz zu sich selbst” (tagesspiegel.de)
Die Suche nach Akten zur Abhöraktion von 1976 (“Bild” Köln / Günter Wallraff) im Axel Springer Verlag ist vorerst erfolglos. Mathias Döpfner: “Dass wir nichts finden, ist enttäuschend und legt den Verdacht nahe, dass es von Verlagsseite etwas zu verheimlichen gab.”
5. “Pressefreiheit: Zwölfjähriger klagt für Zeitung” (ndr.de, Video, 5:06 Minuten)
Unterhaltsamer Beitrag zur vor Gericht erzwungenen Vielfalt von Schülerzeitungen am Ignaz-Kögler-Gymnasium in Landsberg. Letzteres weist darauf hin, dass es im Konflikt zu keiner Zeit um die Inhalte der Schülerzeitungen ging. “Unberührt von dem Beschluss des Verwaltungsgerichts bleiben weiter die pädagogischen Bedenken gegen zwei Schülerzeitungen am Ignaz-Kögler-Gymnasium.”
Jeden Abend werden in Deutschland Zeitungen gedruckt, die Berichte zu Veranstaltungen enthalten, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu Ende sind. Das fällt etwa dann auf, wenn bei einem Konzert der große Hit überraschenderweise doch nicht gespielt wird, eine Zeitung aber begeistert darüber berichtet.
Es geht aber noch viel merkwürdiger, wie der BILDblog-Adventskalender heute beweist:
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2. “Wie frei ist die vierte Gewalt?” (welt.de, Michael Borgstede)
Michael Borgstede schreibt über die Pressefreiheit in Israel. Das Verleumdungsgesetz soll angepasst werden, die Entschädigungssummen sollen um das Sechsfache angehoben werden. “Auch ohne Schadensnachweis könnten Medien zur Zahlung von bis 60 000 Euro verurteilt werden – ein finanzielles Risiko, das manch kritische Berichterstattung unterbinden könnte.”
3. “Die Extrawurst der Woche” (oldenburger-lokalteil.de)
“Die ungarische Philosophin Àgnes Heller wird mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg geehrt. Das konnte man am Donnerstag in der NWZ lesen. Die entsprechende Pressemitteilung der Stadt wurde allerdings erst am Donnerstagvormittag versandt.”
4. “Euromess: The View From Germany” (motherjones.com, Nick Baumann, englisch)
Nick Baumann wundert sich über die Gelassenheit von deutschen Journalisten hinsichtlich der Schuldenkrise: “I spoke to reporters or editors from most of the country’s largest papers and broadcasters, and they all seemed unconcerned. What’s hard to convey remotely is the general mood: a kind of serenity, an almost utter confidence that everything will turn out fine. I hope they’re right. But I’m not so sure.”
Sie haben dafür eine Meldung des Thüringer Landesdienstes der Nachrichtenagentur dapd aufbereitet, die folgendes besagte:
Krankenhäuser behandeln mehr Jugendliche wegen Alkoholproblemen
Erfurt (dapd-lth). Wegen Alkoholproblemen sind im vergangenen Jahr mehr als 100Jugendliche unter 15 Jahren stationär im Krankenhaus behandelt worden. Dabei wurden ungefähr gleich viele Mädchen wie Jungen eingeliefert, wie das Landesamt für Statistik am Dienstag in Erfurt mitteilte. Die Zahl lag leicht über dem Vorjahreswert. (…)
Die Behauptung, die Zahl habe “leicht über dem Vorjahreswert” gelegen, und die Überschrift sind schlicht falsch.
Wie aus der Pressmitteilung des Thüringer Landesamts für Statistik (PDF) hervorgeht, wurden im vergangenen Jahr 103 Jugendliche unter 15 Jahren “alkoholbedingt” in Thüringer Kliniken behandelt — immerhin zwei weniger als im Jahr 2009. Auch bei den Patienten zwischen 15 und 30 Jahren sank die Zahl der alkoholbedingten Behandlungen leicht von 1.667 auf 1.625, bei denen zwischen 30 und 40 immerhin von 1.613 auf 1.546.
Den mit 59,7 Prozent deutlich größten Anteil machten die 40 bis 60-Jährigen aus. Ihr Wert stieg auch von 6.985 auf 7.130.
Auch kann man aus der Statistik nicht ohne weiteres ablesen, wie viele Patienten welcher Altersgruppe “im Vollrausch” in die Thüringer Krankenhäuser eingeliefert wurde. Das Thüringer Landesamt für Statistik schreibt dazu:
Häufigster Anlass für einen alkoholbedingten Krankenhausaufenthalt waren die so genannten psychischen und Verhaltensstörungen. Dazu gehören vor allem das Abhängigkeitssyndrom, das Entzugssyndrom und der akute Rausch. In 9 734 Fällen (81,4 Prozent) wurden im Jahr 2010 diese Krankheitssyndrome behandelt. Mehr als ein Fünftel (2 130 Personen bzw. 21,9 Prozent) davon waren Frauen. In 3 352 Fällen wurde das Abhängigkeitssyndrom, in 2 520 Fällen das Entzugssyndrom und in 3 025 Fällen der akute Rausch diagnostiziert.
Richtig wäre also die Überschrift gewesen:
Ungefähr gleich viele Menschen unterschiedlicher Altersgruppen landen mit verschiedenen Alkoholproblemen im Krankenhaus
Der größte Fehler, den Stefan Zielasko gemacht hat, war nicht, an einer Castingshow teilzunehmen und dort auf die Frage, ob er keine musikalische Erfahrung habe, wahrheitsgemäß zu antworten: “Ich hab vor Jahren mal bei einer Castingshow mitgemacht, leider ohne Erfolg.”
Der größte Fehler, den Stefan Zielasko gemacht hat, war auch nicht, an einer Castingshow teilzunehmen, deren Produzenten diesen Satz herausschneiden würden, was zur Folge hatte, dass Zielasko in der Öffentlichkeit als Lügner dastehen würde, der die Zuschauer “verarscht” (BILDblog berichtete).
Der größte Fehler, den Stefan Zielasko gemacht hat und den jeder Mensch machen kann, war dieser:
Für BILD war er gestern nicht zu sprechen.
Wer nicht mit “Bild” spricht, erzürnt ihre Redakteure und muss mit dem Schlimmstenrechnen: Anhaltende negative Berichterstattung in “Bild”.
Und so tritt die Zeitung heute gegen den Mann nach, der im Alltag Lehrer ist und gestern auf der Titelseite zu sehen war:
Gestern reagierte der Lehrer aus Moers (NRW) auf die Lügen-Vorwürfe, schrieb auf seiner Facebook-Seite: “Es ist eine traurige Maschinerie, die gerade in Gang gesetzt wird. Und das auf dem Rücken eines Mannes, der das nicht verdient hat. Es bricht mir das Herz …”
Genau genommen reagierte er mit seinem Post vom Sonntag allerdings weniger auf die “Lügen-Vorwürfe” und mehr auf …
Ach, lesen Sie selbst:
Meine Lieben…es ist traurig aber wahr! Obwohl alles gesagt ist und ihr die Wahrheit kennt, werde ich morgen dick und fett auf der Titelseite der Bildzeitung zusehen sein. Dort werde ich als Lügner deklassiert. Ich möchte Euch da nur drauf vorbereiten. Es ist eine traurige Maschinerie, die gerade in Gang gesetzt wird. Sehr sehr traurig. Und das auf dem Rücken eines Mannes, der das (so denke ich doch) nicht verdient hat. Es bricht mir das Herz…..
Aber gut, wer wird so spitzfindig sein, zwischen allgemeinen “Lügen-Vorwürfen” und der konkreten “Bild” Unterschiede zu sehen?
Also: Wer, außer “Bild”, die sich um ein ganz neues Niveau in Sachen Spitzfindigkeit bemüht?
Ein Pro7-Sprecher erklärte gestern, ein Satz sei aus der Sendung herausgeschnitten worden.
Stefan habe gesagt: “Ich hab vor Jahren mal bei einer Castingshow mitgemacht, leider ohne Erfolg.”
Leider auch nicht ganz die Wahrheit…
Warum dies Antwort “nicht ganz die Wahrheit” sein soll, erklärt “Bild” im ersten Satz des Artikels:
Nach seinem tollen Auftritt bei “The Voice” verschwieg er, dass er schon mal im Finale von “Popstars” stand.
Wir lernen also: Wer vor sieben Jahren im Finale einer Castingshow stand, es aber nicht in die (mittelmäßig erfolgreiche) Gewinnerband geschafft hat, hat durchaus nicht “ohne Erfolg” an dieser Show teilgenommen — zumindest, wenn es “Bild” so in den Kram passt.