Wenn Sie in Berlin in der Nähe der Axel-Springer-Zentrale am Checkpoint Charlie wohnen und sich in den letzten Tagen über die merkwürdigen Plopp-Geräusche gewundert haben: Das waren nur die Champagnerkorken. Es gibt nämlich quasi jeden Tag was zu Feiern.
Gestern, zum Beispiel, als Claus Strunz, der ehemalige Chefredakteur der “Bild am Sonntag” und des “Hamburger Abendblatts”, zum “Gewinner des Tages” ernannt wurde:
Nun liegen die 7,5 Prozent noch unter dem Senderschnitt von Sat.1, der im September bei “satten” 10,9 Prozent lag. Auch hatte die zeitgleich auf RTL ausgestrahlte “Future Trend Reportage” einen etwa doppelt so hohen Marktanteil wie “Eins gegen Eins”, aber das alles soll den Erfolg von “Quotenkönig” Strunz natürlich nicht schmälern — auch nicht der Umstand, dass Bild.de im Vorfeld der montäglichen Sendung ordentlich die Werbetrommel gerührt hatte:
Heute dann der nächste Triumph:
Die “große Ehre” äußert sich darin, dass die in Branchenkreisen weitgehend unbekannte Firma McPheters & Company eine Pressemeldung herausgegeben hat, in der sie die “Top 10 Newspaper Apps” auszeichnet.
Zum Vorgehen schreibt die Firma:
Die Liste basiert auf dem iMonitor Bewertungssystem das jede App nach ihrem Design, ihrer Funktionalität und ihrem Einsatz von Multimedia-Inhalten bewertet. Jede Variable wird auf einer Fünf-Punkte-Skale beurteilt und in einer einzelnen App-Bewertung mit einem maximal möglichen Wert von 15 Punkten zusammengefasst. Die höchste bisher erzielte Bewertung liegt bei 14,5 — eine Bewertung, die alle Veröffentlichungen auf dieser Liste gemeinsam haben, die wir in alphabetischer Reihenfolge angeordnet haben.
(Übersetzung und Hervorhebung von uns.)
Und … nun ja … “Bild” fängt halt mit “B” an:
“Bild” scheint übrigens das einzige Medium zu sein, das sich öffentlich über diese große Ehre freut.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Verschlossene Türen: Intransparenz bei Bad Bank” (ndr.de, Video, 6:46 Minuten)
Die 2009 verstaatlichte Bankenholding Hypo Real Estate gibt der Öffentlichkeit kaum oder nur sehr eingeschränkt Auskunft. “Die Bad Bank – für ihre Kontrolleure wie für die Öffentlichkeit eine Black Box”.
2. “Befremden über ägyptisches TV-Interview mit Shalit” (nzz.ch, Kristina Bergmann)
Der freigelassene israelische Soldat Gilad Shalit wird von Shahira Amin für das ägyptische Fernsehen interviewt. “Wegen ihrer erstaunlichen Fragen und der zwielichtigen Umstände fragten sich viele, ob Shalit das Interview freiwillig gegeben hatte.” Siehe dazu auch jpost.com (“The reporter is seated beside an Egyptian flag – as if she were not the interviewer but an Egyptian government interviewee. Schalit, by contrast, sits next to a houseplant”) oder derstandard.at.
3. “Das ‘Blick’-Girl vom Salon nebenan” (20min.ch, A. Mustedanagic)
A. Mustedanagic spricht mit einer Frau, die von “Blick” bei der Wahl des “Girl des Jahres” als “kaufmännische Angestellte aus Birsfelden” angepriesen wird. Sie arbeitet aber auch in einem Erotikclub in Zürich.
4. “Angst, Hass, Titten, Hans!” (schalkefan.de)
Fußballer Hans Sarpei macht Werbung für “Bild” (1/2). “Er sah die Möglichkeit, durch scheinbar harmlose und scheinbar ironische Werbespots ein Honorar für zwei von ihm ausgewählte soziale Projekte zu generieren. Dass er soziale Projekte unterstützt ehrt ihn. Das macht die Sache – für mich – jedoch nicht besser. Denn am Ende steht Werbung für ein Medium, das ich nicht beworben sehen möchte.”
5. “Sie haben mich gehackt!” (taz.de, Steffi Dobmeier)
Steffi Dobmeier hat eines Morgens keinen Zugang mehr auf ihr E-Mail- und ihr Facebook-Konto. Ein Protokoll.
6. “Meine Heimat Internet” (spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo erinnert sich an seine Ankunft in der “Heimat Internet”: “Da waren Menschen, direkt hinter meinem Bildschirm. Und sie waren mir näher als die meisten in der Offline-Welt. Wo ich zuvor nur auf Medien und Datenbanken von Unternehmen gestoßen war, gab es Leute, die meinen Humor teilten, die diskutierten, die mich liebevoll und weniger liebevoll beschimpften – Menschen, die mich wirklich interessierten.”
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1. “Der RTL-Taxitest” (gestern-nacht-im-taxi.de)
Ein Taxitest von “RTL Extra” in der Analyse: “Eine vermeintliche Aufklärungssendung, die Betrüger davonkommen lässt, nicht einmal das Subjekt ihrer Nachforschung genau umreissen kann, reisserisch Bericht erstattet, das genaue Gegenteil von analytischer oder auch nur halbwegs durchdachter Arbeit ist und all das noch gelegentlich durch das mildtätige Lächeln von Birgit Schrowange so einlullend macht, dass auch die letzte Gehirnzelle einschläft, die kann ich nur als intellektuelles Abführmittel bezeichnen.”
Wir müssen noch mal auf die Art zurückkommen, wie die Schweizer Nachrichtenseite 20min.ch über das angeblich von der EU verhängte Luftballonaufblasverbot für Kinder berichtet hat:
Das Foto, das symbolisieren soll, wie die EU Kinder zum Weinen bringt, findet sich unter anderem im Bilderpool der Nachrichtenagentur Reuters und ist auch auf flickr zu finden:
In der Beschreibung der einen Tag nach Ende des Gazakrieges entstandenen Aufnahme heißt es:
Das palästinensische Mädchen Ayat (10) weint (…), nachdem es erfahren hat, dass sein Onkel Billal Nabham, der zuvor 20 Tage vermisst wurde, tot unter den Trümmern eines Hauses (…) gefunden wurde. (…)
(Übersetzung von uns.)
Mit Dank an Niklas R.
Nachtrag, 19:49 Uhr:20min.ch hat das Bild kommentarlos durch ein anderes ersetzt.
2. Nachtrag, 19. Oktober:20min.ch erklärt das Bilderchaos nun doch in einem Kasten neben dem Artikel und entschuldigt sich:
Ungeeignetes Symbolbild
Der vorliegende Artikel war ursprünglich mit einem anderen Symbolbild illustriert, auf dem ein weinendes Mädchen zu sehen war. 20 Minuten Online hat das Foto nun nach einem Hinweis auf Bildblog.de ersetzt, weil es in der Tat aus einem anderen Kontext stammt: Es zeigt ein palästinensisches Mädchen, das um seinen im Gazakrieg umgekommenen Onkel trauert.
20 Minuten Online entschuldigt sich für die Verwendung des deplatzierten Symbolbilds.
Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.
Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:
Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.
Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.
Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!
Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichenHochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.
Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:
Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.
Dabei erfuhren die Reporter so einiges:
Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”
Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:
“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”
Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.
Auszüge aus dem Pressekodex:
Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen
(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.
Richtlinie 8.4 – Erkrankungen
Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.
Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).
Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:
Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!
[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.
Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).
Aber nicht nur das:
Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”
Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.
Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.
Mit einigen Themen lässt sich besonders schön Empörung erzielen: Dazu gehören beispielsweise die sprichwörtliche Regulierungswut bürokratischer EU-Behörden oder Grausamkeiten jeglicher Art gegen arme, unschuldige Kinder.
Insofern war das ein echter Knaller, was britische Medien wie “Daily Mail”, “The Telegraph” und “Daily Express” vergangene Woche zu melden hatten. Sie behaupteten, die EU wolle Kindern allen Ernstes das Aufblasen von Luftballons verbieten:
Man stelle sich das vor: Klein-Justin-Sören will einen Luftballon aufblasen, schon treten fünf EU-Kommissare die Wohnungstür ein, nehmen den Übeltäter fest und sperren ihn bei Wasser und Brot in den Brüsseler Hungerturm. Oder ist alles ganz anders?
Nun, wahr ist, dass es tatsächlich eine neue Richtlinie gibt, deren Erläuterung in ihrer ganzen 164-seitigen Pracht bereits seit Monaten einsehbar ist. Warum die Medien jetzt erst darauf aufmerksam wurden ist unklar, denn die Richtlinie ist bereits seit 20. Juli 2009 in Kraft und seit 20. Juli 2011 auch umzusetzen. Das angebliche Luftballon-Aufblas-Verbot wird im folgenden Satz erklärt:
Ballons aus Latex müssen mit einem Warnhinweis versehen sein, dass Kinder unter 8 Jahren beaufsichtigt werden müssen und defekte Ballons zu entsorgen sind.
Wie auch das englische Watchblog “Tabloid Watch” festgestellt hat, geht es also keineswegs um ein Verbot, sondern lediglich um einen Warnhinweis auf der Verpackung, wie er seit Jahrzehnten auf Kinderspielzeug üblich ist. Man denke an Klassiker wie “Nicht für Kinder unter 3 Jahren geeignet” oder “Enthält Kleinteile: Erstickungsgefahr”. Solche Hinweise können Eltern beachten oder ignorieren. Rechtliche Konsequenzen haben sie nicht.
Kinder unter acht Jahren dürfen weiterhin ohne Aufsicht von Erwachsenen Luftballons aufblasen – das hat die EU-Kommission klargestellt. Anderslautende Medienberichte seien falsch, erklärte die Brüsseler Behörde am Donnerstag und fügte hinzu: “Die EU verbietet Kindern NICHT das Aufblasen von Ballons.”
Eine neue Richtlinie für die Sicherheit von Spielzeug aus dem Sommer nehme lediglich eine seit 1998 geltende Bestimmung wieder auf: Danach müssen Latex-Ballons die Warnung tragen, dass Kinder jünger als acht Jahre unaufgeblasene oder kaputte Ballons verschlucken und daran ersticken können. Die Aufsicht von Erwachsenen werde daher empfohlen.
Sie fragen sich, warum die EU sich die Mühe gemacht hat, diese Richtigstellung auch auf Deutsch publik zu machen, obwohl doch englische Medien einem Irrtum erlegen waren? Das liegt daran, dass einigen deutschsprachigen Medien keine Nachricht aus England zu blöd ist, um sie nicht unreflektiert weiterzuverbreiten.
Die Nachricht aus der englischen Zeitung Telegraph wird Kinder nicht freuen: Eine EU-Verordnung besagt, dass es unter Achtjährigen verboten ist, alleine Luftballons aufzublasen. Begründung: Die Kids könnten ersticken.
Der Hauptpreis geht jedoch an “20 Minuten Online”, wo von der Überschrift bis hin zum Symbolbild einfach alles zusammenpasst:
Mit Dank an Lutz K.
Korrektur, 10.13 Uhr: Ein Leser hat uns darauf hingewiesen, dass die “neue” Richtlinie sogar schon seit dem 20. Juli 2009 in Kraft ist, wobei die nationalen Umsetzungsvorschriften tatsächlich erst seit 20. Juli 2011 anzuwenden sind. Außerdem handelt es sich bei dem von uns zitierten Dokument nicht um die eigentliche Richtlinie, sondern um ihre Erläuterung. Die betreffenden Stellen wurde nachträglich korrigiert.
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2. “Im Angesicht des Todes” (uni-muenster.de)
Stephan Völlmicke untersucht in seiner Doktorarbeit die Darstellung des Todes in der Krimiserie “Tatort”: “Im Verlauf der untersuchten 40 Jahre hat sich die Bebilderung des Todes deutlich verändert. Die Todesdarstellungen sind heute so intensiv und direkt wie nie zuvor.”
3. “Unsere Kunden erwarten, dass wir ein Convenience-Produkt liefern” (persoenlich.com, Edith Hollenstein)
Die Meldungen der inzwischen einzigen Schweizer Nachrichtenagentur SDA “werden häufig 1:1 von Onlineportalen übernommen und auch in den Printausgaben gedruckt.” Ein Interview mit dem Chefredakteur Bernard Maissen.
4. “Die Medien zum Feind” (zeit.de, Steffen Dobbert)
Fußballer Arne Friedrich und die Medien. “Nach der WM in Deutschland bemerkte er, wie die veröffentlichte Meinung sich von der vieler Menschen unterscheidet. Während der WM machten ihn die Medien für einige Gegentore in der Vorrunde verantwortlich. Dabei hatte er nur, wie vom Trainer verlangt, nicht auf Abseits gespielt.”
5. “Baron Münchhausens Ururenkelin oder nur die nervigste Tratschtante, auch modisch gesehen?” (horstson.de)
Horston schreibt über Natascha Sagorski: “Wenn man es in das Allerheiligste eines TV-Senders geschafft hat und drinnen ist, rafft man dann alles an Schnipseln zusammen, das es an elektronischen und gedruckten Fakes und aus der Luft gegriffenen Erfindungen und unbewiesenen Gerüchten über Prominente gibt, weil man von der Weiterverwertung solcher Meldungen, die eigentlich gar keine sind, lebt oder sich dann einfach mehr leisten kann, so man nebenbei auch noch einen richtigen Beruf erlernt hat und dem auch tätig nachgeht.”
Nicht alles, aber womöglich doch vieles von dem, was im Onlinejournalismus falsch läuft, lässt sich anhand dieses Artikels aus dem Online-Auftritt der “Abendzeitung” aufzeigen:
Da ist zunächst einmal dieses knallige Foto, das natürlich auch als Teaser auf der Startseite zu finden war. Es zeigt also einen Mann, “das Gesicht verhüllt, die Hände in Skihandschuhe gesteckt”, vor einer beeindruckenden Feuerwand/Explosion. Die Leute von der “Abendzeitung” haben ihn dort allerdings hineinmontieren müssen, denn der tatsächliche Bildhintergrund war nicht ganz so spektakulär:
Mindestens ebenso bemerkenswert sind natürlich auch die oben abgebildete Überschrift und der Vorspann der Meldung:
Handschuhe, Kapuze, Gesicht verhüllt: Wolfgang M. steht wegen siebenfachen Mordes vor Gericht und soll sich selbst in die Luft gesprengt haben. Der Mann hat schwerste Verbrennungen.
Bemerkenswert vor allem, weil auf den “siebenfachen Mord” in Überschrift und Vorspann diese Meldung folgte:
Wegen versuchten Mordes in sieben Fällen muss sich seit Montag der mutmaßliche Serienräuber Wolfgang M. vor dem Münchner Landgericht verantworten. Der 50-Jährige soll im August 2010 nach einem Überfall im Raum Augsburg auf der Flucht seinen Wagen mit Propangas in die Luft gejagt haben, um sich selbst zu töten.
Dabei wurden sieben Polizisten verletzt. Der Angeklagte erlitt schwerste Verletzungen und ist ein Pflegefall. Gegen ihn wird voraussichtlich an neun Tagen verhandelt.
Da haben wir also eine aufmerksamkeitsheischende Fotomontage und eine Überschrift, die nur wenig mit der Meldung selbst zu tun hatte. Geht noch mehr?
Aber ja: Im Laufe des Nachmittags haben die Online-Redakteure von der “Abendzeitung” die komplette Meldung durch einen deutlich längeren Artikel ersetzt und dabei auch unauffällig die Aussage der vorherigen Überschrift korrigiert.
Doch der erste Satz des Artikels macht deutlich, dass hier etwas schief gegangen ist:
Die Osteuropaexpertin der Grünen-Bundestagsfraktion, Marieluise Beck, hat den Auftritt von Mitgliedern des MDR-Fernsehballetts in Tschetschenien als “unanständig” kritisiert.
Marieluise Beck, soweit bekannt nicht identisch mit dem abgebildeten Kurt Beck, sieht natürlich ganz anders aus.
Doch der Internetauftritt der “Abendzeitung Nürnberg” ist nicht das einzige Medium, das den Artikel über Frau Beck mit einem Foto von Herrn Beck bebildert hat:
Quelle jedes Mal: Die Nachrichtagentur dapd. Die hätte es allerdings noch sinnloser treffen können.
Mit Dank an Magnus G., Matthias U. und Schreiberling.
Es existiert da bei manchen offenbar Nachsicht bei Motiven von links, weil: Eigentlich meinen die Täter es ja irgendwie doch gut.
Wenn jetzt Linksextremisten durch Brandanschläge bei der Bahn Hunderte von Menschenleben gefährden, dann wird schon wieder um Worte gerungen.
Es wird Tiedje, den früheren “Bild”-Chefredakteur, wurmen, dass nicht einmal der Chef des Bundeskriminalamts bereit ist, angesichts der Brandanschläge auf Strecken der Deutsche Bahn von “Terrorismus” zu sprechen.
Tiedje selbst hingegen ist ein Freund klarer Worte, wie er schon zu Beginn seines Kommentars deutlich machte:
Wenn Neonazis Ausländer verprügeln, ist das dann schlicht nur Ausländerhass? Nein, es ist Terror, und zwar Terror gegen Menschen.
Hoyerswerda, Solingen, Oktoberfest 1980: alles Fälle von rechtem Terrorismus. Und jeder benennt es so, schon im Rückblick auf die Nazizeit.
Im Gegenteil, wie diese AP-Meldung vom November 1991 zeigt:
Für Generalbundesanwalt Alexander von Stahl sind die Anschläge auf Ausländer kein Terrorismus. Zwar habe der Rechtsextremismus zugenommen, sagte er am Donnerstag abend in Hamburg vor dem Übersee-Club. Aber es lägen bisher keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, daß die mittlerweile über 300 Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerbern und andere Ausländern durch terroristische Vereinigungen gesteuert würden oder daß sich terroristische Strukturen gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gebildet hätten. Der Rechtsterrorismus sei “keine aktuell erkennbare Gefährdung”.
Wenn Tiedje heute behauptet, “jeder” spreche im Zusammenhang mit diesen Ereignissen von “rechtem Terrorismus” (“schon im Rückblick auf die Nazizeit”), dann ist diese Behauptung mindestens gewagt. Oder auch geschichtsklitternd.
Einige Beobachter haben übrigens die “Bild”-Zeitung für die aufgeheizte Stimmung gegenüber Asylanten und Ausländern in Deutschland mitverantwortlich gemacht. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hatte schon im September 1991 die Berichterstattung von “Bild” scharf kritisiert. Im April 1992 titelte die Zeitung: “Die Flut steigt – wann sinkt das Boot? Fast jede Minute ein neuer Asylant”.
(Co-)Chefredakteur von “Bild” war damals Hans-Hermann Tiedje.