Archiv für September 8th, 2011

Darauf muss man erst mal kommen

Unsere Eltern hatten uns immer gewarnt: Es schädige das Rückenmark, verursache Pickel und mache blind. “Tausend Schuss, dann ist Schluss”, haben sie gesagt.

Und jetzt das:

Medien berichten: Junge (16) onanierte sich zu Tode

“In Brasilien”, also an einem angenehm weit entfernten Ort, “soll”, so Bild.de, sich ein Junge zu Tode onaniert haben. Das berichte das englische Onlinemagazin “The Morning Star”.

Angeblich soll sich der Jugendliche aus dem Dorf Rubiato im Bundesstaat Goias unglaubliche 42mal selbst befriedigt haben. In einer Nacht. Hintereinander.

Schulfreunde behaupten, er hätte sie sogar zu seinem nächtlichen Samenerguss-Marathon eingeladen. Alles live via Webcam.

Nun heißt das englische Onlinemagazin eigentlich “The Morning Starr”, hat ein irritierend martialisches Logo und bringt sonst Meldungen wie “Die fetteste Frau der Welt”, “Alkoholiker festgenommen, weil er eine Schlange gebissen hat” und “Großmutter findet beim Aufwachen einen Fuchs in ihrem Bett”. Klar, dass sich Bild.de-Redakteure dort auf der Suche nach Meldungen rumtreiben.

Zum angeblichen Tod des Schülers schreibt die Website ziemlich genau das, was Bild.de dort abgeschrieben hat.

Nur: “The Morning Starr” hatte es auch abgeschrieben — bei der brasilianischen Website “G17”, wo die Meldung seit Juni steht. Dort heißt es zu dem Fall unter anderem, auf dem Computer des Teenager seien ungefähr 17 Millionen erotische Videos und 600 Millionen Fotos gefunden worden. Dafür bräuchte er eine verdammt große Festplatte. Das Bild, mit dem “G17” den Artikel bebildert hat, stammt aus einer polnischen Party-Bildergalerie.

Auf der Startseite von “G17” stehen Meldungen wie “Senat billigt automatischen Freispruch für korrupte Politiker” oder “Justin Bieber verspricht, in Brasilien die Windeln auf die Fans zu werfen”. Was ist das für eine Website, die noch bizarrere Artikel bringt, als Bild.de und “The Morning Starr” zusammen?

Nun, das kann man auch ohne größere Portugiesisch-Kenntnisse verstehen:

G17 é um site de humor que satiriza os portais de notícias com conteúdo fictício.

Eine Humor-Website, die mit frei erfundenen Inhalten News-Portale verhöhnt.

Mit Dank an Anonym, Matthias B., Nicole H. und nothing.

Nachtrag, 19.40 Uhr: Bild.de hat’s auch gemerkt und unauffällig einen Nachtrag angefügt:

PS. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Geschichte (nicht nur für den Jungen) glücklicherweise um eine Satire, die sich im Internet wie ein Lauffeuer verbreitet. Ob häufiges Onanieren wirklich tödliche Folgen haben kann, lesen Sie hier.

Und “hier” hat Bild.de tatsächlich einen Mediziner befragt: “Kann man sich wirklich zu Tode onanieren?”

Bild  

So entstehen Gerüchte

Sie liebe Verschwörungstheorien, schreibt Patricia Driese auf der letzten Seite der heutigen “Bild”-Ausgabe — und “Bild” selbst tut das natürlich auch.

Deswegen müssen sie bei “Bild” jubiliert haben, als am Dienstag bei einer Buchvorstellung in Berlin Gerüchte aufkamen, der im Juli 1997 erschossene Modeschöpfer Gianni Versace könnte noch leben.

Die “Frankfurter Rundschau” fasst die Behauptung am Rande ganz gut zusammen:

Der im Juli 1997 von einem psychisch gestörten Serientäter in Miami erschossene Versace sei ein enger Freund vom Boss Coco Trovato gewesen, erzählt [Kronzeuge Giuseppe di Bella]. In den 80er-Jahren soll Versace zudem für die ‘Ndrangheta-Organisation in der Lombardei Millionen aus kriminellen Geschäften gewaschen haben.

Und Di Bella geht noch weiter: Er stellt die These auf, dass Versace noch lebt und ein anderer an seiner Statt sterben musste, weil ihn die ‘Ndrangheta damals in Sicherheit bringen wollte. Als einzigen Beleg für diese kühne Version führt der Kronzeuge einen Auftrag an, den er angeblich 1997 erhalten habe: Für umgerechnet eine halbe Million Euro sollte er die Urne mit Versaces Asche stehlen, um einen möglichen DNA-Test zu verhindern.

Die Urne wurde nie geklaut. Versaces Asche ließe sich also noch untersuchen.

“Bild” machte daraus natürlich den Aufhänger:

Mafia-Experte behauptet in einem Enthüllungsbuch: Versace wurde nicht erschossen – er lebt!

Pflichtschuldig bemüht sich die Zeitung anschließend um eine Objektivierung, ohne sich dabei selbst die schöne Story kaputt zu machen:

WAS STECKT HINTER DEN SPEKULATIONEN?

Versace war angeblich tief in Mafia-Geschäfte verstrickt – hatte enorme Schulden. Und: In dem Buch wird behauptet, dass Versace eine 20-Millionen Dollar-Lebensversicherung abgeschlossen hatte.

Und Versaces Mörder? Der wird das Rätsel nicht lösen. Andrew Philip Cunanan brachte sich acht Tage nach Versaces Tod im Knast um. Angeblich.

Dass sich Cunanan “im Knast” umgebracht hätte, dürfte selbst von den Verschwörungs-fernsten Geistern bezweifelt werden: In Wahrheit (oder “angeblich”, für “Bild”-Redakteure) hatte er sich auf einem Hausboot erschossen, bevor ihn die Polizei dort aufspüren konnten.

Mit Dank auch an Paul Z.

Bild  

Aus großer Kraft folgt große Verantwortung

Wenn ein Taxifahrer einen weiblichen Fahrgast gewaltsam in den Kofferraum seines Wagens packt, dann kreuz und quer durch Hamburg fährt, schließlich vor dem eigenen Haus parkt und sich schlafen legt, während das Opfer erst nach insgesamt sechs Stunden von aufmerksamen Nachbarn befreit wird, dann könnte man unter Umständen annehmen, dass der mutmaßliche Täter nicht ganz bei Trost ist — oder es zumindest vorübergehend nicht war.

Diese Beweisführung reicht “Bild Hamburg” nicht aus. Stattdessen durften zwei Reporter im Privatleben des mutmaßlichen Täters und seiner Familie herumschnüffeln. “BILD auf Spurensuche” nennt sich das dann.

Und das Ergebnis sieht so aus:

BILD auf Spurensuche Die irre Welt des Taxi-Entführers +++ Er hielt sich für Spiderman +++ Er wohnte mit 57 noch bei Mama +++ Er wollte Pfand für leere Wodka-Flaschen

Taxi-Entführer [R.], der eine Frau sechs Stunden im Kofferraum seines Wagens gefangen hielt – langsam kommt zu Tage, wie durchgeknallt er ist.

Die Beweisführung dafür, “wie durchgeknallt” der “Taxi-Entführer” ist, klingt dabei arg an den Haaren herbeigezogen. Und fast schon im Vorbeigehen verletzt “Bild” die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters und seiner Familie:

Er ist 57 Jahre alt, lebt aber immer noch bei seinen Eltern, auf einem Hof bei Norderstedt. Unten wohnen Mutter […] und Vater […], den ersten Stock teilen sich [der mutmaßliche Täter], seine […] Schwester, sein […] Bruder und dessen Ehefrau.

Abgesehen davon, dass eine solche Wohnsituation auch wohlwollend als Mehrfamilienhaus mit verschiedenen Generationen unter einem Dach bezeichnet werden könnte, nennt “Bild” nicht nur das Alter jedes einzelnen Familienmitglieds, sondern zeigt auch noch ein Foto des Hofs inklusive Ortsangabe.

Nächster Beleg für die “Durchgeknalltheit” des mutmaßlichen Täters:

Er hielt sich für Spiderman. Ein Foto des Spinnenmannes mit dem einmontierten Gesicht von […] hängt bei einem früheren Arbeitgeber an der Wand.

Es ist noch nicht mal klar, ob der mutmaßliche Täter diese Montage selbst angefertigt hat. Ihm allein deshalb unterstellen, er halte sich für Spiderman, ist perfide. Dann müsste sich auch Kai Diekmann für eine gigantische Statue mit einer goldenen Gurke in der Hand halten.

Müssen wir noch erwähnen, dass das Gesicht des Taxifahrers in der Spiderman-Montage bei “Bild” nicht anonymisiert ist?

Und die “Bild”-Spurensucher fanden noch mehr heraus:

Er wollte Pfand für Wodka-Flaschen! Am 9. Juni tauchte Ralph B. mit seinem Taxi bei einer Tankstelle auf und wollte die leeren Fusel-Pullen abgeben.

Das muss man sich mal vorstellen: Pfand für Wodkaflaschen als Indiz für Wahnsinn! Wenn jeder, der das deutsche Flaschenpfandsystem nicht ganz durchblickt, “durchgeknallt” ist oder in einer “irren Welt” lebt, dann haben wir ein Problem.

Sollte “Bild” trotz dieser lausigen Beweise richtig liegen, was die Frage nach der geistigen Gesundheit des mutmaßlichen Täters angeht, dann hätten die beiden Reporter (neben der o.g. Verletzungen der Persönlichkeitsrechte) ironischerweise auch noch gegen diese Richtlinie des Pressekodexes verstoßen:

Richtlinie 4.2 – Recherche bei schutzbedürftigen Personen
Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen ist besondere Zurückhaltung geboten. Dies betrifft vor allem Menschen, die sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen […] Kräfte befinden oder einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind […]. Die eingeschränkte Willenskraft oder die besondere Lage solcher Personen darf nicht gezielt zur Informationsbeschaffung ausgenutzt werden.

Mit Dank an Leo.

Spielejournalismus, Speechgate, Sinnlosigkeit

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Zum Zustand der deutschen Spielekritik”
(kaliban.de)
Christian Schmidt, Gunnar Lott und viele mehr diskutieren über die journalistische Herangehensweise an Computerspiele: “Die Diagnose ist richtig, der deutsche Spielejournalismus (einst der kommerziell erfolgreichste der Welt!) ist belanglos geworden, produziert trotz positiver Gegenbeispiele viele schlechte Texte und wenig wirklich gelungene Formate. Und er ist kommerziell im Sinkflug –ob das durch bessere Qualität oder mehr Relevanz vermeidbar wäre, sei dahingestellt.”

2. “ARD-Talk: Zerredetes Programmschema”
(ndr.de, Video, 5:41 Minuten)
Auf ARD sind nun fünf Talksendungen pro Woche zu sehen: “Der vielgepriesene politische Diskurs verkommt immer häufiger zum ‘Wer darf wie viel reden.'”

3. “Die Auseinandersetzung mit 9/11 ist noch immer mit Denkverboten behaftet”
(heise.de/tp, Sabine Schiffer)
Sabine Schiffer erhält eine Absage “einer großen deutschen Wochenzeitung”: “Ich habe noch einmal mit meinen Kollegen über den Text gesprochen. Gemeinsam sind wir zu dem Beschluss gekommen, dass Sie sich in dem Artikel nicht deutlich genug von den Verschwörungstheorien distanzieren, für die Sie eine höhere Beachtung in den Medien fordern.”

4. “Tales of Manufactured Conflict – Speechgate”
(thedailyshow.com, Video, englisch)
US-Fernsehsender machen einen Terminkonflikt zu einem “Speechgate”. In der Pressekonferenz im Weißen Haus geht es weiter: “There were 23 questions about the scheduling of the speech.”

5. “Retusche des Homosexuellen-Bildes”
(matthias-schumacher.com)
Matthias Schumacher macht sich Gedanken über Homosexuelle in den Medien: “Indes Heteros mit aller Selbstverständlichkeit Mörder, Anwälte, Bauarbeiter, alles und jeden darstellen (selbst Schwule und Lesben werden von ihnen dargestellt), spielen Schwule und Lesben selbst oft Schwule und Lesben, gefangen in der Sexualität und auf sie reduziert.”

6. “Hurra Sinnlosigkeit!”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Der Satz “Das braucht niemand” werde zu häufig geäußert, findet Sascha Lobo: “Für diesen Satz gilt im Netz, was in der Politik für den Hitlervergleich gilt: unter allen Umständen vermeiden.”