Archiv für Oktober 11th, 2011

Urbane Legenden über Political Correctness (3)

Die Zahl deutschsprachiger Medien, die noch nicht auf die Falschmeldung hereingefallen ist, die BBC hätte die Formulierungen “vor Christus” und “nach Christus” abgeschafft, sinkt weiter.

Die “Zeit”-Beilage “Christ & Welt”, das Überbleibsel der Wochenzeitung “Rheinischer Merkur”, ist natürlich schon aufgrund ihres Namens von der Sache betroffen und schreibt in einer Glosse:

Nach mehr als zweitausend Folgen das Aus: Die BBC setzt Christus ab. In allen Sendungen des europäischen Leitmediums soll fortan nach einer Empfehlung der Senderleitung bei Nennung einer Jahreszahl auf den Zusatz „vor“ oder „nach Christus“ (BC für „before Christ“ und AD für Anno Domini) verzichtet werden. Stattdessen sind die Formulierungen „vor“ und „nach unserer Zeitrechnung“ („before common era“ und „common era“ oder kurz: BCE und CE) zu gebrauchen. Der Christusbezug sei, so der Sender, in einer „multiethnischen Gesellschaft“ nicht mehr angemessen, weshalb ...

Also noch einmal in aller Kürze:

  • Es gibt keine solche Empfehlung der Senderleitung.
  • Jede Redaktion kann selbst entscheiden, welche Formulierung sie verwenden will.
  • Die Formulierung “(before) common era” wird schon länger in Schulen gelehrt, in Universitäten verwendet und auf den Religionsseiten der BBC im Internet benutzt.
  • Es gibt keine Erklärung des Senders, wonach der Christusbezug in einer “multiethnischen Gesellschaft” nicht mehr angemessen sei (im Übrigen geht es um Religionen, nicht um Ethnien).

Auch die Österreichische Zeitung “Die Presse” verbreitet die Mär vom Sprachdiktat durch die BBC. Der frühere Chefredakteur und heutige Wiener Bistumssprecher Michael Prüller hat seine aktuelle “Culture Clash”-Kolumne ganz auf die falschen Behauptungen gegründet und schreibt:

Man kann (…) einwenden, dass durch Aktionen wie die der BBC wir immer mehr zu Kultureunuchen werden. Das, was für Irritationen sorgen könnte, schneiden wir besser weg. Es scheint mir aber künftige Konflikte eher heraufzubeschwören als zu verhindern, wenn man uns weismachen will, dass der Preis, den wir für zunehmende Diversität zu zahlen haben, die kulturhistorische Entmannung ist.

Noch einmal: Die “Aktion” der BBC, durch die sich Prüller kulturhistorisch zwangsentmannt fühlt, besteht in Wahrheit darin, ihren Mitarbeitern die freie Wahl zu lassen.

Der “Kölnischen Rundschau” war es unterdessen nicht genug, den Unsinn selbst in einem Artikel zu verbreiten (“Bei der BBC wird Jesu Geburt nicht mehr genannt”); sie lässt es nun auch ihre Leser tun und veröffentlichte folgende Zuschrift:

Ich lese, dass die BBC nicht mehr die Begriffe “vor Christus” und “nach Christus”, sondern mit Rücksicht auf andere Ethnien in England “vor” oder “nach unserer Zeitrechnung” verwenden möchte, die “Nicht-Christen weder beleidigen noch befremden”. Wenn das so stimmt, sollte die BBC auch nicht mehr die britische Fahne zeigen, die gleich drei christliche Kreuze enthält. Außerdem müsste die Queen bei Ihrer Thronrede vor beiden Häusern des Parlaments, wo sie sich mit einer Krone mit christlichem Kreuz präsentiert, ebenfalls tabu sein.

Armes England, das seine Herkunft verleugnet und sich kriecherisch seinen Ethnien anbiedert, die dies außerdem nicht einmal wollen.

Ein “England, das sich kriecherisch seinen Ethnien anbiedert” — man muss der “Kölnischen Rundschau” fast dankbar sein, dass sie dokumentiert, welche Art von Ressentiments sie mit ihrer Falschmeldung bedient.

dapd  

Die Reisewarnung, die keine Reisewarnung ist

Wenn das Auswärtige Amt eine Reisewarnung herausgibt, berechtigt das zu einer kostenlosen Stornierung von Reisen in das betroffene Land.

Insofern dürften die Reiseveranstalter gerade gut zu tun haben:

Ausschreitungen. Auswärtiges Amt: Reisewarnung für Ägypten

Gut zu tun beim Versuch, den Kunden zu erklären, dass es gar keine offizielle Reisewarnung für Ägypten gibt, obwohl das etwa bei “Focus Online”, “RP Online”, beim “Hamburger Abendblatt” und der “B.Z.” zu lesen ist.

Das Auswärtige Amt gibt lediglich … na gut: “lediglich” diese Empfehlungen:

Reisenden in Ägypten wird weiterhin dringend empfohlen, Menschenansammlungen und Demonstrationen weiträumig zu meiden und die örtliche Medienberichterstattung aufmerksam zu verfolgen. Dieser Hinweis gilt insbesondere für die urbanen Zentren, und derzeit ganz besonders für das Gebiet um den Tahrir-Platz und das Fernsehgebäude (Maspero) in Kairo.

Reisen nach Ägypten sollten bis auf weiteres auf Kairo, Alexandria, die Urlaubsgebiete am Roten Meer, die Touristenzentren in Oberägypten (insbes. Luxor, Assuan) und auf geführte Touren in der Weißen und Schwarzen Wüste beschränkt werden. Von Einzelreisen an sonstige Orte und Landstriche wird aufgrund der nach wie vor unübersichtlichen und unsteten Sicherheitslage weiterhin abgeraten.

Die Nachrichtenagentur dapd war mit den feinen rechtlichen Unterschieden zwischen den “Aktuellen Hinweisen” des Auswärtigen Amts und einer offiziellen “Reisewarnung” offensichtlich nicht vertraut und hatte gestern in zwei Meldungen lautstark eine “Reisewarnung” verkündet.

Heute dann reichte dapd eine “Berichtigte Neufassung” nach:

Di 11.10.2011, 12:13, dapd – Nachrichtenagentur

Ägypten/DEU/Reisen/BER/NEU
(Berichtigte Neufassung)
Auswärtiges Amt aktualisiert Reisehinweise für Ägypten
– (korrigiert Meldung und Zusammenfassung von Montagabend. Es gab lediglich einen aktualisierten Reisehinweis, keine Warnung) =

Die Medien haben diese neue Version weitgehend ignoriert.

Mit Dank an Robert Sch.

Mikrozeitungen, Cover my Song, Ungarn

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Für eine kritische Berichterstattung – Ungarische Journalisten wehren sich”
(youtube.com, Video, 7:11 Minuten)
Ungarische Websites weichen auf ausländische Server aus, berichtet “ttt” – “da sind sie vor der Medienbehörde sicher”.”Eines hat Ministerpräsident Orban nicht bedacht: Im Internetzeitalter kann er einen Krieg um die Meinungsfreiheit nicht einfach per Gesetz gewinnen.”

2. “Raus aus den Ritualen”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Rupert Neudeck)
Nach vier Ausgaben der Talkshow “Günther Jauch” zieht Rupert Neudeck eine Bilanz: “Die Zwangsjacke, Gäste einzuladen, die – schönes neues deutsches Wort – ‘talkshowfähig’ sind, scheint auch für Jauch knallhart verbindlich.”

3. “Respekt oder Reality? Warum Fernsehen auch ohne Grenzverletzungen unterhalten kann”
(faz-community.faz.net, Peer Schader)
Peer Schader empfiehlt die “Vox”-Sendung “Cover my Song”, in der Rapper und Schlagerstars gegenseitig ihre Songs covern: “Dabei zuzusehen macht ungeheuer gute Laune, vor allem, weil die beiden Seiten sich nicht nur mit großem Respekt aneinander herantasten, sondern in einigen Fällen sogar merken, dass sie einen ganz ähnlichen Zugang zur Musik haben: über ihre Motivation, die Erfahrungen, die Arbeitsweise.”

4. “Wir erhalten ständig Bewerbungen – für Wunschkandidaten führen wir bereits Listen”
(persoenlich.com, Corinne Bauer)
Urs Gossweiler plant, ab dem Dezember 2012 in Zürich zwölf Mikrozeitungen zu verlegen und sucht dazu Mitarbeiter: “Pro Mikrozeitung benötigen wir acht Journalisten, vier Verlags- und drei Produktionsspezialisten. Insgesamt also 12 x 15 Leute.”

5. “‘Die Presse’: Kommentare zu verkaufen!”
(kobuk.at, Sebastian Fellner)
Die Finanzierung der wöchentlich in der Zeitung “Die Presse” erscheinenden Rubrik “Baupanorama”.

6. “Das Recht auf Meinung”
(estherruppertlaemmer.wordpress.com)
“Ja, ich bin Journalistin. Und, ja: Ich habe eine eigene politische Meinung.”