Archiv für September 21st, 2011

taz  

Verscherzkeks

Im beliebten Comedy-Drama “Journalisten schreiben über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte” gibt es eine neue Episode zu bestaunen.

Der inzwischen verstaatlichte russische Ölkonzern Yukos hatte gegen seine “versteckte Enteignung” geklagt und von der russischen Regierung Schadenersatz in Höhe von 70 Milliarden Euro gefordert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte Prozessfehler fest und erklärte, die russischen Behörden hätten gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen.

Zwar hat es Klaus-Helge Donath, Russland-Korrespondent der “taz” geschafft, in seinem Kommentar den EGMR an keiner Stelle als “EU-Gericht” zu bezeichnen. Doch beim Finale verheddert er sich dafür um so gekonnter:

Die EU – Recht hin oder her – will es sich mit Russland nicht verscherzen. Moskau hat schon oft über einen Rückzug aus dem Europarat nachgedacht. Ein Schuldspruch hätte diese Entscheidung forciert, mit fatalen Folgen: Zwei Drittel der Fälle des EMGR stammen aus Russland. Der einfache Bürger hätte dann gar keine Chance mehr, sich gegen den Unrechtsstaat zu wehren.

Ja, der EGMR ist eine Institution des Europarats. Ja, Russland ist Mitglied im Europarat. Und womöglich wollen es sich weder der Europarat noch die Europäische Union (EU) mit Russland “verscherzen” — aber im Falle der EU ist das im konkreten Fall völlig unerheblich. Der Europarat und damit auch der EGMR ist von ihr nämlich unabhängig.

Die Leserkommentare, die seit gestern Abend bei taz.de zu diesem Thema aufgelaufen sind, sind bisher folgenlos geblieben.

Mit Dank an Thorsten K.

“Bild” darf Christian Klar wieder nicht zeigen

Seit der frühere RAF-Terrorist Christian Klar im Dezember 2008 aus dem Gefängnis entlassen wurde, druckt “Bild” immer wieder aktuelle Fotos des Mannes, deren Veröffentlichung der Zeitung immer wieder von den Gerichten untersagt werden (BILDblog berichtete etwa hier, hier, hier, hier und hier).

Insofern dürfte der gestrige Termin vor dem Berliner Landgericht durchaus als “Folklore” und “Brauchtum” durchgehen: Klar war gegen die Veröffentlichung mehrerer Fotos in “Bild” und auf Bild.de vorgegangen und konnte gestern eine Einstweilige Verfügung erwirken.

Unter Androhung eines Ordnungsgeldes (traditionell festgesetzt als “bis zu 250.000,00 EUR”) oder Ordnungshaft wurde “Bild” untersagt, “ein Bildnis, das Christian Klar zeigt auf dem Fahrrad” noch einmal zu drucken. Bild.de muss “ein Bildnis, das Christian Klar zeigt auf dem Fahrrad” und “ein Bildnis, das Christian Klar zeigt mit offenem Antlitz und nicht unkenntlich gemacht” offline nehmen.

Aufhänger, die aktuellen Bildnisse von Klar zu zeigen, war seine Ladung als Zeuge im Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker in Stuttgart, der vorgeworfen wird, 1977 am Mord am damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback beteiligt gewesen zu sein.

Dazu zeigte “Bild” am 15. September unter der Überschrift “Hier radelt der Ex-Terrorist durch Berlin” auf Seite 2 der Bundesausgabe ein Foto von Klar auf einem Fahrrad. Das Foto war laut Klars Anwalt Johannes Eisenberg zwischen Anfang Juli und Mitte August in Berlin-Kreuzberg entstanden und hat “nichts mit Stuttgart-Stammheim oder der Zeugenladung zu tun”. Der Fotograf habe Klar “aufgelauert” und das Bild “heimlich erbeutet”.

Zu Fotos, die Klar im Stuttgarter Gerichtsgebäude zeigen, erklärt Eisenberg:

Der Antragsteller [Klar] hat versucht, sein Antlitz zu verbergen und sich ständig eine Zeitung vor das Gesicht gehalten. Es gab ein Gedrängel am Gerichtseingang, vermutlich wurde der Antragsteller absichtsvoll bedrängt, um ihn zu zwingen, die Zeitung herunter zu nehmen. Er war dort als Zeuge und hat seiner Zeugenpflicht genügt, bei Gericht zu erscheinen. Er hat damit keinen aktuellen Anlass gegeben, ihn zu fotografieren. Die Antragsgegnerin [Bild.de] zeigt selbst weitere Bilder, die den Versuch des Antragstellers zeigen, sich unsichtbar zu machen.

Klar hatte von der Axel Springer AG und Bild.de zunächst Unterlassungserklärungen gefordert und war dann, als diese ausblieben, vor Gericht gezogen. Springer und Bild.de können gegen die Einstweilige Verfügung vorgehen und wir wären ehrlich gesagt überrascht, wenn sie es nicht täten.

Keine Gnade

Seit einigen Tagen begleitet “Bild” den Fall des Todeskandidaten Troy Davis, der heute im US-Bundesstaat Georgia hingerichtet werden soll.

Vor vier Tagen fragte “Bild”:

Justizskandal in den USA: Wird nächste Woche ein Unschuldiger hingerichtet?

Die Zeitung erklärte:

(…) der Afro-Amerikaner könnte unschuldig sein: Davis war 1991 aufgrund von Zeugenaussagen wegen Mordes an dem weißen Polizisten Mark McPhail zum Tode verurteilt worden. Ein Berufungsverfahren brachte die skandalöse Polizei-Arbeit ans Licht: Cops hatten auf Zeugen Druck ausgeübt. Mittlerweile haben neun Zeugen ihre Aussagen widerrufen.

Vor zwei Tagen fragte “Bild”, ob Ex-US-Präsident Jimmy Carter Davis vor der Hinrichtung retten könne.

Das Todesurteil wackelt immer stärker: Es gab keine Tatwaffe, keine konkreten Beweise, keine DNA-Spuren. Nur neun Zeugen – sieben davon haben ihre Aussagen inzwischen zurückgezogen.

All diese berechtigten Zweifel an der Schuld von Troy Davis hindern Bild.de nicht daran, so über die Ablehnung des letzten Gnadengesuches zu berichten:

Letztes Gnadengesuch abgelehnt: Polizisten-Mörder stirbt durch die Giftspitze

Mit Dank an Thomas F., Mareike H. und Karl H.

Supertalent, David Simon, Interessenskonflikte

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Eine verheerende Entwicklung”
(faz-community.faz.net, Peer Schader)
Die RTL-Sendung “Das Supertalent” werde prägend sein für unsere Fernsehkultur, ob wir das wollen oder nicht, schreibt Peer Schader. “Es geht darum, immer wieder neu, künstliche Paul-Potts-Momente zu schaffen, mit dem Spielsüchtigen, der sich hässlich findet, mit Ausgegrenzten, manchmal auch mit Gewaltopfern, die vor der Kamera erzählen, wie sie als Kind geschlagen wurden, als ob der Applaus des Publikums nachher alles ungeschehen machen könnte.”

2. “Mopo druckt unverpixelt gestohlene Nacktfotos und verhöhnt das Opfer im Text”
(journalist-und-optimist.de, Joachim Dethlefs)
Die “Hamburger Morgenpost” druckt Scarlett Johansson gestohlene Handyfotos.

3. “Burnout im Netz?”
(wolfgangmichal.de)
Keineswegs, findet Wolfgang Michal: “Die Zeit, in der Blogs, Social Media und Netzpolitik eine wirkliche Rolle spielen, fängt gerade erst an.”

4. “Die mutigsten Hurensöhne der ganzen TV-Branche”
(profil.at, Sebastian Hofer)
Sebastian Hofer spricht mit David Simon, unter anderem Drehbuchautor und Produzent von “The Wire”, über HBO und klassisches Fernsehen: “Fernsehen kam mir immer so vor, als würde es nur existieren, um mir etwas zu verkaufen. Alle zwölf Minuten bleibt die Geschichte stehen, um mir Bluejeans anzudrehen.”

5. “Interessenkonflikte: Wie sollten Journalisten darüber berichten?”
(medien-doktor.de)
Klaus Koch über den Umgang mit Interessenskonflikten: “Immer, wenn Menschen zueinander eine Beziehung haben, verändert das ihr Urteil übereinander. Wissenschaftler und Ärzte (und natürlich auch Journalisten) sind hier keine Ausnahme. Wenn eine Person, die in einem Beitrag als Experte zitiert wird, eigene (sekundäre) Interessen hat, kann es sein, dass sie wichtige Aspekte entweder über- oder unterbewertet.”

6. “‘Germans’ from Public Parts by Jeff Jarvis”
(scribd.com, Jeff Jarvis, englisch)
“Private Germans” und “The German Paradox” aus dem Buch “Public Parts” von Jeff Jarvis: “So, on the one hand, German politicians said Google was violating citizens’ privacy by gathering data. On the other hand, they were demanding that Google hold on to citizens’ private communication should government wish to use that information against them.”