Archiv für Juli 11th, 2011

Alkohol weckt Tote auf

Krebs, Alkohol oder Sex: Das sind die drei Themen, mit denen prinzipiell jede Studie ihren Weg in die Schlagzeilen schafft. Kein Wunder also, dass Bild.de über die Erkenntnisse einer Studie der Washington University in St. Louis berichtet, in denen das durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Phänomen “Filmriss” untersucht wurde.

Erstaunlich ist, wen Bild.de hierbei im Zusammenhang mit “Schlüssel-Rezeptoren im Gehirn (…), welche entscheidend für Lern-Prozesse und das Gedächtnis sind” zu Wort kommen lässt:

Samuel B. Guze, Professor und Leiter der Abteilung für Psychiatrie an der Universität von St. Louis: “Es braucht große Mengen an Alkohol, um diese Prozesse zu stören. (…)”

Bei Bild.de braucht es jedoch nicht mal Alkohol, um die Wahrnehmung aussetzen zu lassen, denn Dr. Samuel B. Guze war an der Studie überhaupt nicht beteiligt — aus dem nachvollziehbaren Grund, dass er seit elf Jahren tot ist.

Die Aussage, die hier zitiert wurde, stammt in Wirklichkeit von Charles F. Zorumski, der nicht nur Leiter der Studie ist, sondern auch eine von Samuel B. Guze und seiner Gattin noch zu Lebzeiten (1998) gestiftete Professur innehat.

Charles F. Zorumski, den Bild.de weiter unten im Text auch korrekt als Studienleiter benennt, ist also quasi der Samuel-B.-Guze-Professor der Washington University. In der Originalmitteilung der Universität heißt es entsprechend:

“It takes a lot of alcohol to block LTP and memory,” says senior investigator Charles F. Zorumski, MD, the Samuel B. Guze Professor and head of the Department of Psychiatry.

Mit Dank an D. N.

Nachtrag, 16.30 Uhr: Bild.de hat den Namen des Professors unauffällig korrigiert.

Nachtrag, 12. Juli: Bild.de hat sich doch noch entschlossen, transparent auf die Korrektur hinzuweisen. Unterhalb des Artikels steht jetzt:

*LIEBE LESER, HIER IST UNS EIN FEHLER UNTERLAUFEN: Irrtümlich haben wir zunächst berichtet, Samuel B. Guze hätte dieses Zitat abgegeben. In Wahrheit war es Professor Zorumski, der die Guze-Professur innehat. Professor Guze ist bereits im Jahr 2000 verstorben. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

Bild  

Lynchvorlage

Ende Juni kam die siebenjährige Mary-Jane aus dem thüringischen Zella-Mehlis nach der Schule nicht nach Hause, am nächsten Tag fanden Spaziergänger ihre Leiche. Zwei Wochen später, am vergangenen Freitag, nahm die Polizei einen Tatverdächtigen fest, am Samstag hat er gestanden, das Mädchen sexuell missbraucht und dann getötet zu haben.

Auch “Bild” berichtet heute groß über das Geständnis und bedient sich dabei einer inzwischen liebgewonnenen Formulierung:

SIE HABEN DAS SCHWEIN!

Tino L. (37), ein vorbestrafter Metzger, ermordete das Kind aus Zella-Mehlis (Thüringen). Er war nur auf Bewährung in Freiheit!

Man kann das so verstehen, dass der mutmaßliche Täter schon einmal ein ähnliches Verbrechen begangen hat und die deutsche Justiz (die “Bild” und ihren Lesern immer viel zu lax durchgreift) wieder mal versagt hat. Tatsächlich war er wegen Betäubungsmittel- und Straßenverkehrsdelikten vorbestraft und auf Bewährung frei.

Doch der Mann ist für Europas größte Boulevardzeitung nicht nur ein vorbestraftes “Schwein”, er ist noch mehr:

Wer ist der Mörder, der Mary-Jane das angetan hat? Beruflich und privat ein ewiger Verlierer.

“Bild” belegt diese Behauptung damit, dass der Mann zuletzt in einer Reinigungsfirma gejobbt habe, nachdem er bei seinem vorherigen Arbeitgeber rausgeflogen sei, und er zwei Kinder von zwei verschiedenen Frauen habe, die er (“Bekannte berichten”), auf Wunsch der Mütter nicht sehen dürfe.

Der Artikel endet mit diesen Worten:

Der Killer sitzt jetzt in einer Einzelzelle, wird dauerhaft überwacht. Ein LKA-Beamter: “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”

Insofern fällt dieser “Bild”-Artikel vermutlich unter “Servicejournalismus”:

Das ist Mary-Janes Mörder: Er hat sie missbraucht, gewürgt und warf sie lebend in den Bach
Mit Dank an Therese.

Fortsetzung vor dem Presserat hier.

Pyeongchang, Nachrichtensender, Anne Will

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die deutschen Medien und der Sportsgeist”
(farorientalism.blogspot.com, eo)
Wie kommentieren deutsche Medien die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2018 nach Pyeongchang (und nicht nach München)? “Pech für die Kommentatoren, dass dieses Mal weder eine Diktatur den Zuschlag erhielt, noch ein Land, von dem zu befürchten ist, dass es in halbfertige Sportstätten lädt oder die Sicherheit der Athleten nicht gewährleisten kann. So blieb – unisono, als wären Anweisungen direkt aus Katis ZK gekommen – nur Rummosern.”

2. “Schweizer Währungswucher am Kiosk – Deutsche Verlage zocken Schweizer Konsumenten ab”
(blog.huwi.ch, Michael Huwiler)
2007 kostete ein Euro 1,65 Franken, inzwischen nur noch 1,20 Franken. Michael Huwiler fragt nach, warum die Preise deutscher Zeitschriften in der Schweiz unverändert hoch sind.

3. “Zur Lage des Nachrichtenjournalismus”
(bouhs.tumblr.com, Daniel Bouhs)
In einem “Impulsreferat” fragt Daniel Bouhs, warum die Öffentlich-Rechtlichen keinen 24-Stunden-Nachrichtensender liefern. Und warum sich ihre Auslandkorrespondenten “erst in ihren Büros und dann sogar in Privaträumen” verstecken. “Immerhin war es Antonia Rados, die den Sturz Mubaraks auf dem Tahir-Platz in Kairo zwischen der jubelnden Menschenmenge live an das heimische Publikum vermeldete – während Jörg Armbruster in der ‘Tagesschau’ lediglich von seinem Balkon herab auf die Straßen blickte.”

4. “Es war fast immer wie immer”
(faz.net, Stefan Niggemeier)
“Es war wie immer”, lautet die Bilanz von Stefan Niggemeier nach vier Jahren “Anne Will” im Sonntagabendprogramm der ARD. “Man kann sich die Sendung angucken wie einen Filmklassiker, den man sich immer wieder anschaut. Es ist eine Konstante mit beruhigender Wirkung. Sie rüttelt nicht auf, sondern sediert. Was auch passiert in der Welt, es werden sich Menschen finden, die dafür oder dagegen sind und sich bei ‘Anne Will’ gegenseitig vorwerfen, nicht ausreden zu dürfen, obwohl sie die anderen gerade haben ausreden lassen.”

5. “W wie wunderbar”
(welt.de, Marc Reichwein)
“Mit welchen Vokabeln rühmt man, wenn die Argumentation aufhört? (…) Wie klingt es, wenn Kritiker rhetorisch den ‘Like-Button’ drücken?”

6. “Zwölf hoffentlich finale Thesen zur Zukunft des Journalismus”
(wolfgangmichal.de)