Archiv für Juli 18th, 2011

Kommt Zeit, kommt Rad

Gestern berichteten wir über die traurige Geschichte des kleinen Ben, dessen Kinderfahrrad laut “Bild” von einem herzlosen Zugchef am Bahnhof Regensburg ausgesetzt worden war, und den Widerspruch der Deutschen Bahn.

Dank zahlreicher Leserhinweise können wir folgende Nachträge machen:

Es ist geradezu ausgeschlossen, dass die Mutter des Jungen “im Wiener Hauptbahnhof zwei Tickets für den ‘ICE 22’ nach Frankfurt/Main” gekauft hat — Wien hat nämlich (noch) gar keinen Hauptbahnhof. Der “ICE 22”, der auch in Frankfurt hält, verkehrt vom Westbahnhof.

Der gutmütige Unternehmer, der dem kleinen Ben ein neues (zweites) Fahrrad geschenkt hatte, ist – anders als wir vermutet hatten – wohl eher nicht auf die “Bild”-Berichterstattung reingefallen. Es handelt sich vielmehr um einen guten, alten Bekannten der Zeitung: Tobias Huch war in “Bild” und bei Bild.de in den vergangenen Jahren wahlweise als “Erotik-Millionär”, “Musik-Produzent”, “Internet-Guru”, “YouPorn-Retter”, “IT-Experte”, “Deutschlands IT-Legende”, “Internet-Experte”, “Datenschützer”, “Medien-Mogul” oder “Internet-Pionier” in Erscheinung getreten und hatte auch die Facebook-Seite “Gegen die Jagd auf Karl-Theodor zu Guttenberg” ins Leben gerufen.

Tobias Huch schrieb zu unserem gestrigen Eintrag bei Facebook, er glaube der Deutschen Bahn kein Wort. Auf unsere Frage, ob er sich erklären könne, warum Bild.de plötzlich seinen Nachnamen abkürzt, antwortete er:

Das weiss ich selber nicht. Vielleicht war es journalistisch nicht wichtig.

Das mag durchaus stimmen. Journalistisch wichtiger wäre es da schon gewesen, zu schreiben, dass die Deutsche Bahn erklärt hatte, dass das Fahrrad des Jungen “sichergestellt” sei.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber!

We Built This City

Sie scheinen richtig stolz zu sein bei der “Ostsee-Zeitung” in Rostock:

Wir sind wieder richtig Großstadt: Rostock voll auf Wachstumskurs. Erstmals seit elf Jahren hat Rostock laut Statistischem Landesamt wieder deutlich mehr als 200 000 Einwohner. Vor allem die Uni und neue Arbeitsplätze sorgen für den Zuwachs.

Die Trendwende ist endgültig geschafft: Erstmals seit elf Jahren hat die Hansestadt Rostock wieder klar mehr als 200 000 Einwohner — und darf sich endlich wieder als richtige Großstadt fühlen.

Nun hat die Grenze von 200.000 Einwohnern nicht wirklich etwas mit der Einordnung als “Großstadt” zu tun: Als “Großstadt” gilt eine Stadt, die mehr als 100.000 Einwohner hat. Aber vielleicht meint die “Ostsee-Zeitung” ja, eine “richtige Großstadt” sei so etwas wie eine “Doppel-Großstadt” — also eine mit mehr als 200.000 Einwohnern.

So richtig Bescheid wissen sie in Rostock aber offenbar alle nicht, wie ein Blick ins Archiv der “Ostsee-Zeitung” zeigt:

21. Dezember 2006:

[Oberbürgermeister Roland Methling:] “Wir haben klar Kurs auf den Großstadtstatus.” Diesen gibt es, wenn 200 000 Menschen hier ihren Hauptwohnsitz haben. In zwei Jahren, ist sich der Oberbürgermeister sicher, überspringt die Hansestadt diese wichtige Marke.

ddp-Meldung vom 4. Januar 2007:

Rostock gehört seit 1935 zu den deutschen Großstädten (über 100 000 Einwohner) und liegt derzeit bei der Bevölkerungszahl auf Platz 38.

12. Juli 2007:

Rostock bleibt auf Großstadtkurs. Die Einwohnerzahl bewegt sich kurz vor der magische Grenze von 200 000 Einwohnern.

12. November 2007:

Rostock ist größte Stadt und einzige Großstadt in Mecklenburg-Vorpommern.

Die angeblich magische Grenze von 200.000 Einwohnern hatte Rostock laut statistischem Landesamt dann übrigens schon am 31. Dezember 2007, 2008 und 2009 überschritten.

Aber Großstadt hin oder her: Es gibt ja immer noch die Nachricht, dass endlich “deutlich mehr” bzw. “klar mehr als 200 000 Einwohner” in Rostock wohnen. In den Worten der “Ostsee-Zeitung”:

Genau 202 735 Männer und Frauen lebten am Stichtag 31. Dezember 2010 in der Stadt. Das geht aus den neuesten, erst jetzt veröffentlichten Zahlen des Statistischen Landesamtes in Schwerin hervor.

Freuen wir uns also schon auf den nächsten Sommer, wenn die “Ostsee-Zeitung” feiert, dass “jetzt wirklich noch mal ein bisschen mehr als 200.000 Menschen” in Rostock leben. Und anschließend arbeiten Zeitung und Stadt dann gemeinsam auf das nächste Ziel hin: den Status der “echten Großstadt” (bekanntlich ab 300.000 Einwohnern).

Mit Dank an Matthias B. und den Ostsee-Zeitung-Blogger.

Kachelmanns Sonnenschein und -sein

Das Kriegsbeil im Haus erspart den Journalisten.
(Alte indianische Weisheit)

Wer sich ein bisschen im Medienbetrieb auskennt, weiß, dass das Verhältnis zwischen dem Wettermoderator Jörg Kachelmann und der Axel Springer AG als schwierig belastet zerstört betrachtet werden darf.

Insofern wäre unter Umständen Vorsicht geboten, wenn “Bild am Sonntag” exklusiv eine Personalie aus Kachelmanns Firma Meteomedia verkündet:

Claudia Kleinert will nicht mehr für seine Firma Meteomedia arbeiten: Kachelmanns Sonnenschein verzieht sich

Die Zeitung hatte gestern geschrieben:

Seit 2002 moderiert Claudia Kleinert (41) “Das Wetter im Ersten” und das “Wetter nach den Tagesthemen”. Bisher als Mitarbeiterin der Meteomedia AG, der Wetterfirma von Jörg Kachelmann. Doch der muss demnächst ohne seine prominenteste Moderatorin auskommen. Claudia Kleinert zu BILD am SONNTAG: “Fest steht, dass ich im nächsten Jahr nicht mehr bei Meteomedia arbeite.”

Branchendienste wie kress.de und DWDL, aber auch Webportale wie “Meedia” und “Quotenmeter” übernahmen die Meldung unter alleiniger Berufung auf “Bild am Sonntag”.

Meteomedia dagegen bezeichnete den Bericht als “schlicht falsch und erfunden”. Frau Kleinert habe eine solche Aussage “zu keiner Zeit” gemacht. Sie werde weiterhin das ARD-Wetter präsentieren und auch weiter bei Meteomedia arbeiten.

Die “Süddeutsche Zeitung”, die in einem Teil ihrer heutigen Auflage ebenfalls berichtet hatte, dass Frau Kleinert Meteomedia verlasse, widersprach dem in einem späteren Teil der Auflage:

ARD-Wettermoderatorin Claudia Kleinert will weiterhin in der ARD auftreten, auch wenn die Wettersendungen im Ersten künftig nicht mehr von Jörg Kachelmanns Firma Meteomedia produziert werden. Das bestätigte Kleinert der SZ auf Anfrage, widersprach aber Berichten, in denen von einer Kündigung bei Meteomedia die Rede war.

Die Vorgeschichte erklärt sich Jörg Kachelmann bei Twitter so:

Das übliche Verfahren, was auch viele andere in der Öffentlichkeit stehende Menschen fälschlicherweise dazu verleitet, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollen. Unsere Medienstelle schrieb gestern an mich, die BamS hätte sich gemeldet – Zitat: Redakteur Rüssau hat mir gesagt, die Redaktion wolle das “vielleicht mal vorhandene Kriegsbeil begraben und die alten Geschichten beerdigen”. Bams wolle eine schöne Story über das Engagement von Meteomedia in den Philippinen und auch über den fast karitativen Aspekt dieses Projektes machen. Das sei jedoch nur möglich, wenn die Redaktion Fotos erhalte, die JK in den Philippinen und beim Aufbau der Wetterstation zeige. Zitat Ende.

Und natürlich kommt das nicht in die Tüte. Die Götter des Boulevards strafen allerdings sofort. Anstelle der rührenden Story des karitativen Wetterfroschs bei den armen Menschen Asiens gibts eins auf den Deckel http://bit.ly/qwX2Yh Macht nix. Nur für die Zukunft: Ihr müsst nicht mehr anrufen, BamS. Nie mehr. https://www.bildblog.de/31107/nie-mehr-springer-nie-mehr-burda/

Bild  

Nur gucken, nicht anfassen!

“Japan, ihr habt’s verdient”, schreibt “Bild” heute an die Adresse der japanischen Fußballfrauen, die gestern Abend in Frankfurt die Weltmeisterschaft gewonnen haben.

Aber so ganz scheint die Zeitung das Aus der Deutschen im Viertelfinale noch nicht verwunden zu haben, wie die Titelseite zeigt:

Japan Weltmeister! Passt gut auf unsere "Spirale" auf! Japan ist Frauen-Weltmeister! 5:3 nach Elfmeterschießen im Finale gegen die USA. Aber den Pokal (sieht aus wie eine Spirale) haben euch die deutschen Mädchen nur geliehen...

Von aller Überheblichkeit mal ab: Es ist einfach Quatsch, dass “die deutschen Mädchen” den Japanerinnen den Pokal “nur geliehen” hätten.

Der Fußballweltverband FIFA schreibt in seinen “50 Fakten zur FIFA Frauen-Weltmeisterschaft” (PDF):

Für jede Weltmeisterschaft wird eine eigene Trophäe hergestellt, die der Sieger behalten darf, dies im Gegensatz zum FIFA WM-Pokal, der stets im Besitz der FIFA bleibt.

Insofern stimmt auch nicht, was “Bild” weiter schreibt:

Die letzten Deutschen, die den Pokal bis zur WM 2015 in Kanada anfassen durften, sind OK-Chefin Steffi Jones und Renate Lingor, Weltmeisterin von 2003 und 2007. Sie tragen die Pokal-Spirale ins Stadion.

Denn selbst wenn “wir” 2015 wieder Weltmeister würden, würden “unsere Mädels” eine andere Version des Pokals in Empfang nehmen, als die, die die Japanerinnen gestern in die Höhe gereckt haben.

Mit Dank an Stefan K.

Nocebo-Effekt, Norderney, Spiegel Online

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Geheime Pressekonferenz im ‘Dortmunder Kreis'”
(blog.telefacts.tv, Thomas Schweres)
Die Einladung zu einer Pressekonferenz der Polizei Dortmund geht exklusiv an einen “Dortmunder Kreis”. Der Leiter der Pressestelle, Wolfgang Wieland, sagt Thomas Schweres warum: “Wenn ich die Sache per Pressemitteilung rausgegeben hätte, müsste ich gleich eine Schul-Aula mieten und die Straße für Übertragungswagen sperren lassen.”

2. “Medienpolitik während der WM”
(taz.de, J. Kopp & M. Völker)
Interviews mit Spielerinnen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft werden “nach Steinzeitmethoden” autorisiert. “Das gesprochene Wort wird hier nicht nur nicht respektiert, sondern verfälscht.” (…) “Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und etliche Manager von Spielerinnen waren der Meinung, man könne der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild oktroyieren, die Presse führen und bevormunden.”

3. “FCB-Fans griffen in Bern Journalisten an”
(20min.ch, Lukas Mäder)
In Bern werden Journalisten und Fotografen von Fußball-Hooligans angegriffen.

4. “Vorgestellt: Top-Themen 2011”
(derblindefleck.de)
Die Initiative Nachrichtenaufklärung gibt “die Rangliste der wichtigsten von den Medien vernachlässigten Themen und Nachrichten im Jahr 2011” bekannt. Mit dabei ist die “Bankenrettung ohne wirksame parlamentarische Kontrolle”, der “Doping im Fußball” oder der “Nocebo-Effekt”: “Schon das Wissen über Nebenwirkungen von Medikamenten und über Krankheitsverläufe kann Symptome auslösen.”

5. “Wulff mimt Urlaubsidylle für ZDF-Sommerinterview”
(welt.de)
Bundespräsident Christian Wulff fliegt für ein “Sommerinterview” mit dem ZDF kurzfrisitig nach Norderney. Noch ist er aber gar nicht im Urlaub: “Tatsächlich verbringt der Bundespräsident mit seiner Frau Bettina und den Kindern den Sommer auf der Ostfriesischen Insel – allerdings erst in ein paar Wochen.”

6. “SpOn-Politiker-Fotos”
(fuckyeahsponpolitikerfotos.tumblr.com)
Fotos von Politikern auf “Spiegel Online”.