Archiv für Oktober 28th, 2011

Bild  

Was soll die Scheiße?

Dann passiert etwas, was BILD exklusiv weiß:

Das ist ein Satz, der klingt, als sei er ironisch gemeint und stamme zum Beispiel von dieser Seite. Er steht aber in “Bild”.

Gestern haben Zollbeamte, Polizisten und Steuerfahnder am Frankfurter Flughafen eine großangelegte Fahrzeugkontrolle durchgeführt, die der Zollamtsrat als “rundum gelungen” bezeichnet.

Dann passiert etwas, was BILD exklusiv weiß: Am späten Vormittag nähert sich eine dunkle, schwere Audi-Limousine der Kontrolle. Zuerst wartet der Fahrer brav in der Reihe. Doch plötzlich beschleunigt der Wagen, rast los. Der Fahrer brüllt aus dem Fenster: “Was soll die Scheiße hier?”

Jetzt erkennen mehrere Zeugen den Mann: Es ist Heiner Geißler.

“Bild” verbreitete dieses exklusive Wissen großflächig in den Frankfurter und Stuttgarter Regionalausgaben:

Am Frankfurter Flughafen: Heiner Geißler flüchtet vor Polizei-Kontrolle

Deutschlandweit wurde Geißler zum “Verlierer des Tages” erklärt:

CDU-Urgestein Heiner Geißler (81) hat bei einer Polizeikontrolle offenbar die Nerven verloren! Am Frankfurter Flughafen musste Geißler mit seinem Auto vor einer Straßensperre warten. Plötzlich, so Augenzeugen, gab er Gas, rief "Was soll die Scheiße hier?" und brauste davon. Nun liegt der Vorfall beim Polizeipräsidium. BILD meint: Alter schützt vor Torheit nicht!

(Gewinner des Tages ist übrigens der vor einem Jahr verstorbene Oktopus Paul, weil über den jetzt ein E-Book erscheint.)

Heiner Geißler widersprach dieser Darstellung heute in einer Stellungnahme heftig. “Der Bericht ist unrichtig und beruht auf falschen Informationen”, schreibt er und erklärt, dass er sein Auto in der Flughafen-Parkgarage habe abstellen wollen, um den ICE nach Kiel zu nehmen.

hr-online.de zitiert Geißler:

Am Ende der Abbiegespur habe ein Zollbeamter gestanden, der die Autos weiterleitete. Geißler sagte, er habe aus dem Fenster gerufen: “Was soll das, ich verpasse meinen Zug.” Der Beamte habe ihn gegrüßt und ihn passieren lassen. “Die Behauptung, ich sei geflüchtet, ist absolut falsch, da ich gar nicht angehalten wurde”, so der frühere Bundesfamilienminister und CDU-Generalsekretär.

Auch bei der Marke seines Autos hat sich die “Bild” laut Geißler getäuscht. “Ich fahre einen 5er BMW und die örtlichen Verhältnisse lassen ein Tempo über 20 km/h gar nicht zu.” Der schwere Audi und die quietschenden Reifen seien “reine Erfindung”.

In der Onlineversion des “Bild”-Artikels wurde Geißlers Stellungnahme unauffällig am Schluss eingebaut — mit der Anmoderation “Heiner Geißler bestreitet die Vorwürfe.”

Ein Sprecher des Polizeipräsidiums Frankfurt bestätigte uns gegenüber, dass die Schilderungen von Geißler zutreffend seien. Die “Folgen”, die Geißlers “Flucht” laut “Bild” haben könnte, schloss der Mann aus: Es bleibe “praktisch gar nichts hängen, auch keine Ordnungswidrigkeit”. Die Berichterstattung sei “viel Wind um fast nichts”.

Damit kann man dann auch die Fragen von “Mitteldeutscher Zeitung” und “Westfälischem Anzeiger” klar mit “Nein” beantworten:

Flüchtete Heiner Geißler vor Polizeikontrolle?

Ist Geißler vor Polizeikontrolle geflüchtet?

Mit Dank an Florian S.

Schachbrett, Tyrannen, Bekennerschreiben

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie wir mit Bekennerschreiben umgehen”
(blogs.taz.de/hausblog, Magda Schneider, Kai von Appen und Peter Müller)
Wie die “taz Hamburg” mit “sogenannten Bekennungen” umgeht. “In der Redaktion herrschte Einigkeit darüber, dass wir uns nicht zu Hilfspolizisten machen lassen wollten. Denn ein Bekennerschreiben, das meist nicht von den Akteuren selbst stammt, hat rechtlich die gleiche Qualität wie von Informanten zugespieltes Material – es unterliegt dem Redaktionsgeheimnis. Deshalb schafften wir uns einen fiktiven Redaktionskater an, der noch bei laufender Produktion die Briefe verspeiste – was wir auch in der Zeitung mitteilten. Das verschonte uns sicherlich von vielen unangenehmen Hausbesuchen.”

2. “Lieber gut kopiert als …”
(oldenburger-lokalteil.de)
Der “Oldenburger Lokalteil” lädt ein zum Spiel “Welches ist die Pressemitteilung, welches der Zeitungsartikel?”. “Wenn Sie die Lösung haben, schicken Sie sie einfach an die Nordwest-Zeitung bzw. an das Delmenhorster Kreisblatt.”

3. “Die Inszenierung des Tyrannen-Todes”
(visdp.de)
“V.i.S.d.P.” spricht mit Historiker Thomas Großbölting über die Inszenierung der Tode von Benito Mussolini, Saddam Hussein, Osama bin Laden und Muammar al-Gaddafi: “Wenn man es gegenüber den Leserinnen und Lesern plausibel machen kann, dass die Wirklichkeit komplexer ist, als wir es uns in den Medienhypes und Bildikonen vorsetzen lassen, dann entsteht aus meiner Sicht wirklich guter Journalismus.”

4. “Strahlende Äpfel und giftige Birnen”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
“Fukushima war schlimmer als Tschernobyl” ist der Titel eines Artikels auf focus.de. “Anlaß zu dieser Meldung ist ein Bericht, wonach eventuell in Japan bis zu zweieinhalb Mal so viel radioaktive Edelgasisotope von Xenon und Krypton frei wurden als bei der Katastrophe von Tschernobyl.”

5. “Sogenannter Journalismus: Wie erzähle ich Fußballrandale?”
(publikative.org, Nicole Selmer)
Nicole Selmer macht sich Gedanken über die Berichterstattung zum Pokalspiel Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden.

6. “Komik statt Symbolik”
(stern.de, Florian Güßgen)
Wie Rainer Grünberg auf abendblatt.de zuerst bemerkt hat, ist das Schachbrett auf dem Titelbild des Buchs “Zug um Zug” von Helmut Schmidt und Peer Steinbrück falsch aufgestellt. Siehe dazu auch “Die Guttenbergs spielen nur mit weißen Figuren” (welt.de, Benjamin von Stuckrad-Barre, 21. Oktober 2010).