Archiv für September 20th, 2011

Studenten verbummelt

Mit Klischees ist es wie mit Topfpflanzen: Wenn sie nicht regelmäßig gepflegt werden, dann gehen sie irgendwann ein. Entsprechend titelte die Hamburger Regionalausgabe von “Bild” gestern zum Thema Langzeitstudenten an der Universität Hamburg:

Bummelrekord!

“Bild” präsentiert ein paar “drastische Einzelfälle” und behauptet,

(…) dass Langzeitstudenten an vielen Fakultäten ein verbreitetes Problem sind. An der Uni gilt das für 16,2 Prozent aller Studenten, also 2319 von 14 248.

Und genau an dieser Stelle hätte der “Bild”-Redakteur stutzig werden müssen. Immerhin hat die Hamburger Universität nicht nur 14.248, sondern insgesamt 39.402 Studierende (Stand WS10/11), woraus sich eigentlich ergeben müsste, dass nur knapp 6 Prozent der Studenten Langzeitstudenten sind.

“Bild” beruft sich bei der Berechnung der Anzahl der Langzeitstudenten auf die Ergebnisse einer Kleinen Anfrage des Abgeordneten Dr. Wieland Schinnenburg (FDP) und unterschlägt dabei diesen elementaren Aspekt aus der Antwort des Hamburger Senats:

für die neuen Studiengänge trifft das in der Frage genannte Kriterium [Langzeitstudium] noch nicht zu.

Alle Zahlen aus der Kleinen Anfrage beziehen sich also ausschließlich auf die zur Zeit auslaufenden Diplom- und Magisterstudiengänge, denn:

Im Bachelor- und Masterbereich kann es keine Langzeitstudierenden geben, da die Prüfungsordnungen bei Überschreiten der doppelten Regelstudienzeit eine Exmatrikulation vorsehen.

Dass es wiederum unter den Studierenden der alten Studiengänge, die seit 2004 kaum mehr Nachwuchs verzeichnen, anteilig immer mehr Langzeitstudenten geben muss, versteht sich von selbst: Ein Großteil der wenigen, die jetzt noch auf Magister oder Diplom studieren, besteht zwangsläufig aus Langzeitstudenten, denn alle anderen haben ihr Studium bereits weitgehend abgeschlossen.

Insofern sind auch die anderen Beispiele, die “Bild” aus der kleinen Anfrage genommen und damit aus dem Zusammenhang gerissen hat, obsolet:

Im Fachbereich Sozialökonomie studieren beispielsweise 73 von 120 Studenten (60,8 Prozent) schon doppelt so lang wie die Regelstudienzeit, also länger als 16 Semester. Bei den Informatikern sieht es genauso schlimm aus: 130 von 213 Studenten (61 Prozent)

Insgesamt, also mit Bachelor- und Masterstudenten, sind derzeit 1.376 Studenten für Informatik eingeschrieben, woraus sich ein Anteil von nur 9,4 Prozent Langzeitstudenten ergibt. Die Gesamtzahl der Studenten, die Sozialökonomie studieren, liegt bei 2.200 (Langzeitstudenten 3,3 Prozent).

Obwohl die Zahlen von “Bild” also letztlich nichts wert sind, verbreiten der Online-Auftritt der “Hamburger Morgenpost” und die Nachrichtenagentur dpa die Mär von den faulen Informatik- und Sozialökonomiestudenten munter weiter.

Vielleicht hätten die Journalisten die Quellen einfach ein bisschen länger studieren sollen.

Mit Dank an bono und Jan G.

Nachtrag, 21. September: Christian Röwekamp von der dpa hat uns auf folgendes hingewiesen:

Wir haben den falschen Bezug in unserer Meldung inzwischen berichtigt. Eine entsprechende Neufassung des Textes ist um 15.11 Uhr in den Landesdienst Nord der dpa eingegeben worden. (…)

Außerdem möchte ich feststellen, dass Ihr implizit erhobener Vorwurf mangelnder Recherche so nicht stehenbleiben kann. Wir bei der dpa haben eben nicht etwas “munter weitererzählt”, sondern die Hamburger Kollegen haben bei der Wissenschaftsbehörde eigens nachgefragt und zur Antwort bekommen, dass alle Zahlen aus der “Bild” korrekt seien. Wir haben den Sprecher der Behörde in unserer Meldung sogar wörtlich zitiert, wenn auch zu einem anderen Aspekt dieses Themas. Dass im Gespräch mit der Pressestelle nicht der Gedanke entwickelt wurde, dass es in dem Bericht ja gar nicht um die Gesamtzahl aller Studierenden ging, mag misslich sein. “Nachgeplappert” haben wir aber keinesfalls.

Warum bei der dpa niemandem aufgefallen ist, dass eine der größten Universitäten Deutschlands nur 14.248 Studenten haben soll, geht aus der Stellungnahme nicht hervor.

Spiegel Online, Piratenpartei, Staatsbankrott

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Off Topic 2: Noch mehr Fakten zu SPIEGEL Online”
(security-informatics.de, 13. September 2011)
Wissenschaftler “im Bereich Korpus- und Computerlinguistik sowie Informatik” liefern Statistiken zu “Spiegel Online” von 2000 bis 2010. Im Fokus: die “Wortschatzkomplexität”, der “Skandalisierungs- und Mutmaßungsindex”, der “Manipulativitätsindex” und der “Angstindex”. Zur Entwicklung der Ressorts siehe diesen Beitrag vom 21. August 2011.

2. “Der Großteil des Journalismus wird datengetrieben sein”
(derstandard.at, Tatjana Rauth)
Tatjana Rauth spricht mit Shazna Nessa von AP über visuelles Geschichtenerzählen: “Viele Journalisten, mit denen ich spreche, glauben, dass sie Data nicht betrifft. (…) Viele glauben noch, dass Daten nur den Bereich des investigativen Journalismus betreffen.”

3. “Im Schraubstock”
(tagesanzeiger.ch, Felix Schindler)
Felix Schindler gerät bei Krawallen in Zürich zwischen die Fronten: “Während die Jugendlichen überzeugt sind, wir würden sie in unseren Berichten ungerecht behandeln und nur die Position der Polizei vertreten, nehmen es offenbar viele Polizisten genau umgekehrt wahr.”

4. “Rambo mit Fliegenkultur”
(tagesspiegel.de, Gerrit Bartels)
Oliver Gehrs und sein Magazin “Dummy”: “Die Werbekunden wollen keine politischen Artikel, keine Gewalt, keinen Sex im Umfeld ihrer Anzeigen? Dann erst recht. Behinderte auf dem Cover gehen nicht? Mal sehen. Über Juden kann man in Deutschland nicht schreiben? Und ob.”

5. “Protestpartei? Ach was!”
(heise.de/ct, Jan-Keno Janssen)
“Für manche Journalisten ist die Sache sonnenklar. Wer eine so seltsame Partei wie die Piraten gewählt hat, kann das nur aus Protest getan haben – und auf keinen Fall aus inhaltlichen Gründen.”

6. “Staatsbankrott – ein Fiasko mit Tradition”
(sf.tv, Video, 9:18 Minuten)
Staatsbankrotte in der Geschichte. Spanien: 13. Frankreich: 8. Deutschland: 8. Griechenland: 5. Schweiz: 0.